Nr. 43, 28. Okrober 1977, 102. Jg.

Scharfetter: über den Schwindel

Übersichten

Dtsch. med. Wschr. 102 (1977), 1561-1564 © Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Oberden Schwindel

F. Scharfetter

Der Schwindel oder die Vertigo ist die komplexe Empfindung einer Unsicherheit unserer Körper- und Raumwahrnehmung, verbunden mit der Vortäuschung von Bewegungen der eigenen Person oder der Umgebung und einer Störung des Gleichgewichtes, wie es der Ausdruck »Taumel« bezeichnet. Diese Mißempfindung, die jeder einmal beim Ringelspiel, als Seekrankheit oder unter Alkoholeinfluß erfahren hat, ist von vegetativen Störungen, übelkeit und schwerem Krankheitsgefühl begleitet; »sterbenselend« pflegt man zu sagen. In den Redewendungen »schwindelnde Höhe oder Tiefe« oder »schwindelerregende Schnelligkeit« erscheint Schwindel als psychologisches Phänomen. »Mir schwindelt« kann auch die psychische Notlage von Unsicherheit und schwankendem Grund ausdrücken. Wie sehr die Schwindelempfindung die Störung der Ordnung bedeutet, zeigt sich in dem transitiven Wortsinn von »schwindeln«, nämlich »betrügen« und in den Substantiven »der Schwindel« im Sinne von Betrug und »der Schwindler«, Schwindeln kommt von schwinden: »die Sinne schwinden« - in Ohnmacht fallen, dasselbe wie in dem alten, ungebräuchlichen Terminus »Lipothyrnie«. Schon im Hinblick auf die Vielfalt der Symptomatik zeigt sich der Schwindel als ein sehr umfassendes Phänomen, das in gleichem Maße den Neurologen, den Otologen und den Ophthalmologen, den Internisten sowie den Allgemeinpraktiker angeht. Der Schwindel ist, abgesehen von den verschiedenen Beschwerden, die der Laie damit verbindet, als abstrakter medizinischer Begriff das wichtigste subjektive Symptom einer Störung des vestibulären Systems. Wenn wir in einer schematischen Übersicht die Anatomie und Physiologie dieses »wunderbaren Raumsinnapparates« (3) darstellen, gewinnen wir einen Einblick in die Organisation des Nervensystems mit seinen weitläufigen Verbindungen von peripheren Sinnesorganen, afferenten und efferenten Bahnen zu den Schaltstellen und zu dem koordinierenden Knotenpunkt, der Substantia reticularis im Hirnstamm, die sich vom Rautenhirn bis zum Zwischenhirn hinzieht. Diese Einsicht in das äußerst komplexe System, das von Grundtonus, Regulation und Gegenregulation, Aktion und Antagonismus gesteuert wird, läßt uns die Schwierigkeit der Deutung des so alltäglichen Symptomes Schwindel verständlich erscheinen.

Anatomie und Physiologie Der Wahrnehmung der Körperstellung und der räumlichen Orientierung dient das optische und das vestibuläre System. Das Auge ist das wichtigste exterozeptive und das Labyrinth das wichtigste

