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Was soil der Schweizer Augenarzt Integritätsschäden wissen? H. E. Baumann

Zusammenfassung Das seit 1. 1. 84 neue unfallrechtliche In-

strument der ,,Integritatsentschadigung" wird vorgesteilt und dabei der Unterschied zur alten KUVG-Rente im ophthalmologischen Bereich verdeutlicht. Der heute gultige Rentenbegriff in der Sozialversicherung berucksichtigt ausschliel3lich erwerbliche, also materielle Gesichtspunkte; immaterielle Teilfaktoren wie Integritatsschaden oder ,,Risikopramie fur das verbleibende Auge" haben auf die Rentenhohe keinen EinfluB mehr. Die Integritatsentschadigung ist eine abstrakt-egalitre emmalige Kapitalleistung zum Ausgleich eines immateriellen Schadens, auf die jeder Unfall- oder Berufskrankheits-Geschdigte Anspruch hat ohne Ansehen von Person, Beruf und Einkommen. Vorausgesetzt sind dau-

ernde Schadigungen erheblicher Art, die erst bei Abschlufi der Behandlung resp. bei beginnender Ren tenzahlung einen Anspruch auf Entschadigung geben. What Should Swiss Ophthalmologists Know About "Indemnity for Permanent Loss of Integrity"?

denrenten, digung.

Geidleistungen: Taggelder, Renten (InvaliHinterlassenenrenten), Integrittsentscha-

Gegenuber der vorher gultigen Gesetzgebung (KUVG) findet sich neu der Terminus !ntegrilatsentschadigung; es handelt sich dabei urn eine schweizerische Novitat, die in der vorliegenden Form in der Sozialgesetz-

gebung der Nachbarlander nicht existiert. Wohl findet man bereits frUher im Zusammenhang mit invalidisierenden Schaden den Ausdruck lntegritatsschaden; die institutionalisierte ,,lntegritatsentschadigung = IE" ist jedoch neu. Ich will versuchen, die für den Augenarzt wichtigen wissenswerten Punkte zu erläutern.

Im alten KUVG umfaBte der Begriff der Invalidenrente, wie sie uns aus den Tabellen von Rintelen 1954 und den Grafiken von Dufour und Cuendet 1961 bekannt ist, em Zusammenspiel von entschadigungsberechtigenden Komponenten: Neben der ErwerbseinbuBe wurden der Integritatsschaden und bei Augenfallen zusatzlich eine ,,Risikoprämie für das zweite Auge" berucksichtigt. Fine Rente von 25% bei Bulbusverlust lieB sich damals begrunden mit etwa 10% Erwerbseinbul3e, 5% Integritatsschaden und 10% Risikoprämie fur das zweite Auge.

The purpose of this new instrument in Swiss social insurance (applicable since January 1, 1984) is to compensate for an immaterial, permanent, and significant reduction in physical or mental integrity due to

an accident or any legally defined "occupational disease". The indemnity is paid once, as a capital sum, on an abstract and egalitarian basis, irrespective of the patient's age, sex, occupation, or income. In contrast, the invalidity pension provided under the social insurance scheme is paid on a monthly basis and compensates exclusively for economic damage as a consequence of a permanent or temporary reduction in income in cases of accident or disease.

Das Schweizerische Bundesgesetz uber die Unfaliversicherung UVG — in Kraft seit 1. 1. 84 — umfal3t folgende Leistungen der derzeit 274 Versicherer im Bereich der obligatorischen Unfailversicherung als Teilbereich der Sozialversicherung:

Sachleistungen: Heilbehandlung, KostenvergUtungen (Hilfsmittel, gewisse Sachschäden, Transporte, Bestattung). KIm. Mb!. Augenheilk. 196 (1990) 428—429

1990 F. Enke Verlag Stuttgart

Der Grundgedanke des Gesetzgebers im UVG war es, in Angleichung an die ubrige Sozialversicherungsgesetzgebung diese Komponenten klar auseinanderzuhalten: a) Invaliditat. Tm aligemeinen Sprachgebrauch versteht

man unter Tnvaliditt einen bleibenden korperlichen oder geistigen Schaden. Im Sinne des Gesetzes bedeutet

Invalidität jedoch einzig die Beeintrachtigung der Erwerbsfahigkeit durch einen bleibenden Gesundheitsschaden; eine Inva/idenrente ist nur bei nachgewiesener Verminderung der Erwerbsfahigkeit, also bei materieller Beeinträchtigung geschuldet. (Die im individuellen Fall notigen Berechnungen sind eine administrative und nicht eine ärztliche Aufgabe; als praktizierende Arzte sind wir — im Gegensatz zu den Rentenansätzen im alten KUVG — nicht mehr in der Lage, unsern Pa-

tienten kompetente Hinweise zur Rentenhohe zu geben.)

b) Die Integritatsentschadigung ist demgegenuber em Ausgleich für immaterielle Schden; der Verunfallte wird nicht ausschliefflich als Arbeitswesen beurteilt, sondern ist auch als Mensch in seinem auBererwerblichen Dasein anerkannt. c) Die Komponente einer Risikopramie für das zweiteAuge entfallt; in Art. 29 UVV Uber ,,Invaliditat bei Verlust paariger Organe" wird das Problem geregelt, indem — vereinfacht gesagt — der Versicherer des Schadens am

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Luzern

zweiten Auge die totale Erwerbseinbul3e zu entschädigen hat. (Dies gilt ausdrUcklich nur fur die invaliditatsbedingte Erwerbseinbul3e, nicht aber für den Integrithtsschaden, uber den die Bestimmungen uber paarige Organe sich nicht äul3ern.)

