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Was muss der Chirurg über Allgemeinmedizin wissen? What Should a Surgeon Know about Family Medicine?

Autoren

T. Lichte 1, F. Meyer 2, G. Junge 1, A. Klement 3

Institute

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Schlüsselwörter " Allgemeinmedizin l " Chirurgie l " Kooperation l " perioperative Organisation l " Patientenmanagement l " Schnittstellenprobleme l Key words " family medicine l " surgery l " cooperation l " perioperative management l " patient management l " outpatient‑inpatient l interface

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0033-1351027 Online-publiziert 10. 12. 2013 Zentralbl Chir 2015; 140: 47–51 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York · ISSN 0044‑409X Korrespondenzadresse Prof. Thomas Lichte Institut für Allgemeinmedizin Medizinische Fakultät, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Leipziger Straße 44 39120 Magdeburg Deutschland Tel.: 01 72/4 29 30 00 Fax: 0 42 67/14 14 [email protected]

Institut für Allgemeinmedizin, Medizinische Fakultät, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Magdeburg, Deutschland Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Gefäßchirurgie, Universitätsklinikum Magdeburg A. ö. R., Magdeburg, Deutschland Sektion Allgemeinmedizin, Medizinische Fakultät, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle, Deutschland

Zusammenfassung

Abstract

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Hintergrund: Chirurgen haben durch fallbezogene Kontakte nur eingeschränkte Möglichkeiten, sich ein umfassendes Bild vom Fach Allgemeinmedizin und dem Berufsbild mit seinen spezifischen Eigenschaften zu machen. Deshalb wird das Spezielle an der Allgemeinmedizin in der Kooperation oft nicht ausreichend berücksichtigt, nämlich die Primärversorgung „unausgelesener Beratungsanlässe“ mit Integration bio-psychosozialer Aspekte, langfristiger Betreuung, Wohnortnähe und Niedrigschwelligkeit. Zudem haben Allgemeinärzte und stationär tätige Chirurgen unterschiedliche Erwartungen an die Zusammenarbeit, die es zu kennen und nutzen gilt. Methode: Selektive Literatursuche zum Selbstverständnis des Faches Allgemeinmedizin, dessen Arbeitsweise und wechselseitige Erwartungen an eine Verbesserung der Kooperation an der ambulant-stationären Schnittstelle. Ergebnisse/Schlussfolgerung: Chirurgen profitieren von Kenntnissen über Selbstverständnis und Funktionsweise der Allgemeinmedizin, indem sie vermehrt Chancen für die Reduktion von Schnittstellenproblemen und bessere Vernetzungen nutzen können.

Background: Surgeons have only limited options from case-specific contacts to generate a comprehensive picture about family medicine as a discipline and the family practitioner with its specific issues and characteristics. Thus, the typical function of the family practitioner is often not sufficiently taken into account while aiming for a better cooperation: the primary care of “unselected reasons for encounter” with integration of biopsycho-social aspects, long-term care, close distance contacts and low-threshold access. In addition, family practitioners and surgeons have different expectations regarding their cooperation, which are important to know and handle. Methods: A selective literature search was undertaken on the self-conception and professional functioning of family medicine as well as on mutual expectations to improve cooperation at the outpatient-inpatient interface. Results/Conclusion: Surgeons benefit from the knowledge on self-conception and functioning of family practitioners by using options and potentials for the reduction of problems at the outpatient-inpatient interface and for an optimised network.

Einführung

und wünschen sich daher, z. B. in Therapieentscheidungen einbezogen zu werden, wenn diese die Langzeitbetreuung oder das Lebensende gemeinsamer Patienten betreffen [2]. Auch Klinikärzte und Patienten beurteilen Qualität und Sicherheit der Kommunikation an der Schnittstelle der Versorgungssektoren überwiegend kritisch. Die wesentliche Ursache hierfür wird in einem Mangel an Wissen, Verständnis und Interesse zu wechselseitigen Aufgaben, Kompetenzen und Erwartungen gesehen [3]. In einer Analyse zu Erklärungsmodellen und Lösungsansätzen bekannter Schnittstellenprobleme kommen namhafte Ver-

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Eine effektive Zusammenarbeit zwischen stationär tätigen Chirurgen und niedergelassenen Allgemeinärzten nutzt Patienten wie Ärzten gleichermaßen und vermeidet unnötige Kosten und Risiken. Dies gilt im besonderen Maße für die Behandlung und Entlassungsvorbereitung vulnerabler Patientengruppen [1]. Doch bislang erleben nicht nur Allgemeinärzte die Informationsflüsse zwischen ambulanter und stationärer Versorgung als defizitär. Hausärzte fühlen sich verantwortlich für die Sicherstellung von Versorgungskontinuität