propriozeptive Sinnesorgan der Orientierung. Die Tiefensensibilität in Muskel- und Hautsinnen steuert die feinere Regulation der Körperstellung. Die Sicherheit unserer Körper- und Raumwahrnehmung und unserer Raumordnung in Waagrecht und Senkrecht hängt von dem ungestörten Zusammenspiel dieser drei Systeme ab. Beide Labyrinthe aktivieren auch im Ruhezustand durch einen ständigen bioelektrisch meßbaren Reiz die zentralen Schaltstellen im Hirnstamm, die ihrerseits ständig Impulse aus dem extrapyramidalen System und dem Kleinhirn empfangen. Eine Veränderung des Ruhepotentials durch Steigerung oder Minderung eines Impulses, zum Beispiel bei unphysiologischer Beanspruchung im Karussell, bei Wärme- oder Kältereizung des Vestibularis oder bei Störungen der zentralen Regulation, wird als Schwindel und Nausea empfunden, verbunden mit Wahrnehmungstäuschungen wie Schwanken des Bodens, schiefer Horizont, Eigendrehempfindung bei ruhendem Körper. Weitere Folgeerscheinungen, welche durch Irradiation der Reflexe beim Schwindel zustande kommen, sind Übelkeit und Erbrechen, Schweißausbruch, Pulsunregelmäßigkeit, Ohnmachtsgefühl und sogar Bewußtseinsverlust. Das wichtigste objektive Symptom des gestörten optisch-vestibulären Gleichgewichtes ist der Nystagmus. Die Impulse aus den Bogengängen und dem Otolithenapparat des Innenohres werden vom Nervus vestibularis, der mit dem Gehörnerven zusammen den achten Hirnnerven, den Nervus statoacusticus bildet, zu den gleichseitigen vier Vestibulariskernen in der Rautengrube des Hirnstamms geleitet. Sie nehmen dort ein ausgedehntes Areal ein und verbinden sich direkt und über die Formatio reticularis indirekt mit den Kerngruppen der Gegenseite. Zudem hängen die Vestibulariskerne eng mit den Schaltstellen des vegetativen Nervensystems zusammen: mit dem Atem- und Kreislaufzentrum, mit dem in der Nähe der Vaguskerne liegenden Brechzentrum. Dieses selbst empfängt afferente Reize über den Nervus stato-acusticus, den Vagus (»Magenschwindel«), den Trigeminus, den Glossopharyngicus und aus den Chemorezeptoren am Boden des vierten Ventrikels selbst. Von den Vestibulariskernen gehen sekundäre Bahnen aus, über die das Gleichgewicht, der Muskeltonus, die Körperhaltung, die Bewegungskoordination und die Augenmotorik gesteuert wird. Die Empfindungen von einem Vestibularorgan gelangen zum Teil ohne, zum Teil nach Umschaltung in den Vestibulariskernen zum gleichseitigen Kleinhirn im Tractus vestibulo-cerebellaris zusammen mit Bahnen aus dem Rückenmark, dem Tractus spinocerebellaris. Die erwähnten kontinuierlichen Reize aus dem Labyrinth bauen gemeinsam mit hemmenden Einflüssen der gleichseitigen Kleinhirnhälfte das normale Tonusgleichgewicht im Vestibulariskerngebiet auf. Das Tonusgleichgewicht kann gestört werden durch Ausfall der ständigen tonisierenden Impulse aus den beiden Labyrinthen oder der hemmenden Impulse aus dem Kleinhirn. Nach einseitiger Zerstörung eines Labyrinthes oder der zentripetalen Bahnen im Gleichgewichtsnerven fühlt sich ein Kranker zum gesunden Ohr hingezogen, da der zentrale Tonus auf der kranken Seite absinkt. Umgekehrt steigt nach der Schädigung einer Kleinhirnhälfte der Tonus im gleichseitigen Vestibulariskerngebiet an, da die hemmenden zerebellaren Impulse ausfallen. Dementsprechend fühlt sich der Kranke zur Seite der betroffenen Kleinhirnhälfte hingezogen. Von den Vestibulariskernen ziehen efferente Bahnen zu den gleichseitigen Vorderhornzellen des Rückenmarks, der Tractus vestibulo-spinalis. Weitere Verbindungen führen zum extrapyra-

