Freitag, 29. April 1977- Kongreflhalle 15.40-17.30 Uhr

C. Urologische und nephrologische Komplikationen nach allgemeinchirurgischen Eingriffen Urologische K o m p l i k a t i o n e n

Langenbecks Arch. Chir. 345 (KongreBbericht 1977)

Langenbecks Archly for Chirurgie © by Springer-Verlag 1977

93. Niere und I-Iarnleiter W. Lutzeyer Abteilung Urologie der MedizinischenFakult~itder Rheinisch-Wesff~ilischenTeehnischen Hochschule Aachen (Vorstand: Prof. Dr. med. W. Lutzeyer), Goethestr. 27/29, D-5100 Aachen

Kidney and Urinary Passages Summary.Urologic complications can result from abdominal, gynecologic, and retroperitoneal operations. As a result, surgical treatment of colonic tumors, genital tumors, the vertebral column, the lymphatic system, and the aortoiliacal vessels assumes a greater importance. Immediate therapy is possible as a result of intraoperative diagnosis. The postoperative diagnosis may become manifest as early or late symptoms. Certain criteria for avoiding such complications are mentioned. Following diagnosis of a urologic complication, immediate therapy seems to produce the best results and the shortest period of hospitalization. Key words: Surgery, general - Urologic complications. Zusammenfassung.Die Ursachen der urologischen Komplikationen nach chirurgischen Eingriffen k6nnen in der Abdominal-, der gyn~ikologischen und der retroperitonealen Chirurgie liegen, wobei der Chirurgie der Dickdarmcarcinome, der Genitalcarcinome, den Eingriffen an der Wirbels/iule und dem Lymphabflul3system sowie dem aortoiliakalen Gef~il3bereich eine erh6hte Bedeutung zukommt. Zur Vermeidung derartiger Komplikationen werden bestimmte Kriterien genannt. Die Soforttherapie nach Diagnose einer urologischen Komplikation ist im Hinblick auf Effektivit/it, Hospitalisierungszeit und Vermeidung von Zweiteingriffen das Optimale.

Schliisselwiirter: Urologische Komplikationen. Urologische Komplikationen sind bei allgemein-chirurgischen intraabdominellen Eingriffen im Bereich der Niere, der Nebenniere und des Nierenstiels selten, auger es handelt sich um Fehlbildungen der Niere und der ableitenden Harnwege, wie

558

W. Lutzeyer

z. B. Verschmelzungsniere, Dystopie oder Duplizit~it. Deshalb stehen im Mittelpunkt dieses Themas die oberen Harnwege, speziell der Harnleiter in seinem gesamten Verlauf. Folgende Fragen sollen systematisch gestellt, beantwortet oder diskutiert werden: A) Die Ursachen der Harnleiterverletzung B) Die Erkennung der Harnleiterverletzung C) Die Diagnostik der Harnverletzung D) Die Vermeidung der Harnleiterverletzung E) Die Behandlung der Harnleiterverletzung. Diese ffinf Hauptfragen lassen sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Sie beleuchten abet, wie schwierig unter Umst~inden der komplizierte Einzelfall epikritisch zu beurteilen ist und wie dann entscheidenderweise vonder atypischen Situation das Augenmerk auf die prospektive MOglichkeit einer intraoperativen oder postoperativen Ureterverletzung oder Komplikation gerichtet werden sollte. A. Ursachen

Der Ursachenkomplex kann in folgende Verletzungsm6glichkeiten aufgegliedert werden: 1. Die Abdominalchirurgie (Allgemeinchirurgie) 2. Die gyn~ikologische Chirurgie (vorwiegend Beckenchirurgie) 3. Die retroperitoneale Chirurgie (spezielle chirurgische Eingriffe)