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sorgungsforscher auf der Basis der Kommunikationstheorie nach Watzlawick (Unterscheidung zwischen Beziehungs- und Inhaltsebene von Kommunikation) zu einem einfachen Schluss: Die Qualität des Informationsaustauschs bedingt die Kooperationsqualität, beide hängen jedoch von der Beziehungsqualität zwischen den Akteuren ab. Wo Beziehungsqualität durch wechselseitiges Verständnis und Vertrauen gekennzeichnet ist, fließen medizinisch notwendige Informationen schneller und zuverlässiger [4]. Der Sachverständigenrat der Bundesregierung hat dazu in seinem Sondergutachten 2012 die Sicherstellung von Versorgungskontinuität beim Übergang zwischen den Versorgungssektoren als wichtiges Qualitätsmerkmal und Aufgabe für alle beteiligten Akteure hervorgehoben [5]. Daher sollen als ein Baustein für die Weiterentwicklung der Zusammenarbeit zwischen Chirurgen und Allgemeinärzten im Folgenden Geschichte, Definition und Selbstverständnis des Faches Allgemeinmedizin, die Funktionsweise von Allgemeinärzten und wechselseitige Erwartungen an Kooperationen mit den Chirurgen dem chirurgischen Fach dargestellt werden.

Kurze Geschichte der Allgemeinmedizin !

Trotz ihrer großen Bedeutung für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung und über 40 000 Fachärzten (Chirurgie: ca. 20 000) ist die Allgemeinmedizin in Deutschland eine vergleichsweise junge und noch wenig profilierte Disziplin. Während die anderen „großen Fächer“ (z. B. Chirurgie und innere Medizin) ihre Abgrenzung und Definition des Arbeitsfelds schon vor 100 Jahren weitgehend abgeschlossen hatten, ist die Allgemeinmedizin als eigenständiges Fach eine Entwicklung der letzten ca. 50 Jahre. So wurde 1966 die „Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin“ (DEGAM) als wissenschaftliche Fachgesellschaft gegründet und 1968 die erste Weiterbildungsordnung zum Facharzt für Allgemeinmedizin verabschiedet. Erst 1976 ist ein erster Lehrstuhl besetzt und 1978 die Allgemeinmedizin als scheinpflichtiges Prüfungsfach in die Approbationsordnung aufgenommen worden. Seit etwa 20 Jahren ist ein zunehmendes „öffentlich-politisches Bewusstsein für die Bedeutung der Primärversorgung“ feststellbar, das sich u. a. durch Förderung von Lehrstuhleinrichtungen, Weiterbildungsinitiativen sowie Projekten zur Versorgungsforschung und Qualitätsförderung ausdrückt [6]. Entsprechend vervierfachte sich die Anzahl von Originalpublikationen aus der deutschen Allgemeinmedizin innerhalb der letzten 10 Jahre auf nunmehr über 100 jährlich, und voll ausgestattete allgemeinmedizinische Lehrstühle existieren mittlerweile an der Mehrzahl der medizinischen Fakultäten [7].