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midalen System, vornehmlich zum Nucleus ruber, der selbst eine wichtige Schaltstelle in dem System zur Aufrechterhaltung des Tonus, des Gleichgewichtes und der Koordination ist. Auf diesen Bahnen verlaufen die Körperhaltungs- und Stellreflexe. Die Einflüsse über diese Verbindungen erklären den Schwindel bei Erkrankungen des extrapyramidalen Systems, zum Beispiel beim Morbus Parkinson. Afferente Bahnen aus den peripheren Rezeptoren in Haut, Muskeln und Gelenken führen in den Hintersträngen des Rückenmarks als Tractus spino-bulbaris periphere Impulse an die Formatio reticularis und damit indirekt auch an die Vestibulariskerne heran. Damit wird verständlich, warum eine Minderung der Tiefensensibilität oder der Bewegungsempfindung Schwindel und Gleichgewichtsstörungen hervorrufen. Eine der für die räumliche Orientierung wichtigsten Verbindungen der Vestibulariskerne ist das mediale Längsbündel zu den homo- und kontralateralen Augenmuskelkernen. Sie schließen das optische und das vestibuläre System zusammen. So wie das Vestibularorgan mit seinen drei Bogengängen in drei Raumebenen aufgebaut ist, wird das Auge von drei Muskelpaaren in diesen Raumebenen bewegt. Das Zusammenspiel beider Augen in der Blickbewegung ist ein Beispiel für die bilaterale Koordinationsleistung des Nervensystems. Die Verbindung von Auge und Gleichgewichtsorgan ist ein Beispiel für die noch umfassendere Einrichtung des Zentralnervensystems, die zur Aufrechterhaltung unserer Raumordnung notwendig ist. Die Augenbewegungen sind von den motorischen Steuerungen des optisch-vestibulären Systems, die sich auf die gesamte Körpermuskulatur auswirken, am leichtesten zu beobachten. Daher werden sie sowohl bei der klinischen Untersuchung als auch bei experimentellen Prüfungen besonders beachtet. über diese Reflexbahnen zu den Augenmuskelkernen kommt der vestibuläre Nystagmus zustande. Daß die Vestibulariskerne aber nicht nur vom Labyrinth aus, sondern auch umgekehrt vom Auge her erregbar sind, zeigt der opto-kinetische Nystagmus. Visuelle Lageeindrücke, die mit der Körperhaltung nicht übereinstimmen, können ebenso wie Labyrinthreize Schwindelgefühle mit Fallneigung und vegetativen Begleiterscheinungen verursachen. Das ist eine Erklärung für den Schwindel bei Augenmuskellähmungen, Doppelbildern, Brechungsfehlern und bei größeren Unterschieden der Netzhautbilder. Auch das Großhirn nimmt durch Blickzentren in Hinterhaupt-, Schläfen- und Stirnhirn und durch eine vestibulo-kortikale Bahn zum Fuß der hinteren Zentralwindung Einfluß auf das optischvestibuläre System. Daher kann eine Drehschwindelattacke Vorbote eines epileptischen Anfalles sein. Diese schematische Übersicht über die Physiologie des Vestibulärsystems läßt die vielfältigen Angriffspunkte einer Störung erkennen, die wir durch eine Analyse der subjektiven und objektiven Begleiterscheinungen lokalisatorisch und artdiagnostisch zu bestimmen versuchen.

Anamnestische Aufgliederung der Schwindelerscheinungen Wenn man sich die von dem Kranken als Schwindel bezeichneten Empfindungen eingehend beschreiben läßt und versucht, die zunächst vieldeutige Bezeichnung anamnestisch aufzugliedern, bewährt sich die Einteilung in den systematischen und in den unsystematischen Schwindel. Der systematische Schwindel ist die Empfindung des Drehens, des Schwankens oder das seltene Liftgefühl. Diese drei Arten des systematischen Schwindels bezeichnet man auch als Schwindel in engerem Sinn; es sind die typischen Störungen des Vestibularapparates selbst, deshalb auch »Vestibularisschwindel «, Unter den unsystematischen Schwindelerscheinungen sind vielfältige Beschwerden zusammengefaßt: Trunken-

