Editorial Schmerz 2014 · 28:228–229 DOI 10.1007/s00482-014-1448-9 Online publiziert: 6. Juni 2014 © Deutsche Schmerzgesellschaft e.V.   Published by Springer-Verlag Berlin Heidelberg all rights reserved 2014

A. Straube1 · S. Förderreuther1 · H.-C. Diener2

In den letzten Monaten wird eine zunehmend intensivere Diskussion über die Bedeutung von Leitlinien in der täglichen klinischen Arbeit geführt. Diese Diskussion bewegt sich zwischen den extremen Positionen: Brauchen wir Leitlinien überhaupt? Und wenn ja, in welcher Form? Möglichst kurz und kompakt oder lieber elaboriert und immer auf dem höchsten Evidenzniveau?

ge der verfügbaren Studien und medizinischer Veröffentlichungen bewerten und so die aktuell besten Fakten für Entscheidungen in der Versorgung des individuellen Patienten zusammenstellen.

Pro und Kontra Befürworter von Leitlinien vertreten den Standpunkt, dass nur eine Therapie mit Verfahren/Interventionen sinnvoll und gerechtfertigt ist, die in den Leitlinien, die wiederum der höchsten Evidenzklasse entsprechen sollten, aufgeführt sind. Gegner betonen, dass Leitlinien eine wissenschaftliche Scheinwelt, bedingt durch die Limitierungen der Studien, und nicht die therapeutische Realität des individuellen Patienten abbilden und deshalb keinerlei Bedeutung für die Therapieentscheidung in der klinischen Routine haben, da für ärztliches Handeln gerade die individuelle Situation des Patienten (z. B. Alter, Komorbiditäten, soziale Situation usw., Faktoren, die in Studien oft nicht abgebildet sind) gebührend betrachtet werden muss. Auch würden die Leitlinien primär nur den Kostenträgern sowie den Gerichten und nicht den Patienten nutzen und auch die Ärzte in ihrer Arbeit nicht nennenswert unterstützen. Dieser Diskurs ist nicht neu, aber trotzdem irreführend. Die evidenzbasierte Medizin (EBM) will den jeweils aktuellen Stand zu definierten Sachverhalten der klinischen Medizin auf der Grundla-

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Der Schmerz 3 · 2014

1 Klinik für Neurologie der Ludwig-Maximilians-Universität, Klinikum Großhadern, München 2 Neurologie, Universität Essen-Duisburg, Essen

Was sollen Leitlinien, was können Leitlinien?

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Leitlinien sind nicht wie ein „Kochrezept“ zu verstehen Leitlinien sind in der Versorgung eines Patienten per se nicht bindend; sie sind auch nicht wie ein „Kochrezept“ zu verstehen. Das Konzept der EBM ist grundsätzlich sinnvoll, da es eben versucht, medizinische Entscheidungen auf eine transparente Basis zu stellen. Dennoch wurde schon 1994 in einem Editorial des British Medical Journal [4] die Frage nach der Inhumanität der Medizin, bedingt durch den Einzug von Studien und dem fehlenden Verständnis für die Situation des Patienten, formuliert. Sind diese Probleme aber durch die EBM bedingt oder sind sie die Konsequenz aus dem Umgang der Ärzte mit den Leitlinien?

EBM kondensiert die Studienergebnisse Ein Problem der medizinischen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten ist die unübersehbare Flut von Studien, Ergebnissen und Publikationen, die es dem Einzelnen unmöglich macht, sich eine wissenschaftlich fundierte Meinung zu einer spezifischen Fragestellung zu machen. So findet man unter dem Stichwort „headache treatment“ in PubMed aktuell fast 40.000 Eintragungen. Um diese unüberschaubare Menge an Information in ein

in der täglichen Praxis verwertbares Kondensat zu überführen, ist es unabdingbar Verfahren einzusetzen, die transparent und belastbar sind, also nachvollziehbaren Regeln unterliegen. Einer der großen Fortschritte der Wissenschaftsgeschichte ist die Einführung mathematischer Verfahren in der Beschreibung von wissenschaftlichen Ergebnissen durch Galileo Galilei (1564–1641). Die Medizin kann nicht auf statistische Verfahren zur Beschreibung von Therapieeffekten verzichten. Gerade hier will die EBM ansetzen. Durch Einführung von klaren Regeln, nach denen die Qualität einer Studie und deren Methodik beurteilt werden, konnten transparente und standardisierte Verfahren entwickelt werden, die erst eine Zusammenfassung von Studienergebnissen und deren Beurteilung erlauben (z. B. Das AWMF-Regelwerk Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften). Sie lassen auch zu, die verbleibende Unsicherheit zu benennen. Leitlinien können so ein wichtiger Wissensgrundstock – gleichsam ein Kondensat aus einer unüberschaubaren Menge von Publikationen – für den klinisch tätigen Arzt sein und können Ärzte in die Lage zu versetzen, diagnostische und therapeutische Entscheidungen auf eine viel breitere Wissensbasis zu stützen. Beachtet will sein, dass alte Studien zwar meist nicht dem heutigen methodisch geforderten Standard entsprechen, deshalb aber nicht per se die geprüften Verfahren oder Substanzen minderwertig sind. Dies wird aber in den neueren Leitlinien auch berücksichtigt.