nationale Vorbilder wie die „Leeuwenhorst-Erklärung“ von 1978 und die WONCA-Definition von 2002 vor dem Hintergrund des deutschen Gesundheitssystems [9]: „Der Arbeitsbereich der Allgemeinmedizin beinhaltet die Grundversorgung aller Patienten mit körperlichen und seelischen Gesundheitsstörungen in der Notfall-, Akut- und Langzeitversorgung sowie wesentliche Bereiche der Prävention und Rehabilitation. Allgemeinärzte sind darauf spezialisiert, als erste ärztliche Ansprechpartner bei allen Gesundheitsproblemen zu helfen. Die Arbeitsweise der Allgemeinmedizin berücksichtigt somatische, psychosoziale, soziokulturelle und ökologische Aspekte. Bei der Interpretation von Symptomen und Befunden ist es von besonderer Bedeutung, den Patienten, sein Krankheitskonzept, sein Umfeld und seine Geschichte zu würdigen (hermeneutisches Fallverständnis). Die Arbeitsgrundlagen der Allgemeinmedizin sind eine auf Dauer angelegte Arzt-Patienten-Beziehung und die erlebte Anamnese, die auf einer breiten Zuständigkeit und Kontinuität in der Versorgung beruhen. Zu den Arbeitsgrundlagen gehört auch der Umgang mit den epidemiologischen Besonderheiten des unausgelesenen Patientenkollektivs mit den daraus folgenden speziellen Bedingungen der Entscheidungsfindung (abwartendes Offenhalten des Falles, Berücksichtigung abwendbar gefährlicher Verläufe). Das Arbeitsziel der Allgemeinmedizin ist eine qualitativ hochstehende Versorgung, die den Schutz des Patienten, aber auch der Gesellschaft vor Fehl-, Unter- oder Überversorgung einschließt. Der Arbeitsauftrag der Allgemeinmedizin beinhaltet: " Die primärärztliche Filter- und Steuerfunktion, insbesondere die angemessene und gegenüber Patient und Gesellschaft verantwortliche Stufendiagnostik und Therapie unter Einbeziehung von Fachspezialisten, " die haus- und familienärztliche Funktion, insbesondere die Betreuung des Patienten im Kontext seiner Familie oder sozialen Gemeinschaft, auch im häuslichen Umfeld (Hausbesuch), " die Gesundheitsbildungsfunktion, insbesondere Gesundheitsberatung und Gesundheitsförderung für den Einzelnen wie auch in der Gemeinde, " die Koordinations- und Integrationsfunktion, insbesondere die gezielte Zuweisung zu Spezialisten, die federführende Koordinierung zwischen den Versorgungsebenen, das Zusammenführen und Bewerten aller Ergebnisse und deren kontinuierliche Dokumentation sowie die Vermittlung von Hilfe und Pflege für den Patienten in seinem Umfeld [9].

Selbstverständnis der Allgemeinmedizin !

Fachdefinition der Allgemeinmedizin !

Moderne Fachdefinitionen in der Medizin versuchen nicht durch einseitige „Zuständigkeitserklärungen“ eine Disziplin von den anderen abgrenzen, sondern „eigene“ ideale Kerninhalte, Funktionen und Spezifika positiv zu beschreiben. Auf dieser Basis kam es zur Jahrtausendwende zu einer intensiven Diskussion um eine „neue Definition von Allgemeinmedizin“ jenseits des traditionellen Verständnisses vom „guten alten Hausarzt“. Daher sind Überlappungen in Aufgaben und Kompetenzen zwischen der Allgemeinmedizin und anderen Fächern nicht nur möglich, sondern selbstverständlich und erwünscht [8]. Hierauf aufbauend integriert die umfassende Fachdefinition der DEGAM inter-

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Im Hinblick auf die sozialen, demografischen und medizinischen Entwicklungen in Gesellschaft und Gesundheitssystem formulierte die DEGAM selbstbewusste „Zukunftspositionen“ zu Eigenschaften und Entwicklungszielen des Faches. Aufgrund der großen Bedeutung der „Zukunftspositionen“ für das Selbstverständnis der (zukünftigen) Allgemeinärzte seien 8 grundlegende Positionen von insgesamt 24 (überwiegend zitierend) zusammengefasst [10]: Im Vordergrund steht, dass aufgrund zunehmender Spezialisierung und Fragmentierung der Gesundheitsversorgung die Hausärzte als Generalisten immer bedeutsamer werden [1]. Denn nur die Allgemeinmedizin sichert eine wohnortnahe, flächendeckende sowie niedrigschwellige Grundversorgung der Bevölkerung [11] und reduziert dadurch soziale Ungleichheit [12]. Das Ange-

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bot eines umfassenden Behandlungsspektrums für alle Patientengruppen [3] wird zukünftig durch Teampraxen in kollegialen und interdisziplinären Kooperationen erbracht werden [2]. Der Allgemeinarzt soll auch weiterhin einen Großteil der Behandlung selbst bestreiten und aus der Hausarztpraxis heraus die Koordination von Behandlungsmaßnahmen über Sektoren und Berufsgruppen hinweg vornehmen [6]. Dabei unterstützen Hausärzte Patienten, ihre eigenen Ressourcen selbstständig und aktiv zu nutzen [7]. Durch individuelle und gemeinsame Abwägung durch Arzt und Patient von potenziellem Nutzen und Schaden von Diagnostik und Therapie bietet die hausärztliche Versorgung den besten Schutz vor zu viel und falscher Medizin [8, 10].

Funktionsweise und Arbeiten in der Allgemeinmedizin !