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heitsgefühl, Taumeligkeit, Unsicherheit beim Gehen und Stehen, Benommenheits- und Leeregefühl im Kopf, Schwächeanwandlungen, Schwarzwerden vor den Augen, Ohnmachtsneigung und Angstzustände. Diese Erscheinungen kommen bei verschiedenen Grundkrankheiten vor, am häufigsten bei Herz- und Gefäßkrankheiten (Arteriosklerose, Hochdruck, Herzschwäche), bei Intoxikationen (Alkohol, Pharmaka), bei Stoffwechselstörungen und Infektionskrankheiten und nach Schädelund Halswirbelsäulentraumen. Dieser unsystematische Schwindel ist nicht Ausdruck der Erkrankung des Vestibularorgans selbst, sondern vielmehr einer Störung der übergeordneten Integration im Zentralnervensystem, daher auch der Ausdruck »diffuser Himschwindel«. Aus der Anamnese erfragen wir auch die Art des Auftretens von Schwindel: ob plötzlich ohne Vorboten als Schwindelanfall oder als Dauerschwindel mit jähem oder allmählichem Beginn, dauerndem Anhalten oder langsamem Abklingen. Ein typisch anfallartiger Schwindel kann labyrinthärer Genese sein, zum Beispiel bei der Meniereschen Erkrankung, oder auch zentraler Genese als Menierescher Symptomenkomplex bei Durchblutungsstörungen im Hirnstamm. Es sind Drehschwindelattacken mit plötzlichem Beginn, die Minuten bis Stunden dauern und gewöhnlich mit Brechreiz und Erbrechen einhergehen. Der Schwindel ist so stark, daß der Betroffene nicht mehr stehen kann. So gut wie regelmäßig ist der labyrinthäre Schwindel anfall von Ohrgeräuschen und - im Laufe der Erkrankung - auch von einer Hörverminderung begleitet. Ein Dauerschwindel mit akutem Beginn und allmählichem Abklingen entsteht bei plötzlichem Vestibularisausfall, zum Beispiel durch eine Felsenbeinquerfraktur mit Zerstörung des Innenohres, eine Apoplexia labyrinthi oder entzündliche Erkrankungen des Ohres oder des Vestibularnerven. Ein Dauerschwindel mit allmählichem Beginn und etwa gleichförmigem Anhalten kann durch eine Schädigung des VIII. Hirnnerven zustande kommen durch Tumoren dieses Nerven, bei einer Geschwulst im Felsenbein oder infolge toxischer Schädigung, zum Beispiel durch Streptomycin und andere Antibiotika. (Streptomycin ist ein spezifisches Vestibularisgift, wie auch Gentamicin, das zur Ausschaltung des Labyrinthes bei fortgeschrittener Menierescher Erkrankung lokal injiziert wird.) Bei den Kleinhirnbrückenwinkeltumoren, zum Beispiel dem Acusticusneurinom, tritt der Schwindel gewöhnlich ganz zurück gegenüber den Kleinhirn- und Brückensymptomen und den Hirnnervenausfällen (Trigeminus, Facialis, später die kaudale Gruppe: Glossepharyngicus, Vagus und Hypoglossus). Anhaltender, wechselnd starker Schwindel kommt vorwiegend bei Erkrankungen im Kerngebiet des Vestibularis vor bei Durchblutungsstörungen, Hirnstammtumoren oder Blutungen, Syringobulbie oder multipler Sklerose. Wie erwähnt, sind Begleiterscheinungen lokalisatorisch aufschlußreich: Ohrenrauschen, Hörverminderung, Gefühl des verstopften Ohres, Schmerzen im Ohr und auf der entsprechenden Kopfseite, allgemeines Krankheitsgefühl. Dieses ist sehr ausgeprägt bei vegetativen

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Reizerscheinungen, die besonders den akut einsetzenden Schwindel begleiten, während sie bei chronischen Schwindelformen mehr und mehr zurücktreten. Dieses schwere Krankheitsgefühl mit Übelkeit, Erbrechen, Schweißausbruch, Bradykardie und Kollapsneigung bezeichnet der Ausdruck »sterbensübel«. Schwindelparoxysmen mit heftigen Begleitsymptomen dieser Art und Bewußtseinsverlust leiten über zu den Kleinhirnanfällen (»cerebellar fits«), bei denen noch Streckspasmen und Opisthotonus, Atemstörungen, Miosis und doppelseitige Pyramidenzeichen dazukommen. Weiter fragen wir in der Anamnese nach der Auslösbarkeit des Schwindels durch bestimmte Körperlagen, Kopfhaltungen, rasche Kopfwendungen, Blick nach oben, Bücken und dergleichen. Sekundenlange Drehschwindel anfälle beim Hinlegen, beim Aufrichten, beim Vorwärts- oder Seitwärtsneigen, verbunden mit Angstgefühlen und Schweißausbruch, kennzeichnen eine akute periphere Labyrinthschädigung, zum Beispiel bei Traumen, bei Labyrinthitis oder Durchblutungsstörungen des Innenohres; sie kommen aber auch bei zentralen Affektionen, beispielsweise infolge von Durchblutungsstörungen im Vertebralis-Basilaris-Kreislauf vor. Wenn auch von der Anamnese her eine gewisse Aufgliederung des Schwindels möglich ist, so erlaubt sie doch keineswegs immer die Abgrenzung der peripheren von den zentralen Störungen. Beide können Schwindelanfälle oder auch Dauerschwindel hervorrufen, bei beiden kann eine ausgesprochene Abhängigkeit von der Körperlage und Kopfhaltung bestehen, bei beiden gibt es das akute Einsetzen und die allmähliche Entwicklung. Die Untersuchung hilft in den meisten Fällen, die Symptomatik weiter aufzuschlüsseln. Trotzdem kann auch nach einer eingehenden neurologischen und otologischen Untersuchung mit Vestibularis- und Nystagmusprüfung die Deutung schwierig oder überhaupt unmöglich sein.