EBM schafft gleichen Wissensstand für alle Man könnte die EBM auch als eine Art von Demokratisierung der Medizin verstehen, da die Zusammenfassung von Ergebnissen in Metaanalysen oder strukturierten Bewertungen („Cochrane-Reports“) es jedem Interessierten ermöglicht, seine Wissensbasis denen der „opinion leaders“ anzugleichen. Dass eine solche analytische Zusammenfassung notwendig ist, sieht man aus den Ergebnissen der Cochrane Collaboration. Bei einer Zusammenfassung aller Cochrane-Analysen 2007 kamen 44% der systematischen Analysen (1016 wurden eingeschlossen) zu dem Schluss, dass die Intervention nützlich ist, 49% der systematischen Analysen, dass eine abschließende Beurteilung nicht möglich ist, und 7% sogar zu dem Schluss, dass die untersuchte therapeutische Intervention eher schädlich ist [1]. Nun zeigt aber gerade die Cochrane Collaboration auch, dass sowohl die Erstellung solcher systematischen Reviews als auch das Erstellen von Leitlinien (http://www.awmf.org/leitlinien/awmfregelwerk.html) einen derartigen organisatorischen Umfang annimmt, dass man sich fragen muss, ob dies noch in einem Verhältnis zum Nutzen steht. Das Erstellen einer S3-Leitlinie (http://www.awmf. org/leitlinien/awmf-regelwerk.html) ist nur noch durch Einsatz erheblicher finanzieller Mittel möglich, und der Umfang einer solchen Leitlinie führt häufig dazu, dass sie gerade von den Medizinern mit täglichen klinischen Verpflichtungen nicht mehr wahrgenommen wird. D Persönliches Können und Daten

müssen in Einklang gebracht werden. Eine Diskussion, wie die Leitlinie gestaltet werden sollte, damit Aufwand des Erstellers und Erwartung des Anwenders sich decken, ist überfällig. Zu bedenken ist, dass Leitlinien einer ständigen inhaltlichen und auch formalen Weiterentwicklung unterliegen. Diese berechtigte Diskussion darf aber nicht mit einer „Verwässerung“ der Standards verwechselt werden. Therapien, für die keine Evidenz vorliegt, können dadurch nicht an-

ders bewertet werden. Es ist ein ganz wesentlicher Anspruch einer Leitlinie, dass sie klar aufzeigt, wo wissenschaftliche Evidenz besteht und wo sie fehlt und deshalb keine Aussage oder wo sogar eine negative Aussage über eine Therapie gemacht werden kann. Es liegt dann aber im Ermessen des Behandlers, ob er diese Datenlage beachtet oder wissentlich und auch verantwortlich einen anderen Weg einschlägt. Dies kann immer dann notwendig werden, wenn für die spezifische klinische Frage keine gesicherten Aussagen getroffen werden können, wenn die Situation (z. B. Verfügbarkeit einer Intervention/Behandlung) ein Abweichen erfordert oder in Ausnahmefällen der Patient oder der Arzt bewusst ein anderes Vorgehen wünscht. Schon einer der Protagonisten der EBM D.L. Sackett hat diesen Sachverhalt mit folgendem Satz umschrieben: The practice of evidence based medicine means integrating individual clinical expertise with the best available external clinical evidence from systematic research. By individual clinical expertise we mean the proficiency and judgment that individual clinicians acquire through clinical experience and clinical practice. ([2]) Das bedeutet aber auch, dass man sich dieser Verantwortung im konkreten Fall bewusst ist. Eine diese spezifische Therapieentscheidung rechtfertigende Leitlinie kann es aus den genannten Gründen schon prinzipiell nicht geben, da Leitlinien immer nur einen mit statistischen Methoden beschreibbaren Sachverhalt wiedergeben können, eine Einzelfallsituation sich einer solchen Darstellung entzieht. Eine ärztliche Entscheidung wird daher von der empirischen Evidenz, der experimentellen Evidenz, der ärztlichen Erfahrung, dem Krankheitsverständnis sowie der individuellen Situation des Patienten und dem ärztlichen Selbstverständnis – aber auch von den Vorgaben des Gesundheitssystems beeinflusst [3]. Eine Leitlinie kann helfen, die empirische und experimentelle Evidenz zusammenzufassen und dies in den Kontext eines Gesundheitssystems zu stellen. Die anderen für eine Therapieentscheidungsfindung wesentlichen Punkte lassen sich

nicht in einer Leitlinie verbindlich darstellen. Das bedeutet aber nicht, dass eine Leitlinie ohne klare methodische Vorgaben und transparente Angaben der verwendeten Methodik auskommen kann. Leitlinien können nicht beliebig werden, denn sie sind ein Weg in der Medizin, die durch die Explosion des Wissens bedingte Unwissenheit zu überwinden.

A. Straube

Korrespondenzadresse Prof. Dr. A. Straube Klinik für Neurologie der Ludwig-MaximiliansUniversität, Klinikum Großhadern Marchioninistr. 15, 81377 München [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  A. Straube, S. Förderreuther, H.-C. Diener geben an, dass kein Interessenkonflikt   besteht.

Literatur 1. El Dib RP, Atallah AN, Andriolo RB (2007) Mapping the Cochrane evidence for decision making in health care. J Eval Clin Pract 13:689–692 2. Sackett DL, Rosenberg WM, Gray JA et al (1996) Evidence based medicine: what it is and what it isn’t. BMJ 312:71–72 3. Tonelli MR (2001) The limits of evidence-based medicine. Respir Care 46:1435–1440 4. Weatherall DJ (1994) The inhumanity of medicine. BMJ 309:1671–1672

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[What are guidelines for, what can guidelines do?].

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