Der Vater der allgemeinmedizinischen Berufstheorie, Robert N. Braun, führte den weitverbreiteten Eindruck „Allgemeinmedizin sei etwas ganz Einfaches“ auf die hohe Prävalenz von unselektierten „Banalitäten, die obendrein von selbst heilen“ in der Hausarztpraxis zurück. Allerdings stellt dies eine ausschließlich retrospektive epidemiologische Feststellung dar, die „Dominanz des Banalen“ ist daher nicht gleichbedeutend mit Harmlosigkeit. Eine niedrige Prävalenz ernster Gesundheitsstörungen in der Allgemeinpraxis (Niedrigprävalenzbereich) stellt vielmehr eine große fachliche Herausforderung bei der systematischen Aufdeckung von abwendbar gefährlichen Verläufen dar und erfordert den spezifisch aus- und weitergebildeten Allgemeinarzt [11]. Eine wichtige Grundlage allgemeinmedizinischer (Entscheidungs-)Theorie bildet das „Bayes-Theorem“, nachdem ein diagnostischer Test umso aussagekräftiger ist (positiver prädiktiver Wert = Nachtestwahrscheinlichkeit), je höher die tatsächliche Prävalenz (= Vortestwahrscheinlichkeit) der gesuchten „Diagnose“ in der untersuchten Population ist. Hieraus folgt, dass trotz identischer Sensitivität und Spezifität eines bestimmten Testverfahrens infolge der Anwendung im Niedrigprävalenzbereich gegenüber dem „Hochprävalenzbereich“ (Krankenhaus mit vorselektierten Fällen) sich die diagnostische Aussagekraft um Größenordnungen unterscheidet. Besonders in der Allgemeinpraxis muss daher die Vortestwahrscheinlichkeit (= Prävalenz in der Untersuchungsgruppe) mithilfe einer Vorfeldstrategie (z. B. gezielte Anamnese und Untersuchung) erhöht werden, um die Aussagekraft des Testes zu erhöhen und damit falsch-positive Ergebnisse sowie Belastungen durch Prozeduren und Kosten zu reduzieren [12]. „Diagnosen“ im Sinne der überzeugenden Zuordnung eines Beratungsergebnisses zu einem wissenschaftlichen Krankheitsbegriff werden in der Allgemeinpraxis nur in etwa 10% der Fälle gestellt. In der Regel handelt es sich dann um eindeutige Befunde wie z. B. „oberflächliche Schnittverletzung eines Fingers“ oder „Paronychie“. Wesentlich häufiger wird der Allgemeinarzt Beratungsergebnisse als „Symptom“ (25%), Symptomgruppen (25 %) oder Krankheitsbilder (40%) beschreiben. Dabei steht die „Diagnose“ nicht im Rang einer höherwertigen Erkenntnis, sondern ist ein gleichwertiger Begriff in der prozessgerechten Klassifizierung von Beratungsergebnissen. Aufgrund der Vielzahl uncharakteristischer und häufig selbst limitierender Beratungsursachen (vorgebrachter Beschwerden) steht also nicht die „Diagnostik“ um der Diagnosestellung willen im Mittelpunkt der allgemeinärztlichen diagnostischen Bemühungen, sondern die systematische Aufdeckung von Hinweisen auf abwendbar gefährliche Verläufe durch die sogenannte „programmierte Diagnostik“ und „abwar-