Untersuchungsgang Bei der vorausgehenden allgemeinen Untersuchung achtet man besonders auf den Blutdruck, die Herz- und Kreislauffunktion sowie Stoffwechselstörungen und sucht nach einfach erfaßbaren Erkrankungen im NasenRachen-Raum und im Ohr. Die Bestimmung von Sitz, Ausbreitung und Ursprung der Krankheit ergibt sich aus den neurologischen und otologischen Befunden. Nach dem Prinzip der neurologischen Diagnostik versucht man, durch Feststellung der ungestörten und der gestörten Funktionen des Nervensystems den Herd näher zu umschreiben. Dabei richtet man sein Augenmerk neben einer orientierenden Prüfung des Gehörs und des Vestibularapparates besonders auf einen Nystagmus (und allenfalls auf seine Lageabhängigkeit) und auf Störungen des Gleichgewichtes und der Tiefensensibilität, wie sie sich bei der Prüfung von Haltung, Gang und Bewegungskoordination unter normalen und erschwerten Bedingungen zeigt: Stehen mit voreinandergesetzten Füßen, mit eng aneinandergestellten Beinen und geschlossenen Augen, Strichgang, Blindzielgang, Auf-derStelle-Treten mit geschlossenen Augen und Zeigeversuche an oberen und unteren Gliedmaßen.

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Der Neurologe beschränkt sich auf die Erfassung einer Taubheit oder Schwerhörigkeit und auf die Differenzierung einer Schalleitungs- und einer Perzeptionsschwerhörigkeit. Bei einer Verminderung der Schallperzeption ist wie normal die Luftleitung der Knochenleitung überlegen. Die Stimmgabel wird vor dem Ohr länger gehört als auf dem Warzenfortsatz (positiver Rinne-Versuch, normal doppelt so lang vor dem Ohr wie auf dem Warzenfortsatz). Wird umgekehrt die Stimmgabel auf dem Warzenfortsatz länger gehört als vor dem Ohr (Rinne-Test negativ), so ist eine Erkrankung des schalleitenden Apparates anzunehmen. Beim Weberschen Versuch wird die Stimmgabel auf den Scheitel gesetzt. Bei Schalleitungsstörung wird sie im kranken Ohr besser gehört, während sie bei einer Schallperzeptionsstörung im gesunden Ohr besser wahrgenommen wird. Eingehender prüft der Ohrenarzt die kochleäre und vestibuläre Funktion mit Audiogramm und Aufzeichnung des Nystagmus unter normalen Bedingungen und unter Provokation durch thermische Reize und Lageänderung, Kopfschütteln und dergleichen. Zur Dokumentation, quantitativen Messung und damit zum objektiven Vergleich dient die Elektronystagmographie. Sie erlaubt die genaueste Beurteilung der vestibulären Schwellenempfindlichkeit. Damit kann die subjektive Empfindung von Schwindel und Gleichgewichtsstörung durch den Nachweis von Spontan- und (oder) Provokationssymptomen objektiviert werden.