Nach Art. 24 Abs. 1 UVG hat em Versicherter Anspruch auf eine Integritatsentschadigung, wenn er durch den Unfall eine dauernde (d. h. lebenslange) erhebliche Schadigung der korperlichen oder geistigen Integrität erleidet. Der Schaden ist erheblich, wenn er — unabhangig von der Erwerbsfahigkeit — augenfallig oder stark beeintrachtigend ist. ,,Die Bemessung der IE richtet sich nach der Schwere des Integritatsschadens. Diese beurteilt sich nach dem medizinischen Befund. Bei gleichem medizinischem Befund ist der Integritatsschaden für alle Versicherten gleich; er wird abstrakt und egalitar bemessen." Die Formulierung ,,abstrakt und egalitar" sagt aus, dal3 jeder Versicherte als Durchschnittsmensch betrachtet wird und die Entschadigung ohne Rucksicht auf Geschlecht, Alter, Beruf und Einkommen erfolgt. Sie kann im Maximum die Hohe des hochstversicherbaren Jahresverdienstes am Unfalitag (1989 = Fr. 81'600) in Form einer Einmalzahlung (= Kapitalleistung) erreichen.

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1. Es werden our unfallbedingte lntegritatsschaden vergutet; bei vorbestehenden oder unfallfremden Schäden kommt es also zu einer Netto-Schatzung vom Typ ,,heutiger Totalschaden minus unfallfremder Schaden = unfallbedingte Entschadigung" Dabei würe beispielsweise zu berucksichtigen, daB bei einem vorbestehenden EinAugigen (IE 30%) Teilschaden am zweiten Auge zwischen 0 und 70% vergOtet werden. Komplizierter wird die Sache sowohl bei unfallfremden Teilschaden als auch bei unfallbedingter Schadigung beider Augen oder der hoheren Sehbahnen. 2. Schwierigkeiten ergeben sich bei Polyblessierten aus der Gesetzesbestimmung, daB die IE nur maximal 100% des versicher-

baren Jahresverdienstes betragen darf. Als Arzt fallt es mir schwer, medizinisch begründen zu wollen, warum beispielsweise em doppelseitig Enukleierter mit 100% oder als Extremfall em Schwerstgeschadigter mit unfallbedingter doppelseitiger Erblindung und einseitiger Oberschenkelamputation ebenfalls mit 100% IE im Sinne des Gesetzes egalitar und abstrakt angemessen entschadigt sei.

3. Bei Teilschaden am Auge ergeben sich aus augenärztlicher Sicht gewisse Unsicherheiten, weil das Eidgenossische Versicherungsgericht als unser hOchstes Sozialversicherungsgericht am 29. 3. 89 in Sachen M. T. entschieden hat, die Schatzung des Integritatsschadens habe grundsatzlich auf unkorrigierten Visuswerten zu beruhen; dies mit der Uberlegung, Brillen und Kontaktlinsen seien generell als ,,Hilfsmittel" analog zu Beinoder Armprothesen anzusehen und deshaib als auBere Hilfsmittel bei einem Organschaden bei der Schatzung nicht zu berucksichtigen. Für den Juristen ist dies insofern logisch, als die ,,Hilfsmittelliste" der Sozialversicherung Brillen und Kontakt-

linsen enthalt; nach augenarztlicher Auffassung ware die Gleichsetzung von Prothesen aller Art nur mit Lupen- und

Fur Augenschaden gelten als gesetzliche Fernrohrbrillen richtig, die ja bei der Ermittlung einer zumut,,Eckwerte" die vollstandige Blindheit mit 100% und die baren Sehscharfenkorrektur nicht berucksichtigt werden. einseitige Blindheit mit 30%. Einseitige und doppelseitige Teilschaden sind als ,,Feinraster" in der Tabelle 11 der MitDie im zitierten Urteil sich ausdruckende Diskreteilungen der Medizinischen Ableilung der SUVA festge- panz zwischen juristischer und medizinischer Denkweise hat zur halten. Folge, daB wir als Augenarzte bis auf weiteres mit dieser für unser Berufsversthndnis belastenden Auflage leben mUssen; es 1st also

Soweit also das, was weitgehend logisch immer sowohl der unkorrigierte Fern- und Nahvisus für die IE, als und in weitaus den meisten Fallen brauchbar und einfuhl- auch die mit zumutbarer Korrektur erreichbare Sehscharfe zu rapbar ist und zum Wissensbestand des in der Schweiz praktizierenden Augenarztes gehoren durfte.

portieren — letztere kann ausnahmsweise bei der medizinischtheoretischen Bemessung der Erwerbsfahigkeit mitspielen.

Gestatten Sie mir erganzend den Hinweis, daB die kiaren theoretischen Absichten des Gesetzgebers mit der medizinischen Wirklichkeit und der sich daraus ergebenden Gerichts-

praxis langst nicht immer ubereinstimmen müssen. Ich bin der Ansicht, Detailkenntnisse im Dschungel der juristischen Auseinandersetzungen eden für Sie als praktizierende Ophthalmologen nicht gefordert, auBer Sic wurden als Experte für Versicherungen oder Gerichte tätig; immerhin hilft es, wenn wir unseren Patienten einigermaBen kompetent beraten wollen, eine annghernde Ahnung von juristischen Knacknussen zu haben:

Dr. med. Heinz E. Baumann Augenarzt FMH

SUVA, Fluhmattstr. 1 CH-6002 Luzern

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Was soil der Schweizer Augenarzt Qber Integritatsschaden wissen?

[What should the Swiss ophthalmologist know about integrity damage?].

The purpose of this new instrument in Swiss social insurance (applicable since January 1, 1984) is to compensate for an immaterial, permanent, and sig...
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