tendes Offenlassen“ („watchful waiting“). Dieses Vorgehen ist aufgrund der Schnelligkeit und Ressourcenschonung durch die Arbeitsbedingungen typischer Hausarztpraxen bedingt, in denen der Allgemeinarzt jährlich etwa 5000 alte und neue Fälle sieht, von denen sich über 95 % auf mehr als 300 Klassifizierungen und Diagnosen verteilen und 90 % abschließend in der Praxis versorgt werden [11, 13]. Dem Internisten Franz Volhard wird der Ausspruch zugeschrieben: „Vor die Therapie haben die Götter die Diagnose gesetzt.“ In der Allgemeinpraxis muss dabei „Diagnose“ durch „prozessgerechte Klassifizierung“ ersetzt werden, da hier wissenschaftliche Krankheitsbegriffe selten und Symptom(-gruppen) und Krankheitsbilder häufig sind. Innerhalb von 7 bis 10 min werden in der typischen hausärztlichen Konsultation nicht nur gezielte Anamnese (Anamnestik) und problemorientierte Diagnostik, sondern auch Beratung und (gemeinsame) Planung von Therapie und Verlaufskontrolle erfolgen. Häufig kann mittlerweile dabei auf Empfehlungen aus der „evidenzbasierten Medizin“ (EbM) und Leitlinien zurückgegriffen werden, die für die Anwendung in der Hausarztpraxis geeignet sind. So wurden durch die DEGAM in den letzten 10 Jahren insgesamt 39 S2- und S3-Leitlinien, S1Handlungsempfehlungen und nationale Versorgungsleitlinien (mit-)entwickelt [14]. Hierdurch wird das überwiegend durch Erfahrung, Beobachtung und Intuition gekennzeichnete Handeln des „Hausarztes alter Prägung“ zunehmend durch evidenzbasierte Konzepte ergänzt und abgesichert [12]. Eine besondere Rolle für das professionelle Arbeiten in der Allgemeinmedizin spielt dabei – neben somatischen Befunden – weiterhin die Einbeziehung psychosozialer, soziokultureller und ökologischer Aspekte eines Falles und deren Einbettung in ein bio-psychosoziales Modell sowie die Berücksichtigung von Krankheitskonzept, Umfeld, Geschichte und Präferenzen von Patienten im Rahmen eines hermeneutischen Fallverständnisses [15]. Erkenntnisse und Empfehlungen der EbM dienen daher in der Allgemeinmedizin, ganz im Sinne von David Sackett, als „bestmögliche externe Evidenz“ für die gemeinsame Entscheidungsfindung von Patient und Arzt vor dem Hintergrund von deren individuellen Erfahrungen und Kompetenzen [16]. Daher bildet eine langfristige, persönliche und vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung die Basis hausärztlichen Arbeitens, denn diese hilft bei der Priorisierung von multiplen Beratungsursachen und ist essenzielles Werkzeug für Diagnostik und Therapie [17].

Kooperationen und Vernetzungen !

Für die Chirurgie sind Allgemeinärzte – gerade im DRG-Zeitalter verkürzter Liegezeiten – als möglichst effektive Zuweiser und Nachbehandler von Bedeutung. Insbesondere bei der Behandlung komplexerer Krankheitsfälle (z. B. geriatrischer Multimorbidität) spielt die Nutzung der hausärztlichen Funktionen eine wichtige Rolle: " Identifikation und Vorfeldabklärung potenziell chirurgischen Behandlungsbedarfs " indikations- und episodenübergreifende Patientenbetreuung " Koordination und Integration zusätzlich anfallender fachärztlicher, pflegerischer sowie Heil- und Hilfsmittelleistungen [18]. Wirkungsvoll unterstützt werden kann dies durch den Zusammenschluss von Hausärzten in einem regionalen Netz. Kooperation und Austausch in Qualitätszirkeln, Initiativen des Netzes zur Zusammenarbeit mit Fachärzten, Kliniken und Pflegediensten oder auch verstärkte Angebote zur Prävention tragen zu mehr