Richtlinien für die Bewertung der Befunde Eine Taubheit ist immer eine Perzeptionsstörung und nicht eine Schalleitungsstörung. Schwerhörigkeit ist wegen der doppelseitigen Projektion nicht Folge eines zerebralen Herdes, sondern immer Ausdruck einer peripheren Störung. Gleichseitige Gehör- und Vestibularisstörung beweist die periphere Erkrankung, während die Dissoziation von Gehör- und Vestibularisstörung im allgemeinen für die Erkrankung des Kerngebietes charakteristisch ist. Dabei können sehr quälende Gehörsmißempfindungen vorkommen. Unter Spontannystagmus wird der wirklich spontan vorhandene Nystagmus verstanden, dazu gehört auch der etwa nur bei bestimmten Blickrichtungen nachweisbare Nystagmus. EinsteIlzuckungen des Auges in extremer Endstellung, vorwiegend beim Blick zur Seite, sind nicht pathologisch. Wenn jedoch jenseits der zwanglosen Blickrichtung grobe Nystagmen in Erscheinung treten, können sie als pathologisch gewertet werden. Die Richtung des Nystagmus wird nach der schnellen Komponente benannt. Horizontaler Nystagmus läßt eine periphere vestibuläre Störung vermuten, rotatorischer und vertikaler Nystagmus weist auf eine Hirnstammaffektion. Ein Pendelnystagmus ist nie vestibulär, sondern okulär.

Schematische Darstellung der Vestibularisstörungen I. Periphere Vestibularisstärung, charakterisiert durch die Parallelität labyrinthärer und kochleärer Symptome a) Labyrinthreizung: Drehschwindel und Falltendenz

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zur Gegenseite, Horizontalnystagmus zur kranken Seite, oft Schwerhörigkeit, häufig Ohrensausen. Verursacht zum Beispiel durch eine seröse Labyrinthitis, eine beginnende eitrige Labyrinthitis, Morbus Meniere, b) Akuter Labyrinthausfall: Drehschwindel und Falltendenz zur kranken Seite, Horizontalnystagmus zur Gegenseite, häufig gleichseitige Ertaubung. Verursacht zum Beispiel durch eine Felsenbeinquerfraktur, durch eine eitrige oder seröse Labyrinthitis (allenfalls als Begleiterkrankung einer Meningitis), Labyrinthapoplexie. c) Langsame Labyrinthausschaltung oder Unterbrechung der Leitung im Nervus stato-acusticus: Der Schwindel ist weniger stark ausgeprägt, nicht anfallweise, sondern andauernd. Falltendenz zur kranken Seite, Horizontalnystagmus zur Gegenseite, häufig gleichseitige Ertaubung. Kommt zum Beispiel im Endstadium einer chronischen eitrigen Labyrinthitis oder einer Meniereschen Erkrankung, beim Cholesteatom des Felsenbeins, bei Geschwülsten des Felsenbeins oder des Kleinhirnbrückenwinkels vor.

II. Zentrale Vestibularisstörungen, charakterisiert durch eine Dissoziation von Hör- und Gleichgewichtsstörungen Der Schwindel kann chronisch, aber auch anfall artig sein, er ist häufig beeinflußt von der Körperlage. Der Nystagmus ist nicht wie bei der peripheren Vestibularisschädigung nur horizontal, sondern zugleich auch rotatorisch oder vertikal; er kann die Richtung wechseln und ist lageabhängig wie der Schwindel. Eventuell weisen weitere Symptome eines Hirnstammherdes wie Blickparese und alternierende Hirnstammsyndrome auf den Sitz der Erkrankung. Häufigste auslösende Faktoren sind Durchblutungsstörungen im Hirnstammbereich, schwere Hirnkontusionen, Enzephalitis, multiple Sklerose, Tumoren oder Blutungen des Hirnstammes oder der hinteren Schädelgrube, allgemeiner Hirndruck und vertebragene Störungen. Unter den Ursachen zentraler vestibulärer Ausfälle stehen die Durchblutungsstörungen weitaus an erster Stelle. Rezidivierender systematischer Schwindel ist der häufigste Vorbote einer drohenden Durchblutungsinsuffizienz im Hirnstammkreislauf, "diffuser Hirnschwindel« häufig bei Anämie, allgemeiner Arteriosklerose, Hochdruckkrankheit und Herzschwäche als Vorbote einer Ohnmacht. Der vertebragene Schwindel, der sowohl den zentralen als auch den peripheren Vestibularisstörungen zuzurechnen ist, gehört zum zervikozephalen Syndrom (1). Darin sind vielfältige, in ihrer Genese keineswegs im einzelnen klar definierte Störungen zusammengefaßt: Kopfschmerzen, Schwindel, Ohrensausen und Ohrenschmerzen, Flimmerskotome, Augenschmerzen, Gesichtsschmerzen, vasomotorische Krisen mit Rötung der Gesichtshaut, Parästhesien im Pharynx und anfallweise