Zu 1 Die Ursachen in der Abdominalchirurgie sind in der Regel Eingriffe am gesamten Dickdarm, speziel! bei ausgedehnter Colon-Rectum-Chirurgie infolge Dickdarmtumoren, oder auch bei verschiedenen Formen der chirurgisch zu therapierenden Colitis. Selbst bei der typischen, mehr abet bei der atypischen Appendicitis sind Verletzungen des Harnleiters beschrieben. Die topographischen Beziehungen der Appendix zum Ureter sind variabel. Man denke nur an die Einbeziehung des Hamleiters in die AbsceSwand eines perityphlitischen Abscesses, die Verletzung des rechten Harnleiters bei der Operation effolgt eo ipso (Hegglin u. Zingg, 7 F~ille, 1968). Eine erst vor kurzem erschienene Zusammenstellung von Hempel u. Schwencke, die fiber 3 F~ille von Harnleiterverletzungen nach abdominosacraler Rectumamputation berichten, spricht von einer allgemeinen Komplikationsrate, die zwischen 0,93 % und 5,7% liegt. Die von Deucher ermittelten 4 Ureterl~isionen bei 249 Rectumamputationen, Rectumsigmoidresektionen und Proktocolektomien, intraoperativ erkannt, wurden dabei nicht berficksichtigt. Ganz entscheidend ist gerade in der Carcinomchirurgie beim Rectumcarcinom, speziell bei der abdominosacralen Form, die Berficksichtigung folgender Punkte im Rahmen des Operationsablaufes: 1. Mobilisation des Colon sigmoideum. 2. Die Pr~iparation des Metastasenweges bis zum Abgang der Arteria mesenterica inferior.

Niere und Hamleiter

559

3. Eventuell Massenligaturen der distalen und der lateralen Paraproktien und 4. Naht des Beckenbodenbauchfells.

Diese 4 Punkte sind potentielle Gefiihrdungspunkte fiir die Verletzung eines oder beider Harnleiter. Zu2 Die gyniikologische Chirurgie hat nach der neuesten Arbeit von T. C. Bright u. P. C. Peters (1977) eine Incidencerate von 0,4-30%, also einen ziemlich breiten Spielraum. Nach Valk ist die Verletzung in 15 % doppelseitig. Hier sind sicher die anatomischen Beziehungen des Harnleiters zu den Parametrien, besonders bei der ausgedehnten Carcinomchirurgie, inniger als bei der Rectumchirurgie. Die Frage der Prim/irverletzung des Harnleiters oder der sekund~iren Sch~idigung durch den ausgedehnten Eingriff mul3 hier gestellt werden.

Zu 3 Die retroperitoneale Chirurgie kennt ebenfalls eine Reihe von Komplikationen im Bereich des Harnleiterverlaufes, und zwar: a) bei Eingriffen an der Wirbelsiiule wie nach Laminektomie (M. P. Gangal, R. E. Agee u. C. R. Spence, 1975). b) Bei ausgedehnten Eingriffen am Lymphgefiiflsystem in der paraaortalen und parailiacalen Region: die sogenannte Lymphonodulektomie im Rahmen der extensiven Carcinomchirurgie, wie z. B. beim Hodenteratom. Hier sind die innigen Lagebeziehungen des lymphonoduliiren und paralymphonodul/iren Feldes zur hinteren Hamleiterhtille die kritische Verletzungsm6glichkeit. Auger den in der Literatur beschriebenen 2 FfiIlen von M. P. Gangal u. Mitarb. (1975) beobachteten wir einen eigenen Fall, bei dem es bei vorbestrahlten paraaortalen LymphabfluBgebieten infolge Lymphogranulomatose bei der 5 Jahre sp/iter durchgefiihrten Lymphonodulektomie wegen eines Hodenteratoms zu einer Hamleiterverletzung kam. c) Nach gefiiflchirurgischen Eingriffen im aorto-iliacalen Bereich: Das Aneurysma der Bauchaorta und der Arteria iliaca neigt bereits prim~ir zu Ureteradh/isionen entziindlicher Natur (R. Gissler, H. Marquardt u. G. Heberer, 1969). Es kommt nach rekonstruktiven Operationen mit synthetischem GefiiBersatz, wie z. B. nach aorta-iliacalem Bypass, zu falschen Aneurysmen an den Anastomosenstellen. Durch diese Aneurysmen oder eine Prothesenftihrung iiber statt unter dem Ureter mit periprothetischer Infektion kommt es zu Harnleiterobstruktionen. Der enge Kontakt yon Hamleiter und Prothese bei Fehlen der eigentlichen Hamleitervorderhtille priidisponiert zu Fibrose, Stauung und bei Revision zur Hamleiterverletzung und zur Infektion. Dieser unter A 1, 2 und 3 gestellte Ursachenkomplex, bestehend aus chirurgischen Eingriffen am Dickdarm, am inneren Genitale, im kleinen Becken und im gesamten retroperitonealen Feld wird durch die Kenntnis der retroperitonealen topographischen Anatomie der Niere und der ableitenden Harnwege zu ihren Nachbarorganen evident. Stelzner hat sie 1969 exakt beschrieben. Dabei sind die Hiillfaszien der Niere, der Nebenniere, des Harnleiters und der Blase sowie des Rectums gemeinsam. Sie sind zwar in der Dicke unterschiedlich angelegt, jedoch in der Richtung