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Qualität und einer verbesserten Versorgung der Patienten bei. Insbesondere mit Blick auf Operationen bei älteren Menschen können Hausärzte und Arztnetze mithin sowohl zu verbesserter Prävention als auch zu effektiverer prä- und postoperativer Begleitung einen erheblichen Beitrag leisten [18]. In einer multizentrischen Studie in Hausarztpraxen einer ländlichen Region konnten ca. 30 % aller hausärztlicher Überweisungen zu Orthopäden (21%) und Chirurgen (10%) gefunden werden, wobei diese zu 75% von Allgemeinärzten selbst veranlasst wurden. Ziel der Überweisung war aus Sicht der Hausärzte die Klärung diagnostischer Unsicherheit in ca. 65% und Durchführung einer Behandlung in 37 % der Fälle. Die hohe Zufriedenheit der Beteiligten, insbesondere der Patienten, und das von Fachärzten attestierte, im Durchschnitt hohe Maß an „angemessenen Überweisungen“ legt die Nutzung bereits bestehender Versorgungsstrukturen und deren behutsame und abgestimmte Weiterentwicklung nahe [19]. Wenn die Überprüfung präoperativer Diagnostik und Koordination erst im Rahmen des stationären Aufenthalts erfolgt, können Verzögerungen entstehen. Stationäre Untersuchungstermine stehen dann oft erst mit einer Verzögerung von mehreren Tagen zur Verfügung. Zur Schnittstellenoptimierung wurden daher für Hausärzte im Rahmen ihrer Qualitätszirkelarbeit Vorgaben erarbeitet, die trotz aller Probleme die interdisziplinäre Kooperation verbessern helfen sollen: " Gezielte Fragestellung bei Über- und Einweisung, " richtige Formulare, möglichst vollständig genutzt, " aktueller Medikationsplan, Patientenpässe, etc., " eigene Vorbefunde: Labor, EKG, Lungenfunktion, … " Fremdbefunde: Röntgenthorax; Endoskopiebefunde mit Histologien, auch Kopien; CD von Röntgenbildern, Computertomografien, MRTs. Bei der Rückübernahme aus der klinischen Behandlung wünschen sich Hausärzte bei besonders vulnerablen Patienten auch schon durch Vorabinformation vor Entlassung: " Kurzbrief in Maschinenschrift mit wichtigen Hinweisen und Empfehlungen: Kontrollen; Maßnahmen, z. B. Entfernung Nahtmaterial; Belastbarkeiten; pflegerischer Unterstützungsbedarf; Physiotherapie … " Medikationsplan mit Generikanennung, auch zur Dauer der Thromboseprophylaxe " wichtige Befunde: Labor (INR aktuell, etc.), EKG, ggf. Befunde der Bildgebung … Durch die praktische Umsetzung dieser Vorgaben lassen sich die organisatorische und wirtschaftliche Effizienz und damit auch die Akzeptanz, Motivation und Zufriedenheit bei Patient und Personal steigern. Eine zuverlässige Kommunikation zwischen einweisenden Ärzten und in der Klinik tätigen Chirurgen stellt die Basis für eine reibungslose Überwindung der Nahtstelle zwischen Praxis und Krankenhaus dar. Enge Kontakte durch direkt erstellte Kurzbriefe und evtl. umgehend geführte Telefonate sowie die themenzentrierte Beteiligung chirurgischer Kollegen an der hausärztlichen Qualitätszirkelarbeit ermöglichen die Einbeziehung der Hausärzte in die präoperative Diagnostik. Voraussetzung hierzu ist ein verbindlicher und abgestimmter Standard erforderlicher Untersuchungen bei Routineeingriffen. Zukünftig wird einem effektiven Patientenmanagement mit Reduzierung der präoperativen Liegezeiten durch adäquate Organisations- und Kommunikationsstrukturen und Verschiebung der präoperativen Diagnostik in den ambulanten Bereich eine ent-

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scheidende Rolle zukommen. Eine optimal koordinierte Ausnutzung der Operations- wie auch der Bettenkapazitäten wird auch eine patientenorientierte Medizin fördern. Der Hauptrekrutierungsweg für stationär zu behandelnde Patienten in chirurgischen Kliniken ist die Zuweisung über den niedergelassenen Arzt. Während die elektiven Aufnahmen über die Ambulanzen oder zuweisende Ärzte durch eine kalendergestützte Planung und ein patientenorientiertes stationsseitiges Fallmanagement bei der Krankenhausaufnahme steuerbar sind, stellen die dringlichen oder notfallmäßigen Aufnahmen eine schwer einzuplanende Größe im chirurgischen Tagesablauf dar [20]. Neben der Information des Patienten und seiner Angehörigen spielt die Information und Kommunikation mit dem zuweisenden Arzt eine entscheidende Rolle. Der Hausarzt sollte postoperativ schriftlich und/oder ggf. telefonisch über den Behandlungsverlauf informiert werden, wenn ungeplante Eingriffe, relevante Komplikationen bzw. eine signifikante Verlängerung des Krankenhausaufenthalts die Langzeitbetreuung betreffen [20]. Nicht zuletzt sollten auch (zukünftige) Allgemeinärzte Wissen, Fertigkeiten und Haltungen aus dem Fachgebiet „Chirurgie“ erwerben, um o. g. Funktionen der Koordination und Kooperation sinnvoll und qualitätssichernd umzusetzen [21].

Zusammenfassung !

Chirurgen und Allgemeinärzte können als Partner in einer zunehmend komplexeren Versorgungsrealität (noch) besser zusammenarbeiten, wenn sie mehr übereinander wissen. Kenntnisse zu Selbstverständnis und professionellem Arbeiten in der Allgemeinmedizin bilden hierfür einen Baustein. Eine effektive ambulant-stationäre Kooperation und Netzwerkbildung nutzt idealerweise bestehende regionale Strukturen (z. B. Qualitätszirkel), glaubwürdige Empfehlungen (z. B. hausärztliche Leitlinien) und berücksichtigt die wechselseitigen Möglichkeiten und Erwartungen. Die wichtigste Basis einer erfolgreichen Kooperation in Augenhöhe ist gleichermaßen im besten Sinne traditionell und modern: gegenseitiger kollegialer Respekt.

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