Heiserkeit. Diese Symptomgruppe hat auch Beziehung zum sogenannten synkopalen Vertebralissyndrom (Ohnmachtszuständen infolge einer Durchblutungsstörung im Hirnstamm) und zur zervikalen Migräne (2), die in Verbindung mit Wurzelsymptomen zwischen Cl und C8 vorkommen soll. Man muß in der Deutung dieser Beschwerden vorsichtig sein; sie kommen gerade bei den Kranken, die grobe, auch chirurgisch zugängliche Veränderungen haben, wie Diskusprolapse und schwere Osteochondrosen, kaum vor. Doch kann man sich eine Beeinträchtigung des Gleichgewichtsorganes von der Halswirbe1säule aus erklären durch eine mechanische Einwirkung auf die Vertebralarterie bei schwerer Spondylose, so daß beim Vorkommen arteriosklerotischer oder hypoplastischer Gefäßveränderungen die physiologischerweise bei extremen Kopfbewegungen auftretende Durchblutungsminderung manifest wird. Weiter ist auch eine Irritation des vestibulären Systems durch eine Reizung des die Arteria vertebralis umgebenden sympathischen Nervengeflechtes zu erwägen, das mit den Arterien des Kleinhirns, des Hirnstammes und des Innenohres in Verbindung steht. Wenn sich durch eine extreme Körperdrehung bei fixiertem Kopf Schwindel und Nystagmus auslösen lassen, darf der Zusammenhang angenommen werden (zur Unterscheidung vom kopfhaltungsabhängigen Nystagmus muß der Kopf fixiert werden). Posttraumatischer Schwindel nach Schädel-Hirn-Verletzungen ist häufig auf eine periphere Vestibularisstörung zu beziehen, seltener auf ein Hirnstammsyndrom; er ist manchmal durch eine begleitende Halswirbelsäulenverletzung zu erklären. Bei Pyramidenquerfrakturen wird das Labyrinth zerstört. Dadurch entstehen eine plötzliche Ertaubung und ein vestibulärer Ausfall mit akutem Schwindel. Dieser klingt allmählich durch eine zentrale Kompensation ab, so daß die meisten Menschen, deren Gleichgewichtsorgan nicht besonderen beruflichen Belastungen ausgesetzt ist, nicht beeinträchtigt sind. Bei Pyramidenlängsfrakturen kann eine Commotio labyrinthi vorkommen mit plötzlichem Schwindel, der sich bald ganz zurückbildet. Unsystematischer Schwindel nach Traumen kann auch auf orthostatische Kreislaufregulationsstörungen zurückzuführen sein. Gerade beim posttraumatischen Schwindel ist die Abgrenzung organischer und psychogener Störungen nicht immer eindeutig. Daher ist zur Beurteilung eine eingehende Vestibularisprüfung zu empfehlen. Schwindel ist häufig unter den vielfältigen funktionellen Beschwerden neurotischen Ursprungs. Literatur (1) Barre, J. A.: Le syndrome sympathique cervical posterieur. Rev. Neuro!' 33 (1926), 248.

Privatdozent Dr. F. Scharfetter Klinik für Neurochirurgie Kantonsspital CH-9007 St. Gallen

(2) Baertschi-Rochaix, W.: Migraine cervicale (Huber: Bern 1949). (3) SahIi, H.: Lehrbuch der klinischen Untersuchungsmethoden. 5. Auf!. (Deuticke: Wien 1905), 1206.

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[Vertigo].

Nr. 43, 28. Okrober 1977, 102. Jg. Scharfetter: über den Schwindel Übersichten Dtsch. med. Wschr. 102 (1977), 1561-1564 © Georg Thieme Verlag, Stut...
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