560

w. Lutzeyer

von Gef~iB- und Nerveneintritten often. Damit ist aber auch der Infektions- oder Metastasierungsweg oder der direkt carcinompenetrierende l]bergriff auf den Harnleiter von Organen wie Appendix, Retroperitonitis, Pankreas oder auch von Colitis oder Rectumcarcinom m6glich. Die Carcinomchirurgie kennt keine standardisierte Anatomie! Deshalb beachte man diese topographischen Gesichtspunkte zur Vermeidung von Harnleiterverletzungen!

B. Erkennung Die Erkennung der Harnleiterl~ision kann entweder 1. intraoperativ oder

2. postoperativ m6glich sein.

Zu 1 Wird die Harnleiterl~ision intraoperativ erkannt, so ist die Rekonstruktion der ableitenden Harnwege im Rahmen des gesamten Operationsablaufes gegeben. Sie reicht von den sp~iter zu nennenden M6glichkeiten der Harnleiterschienung tiber die direkte Harnleiternaht bis zur Neoimplantation. Ein Harnleiterersatz ist meistens nicht n6tig.

Zu 2 Die postoperative Erkennung l~il3t sich in a) Friihsymptome und b) Spiitsymptome trennen. Zu den Friihsymptomen, die bereits am 1. bis zum 5. postoperativen Tag in Erscheinung treten und die ohne akute Br/ickensymptome in auff~illige Sp~itsymptome (Intervall 1 Jahr) (Peters u. Mitarb.)/ibergehen k6nnen, geh6ren: Austritt klarer Fliissigkeit aus dem Wundbereich, urinverd~ichtig, Flankenschmerz ein- oder beidseitig. Wechselnde Temperatursch/ibe, Subileus bis Ileus, abdominale Abwehrspannung, sp~iter klar zu diagnostizierende Urinfistelbildung im Wundbereich.

Merke: Es gibt intraoperative Harnleiterliisionen, die postoperativ ohne klinische Symptomatik verlaufen, die Niere geht in Form einer schleichenden Organatrophie zugrunde!

C. Diagnostische Gesichtspunkte Sie sind ihrer Wertigkeit nach geordnet und betreffen: a) Die intraven6se Ausscheidungsurographie steht im Mittelpunkt der Diagnostik, eventuell mit Irdusionsurographie mit groBen Kontrastmittelmengen und Sp~itaufnahmen. Ftir den Erfahrenen ist es selbstverst~indlich, da8 die groBe Dickdarmchirurgie und Beckenchirurgie priioperativ eine intraven6se Ausscheidungsurographie verlangt. Dies halten wir nicht nur aus anatomisch-rnorphologischen und funktionell medizinischen Grtinden, sondern auch aus juristischen Grtinden ftir erforderlich.

Niere und Harnleiter

561

Merke: Schon die geringste Veriinderung in der intraven6sen Ausscheidungsurographie, so Stauung, Kontrastmittelausscheidungsverz6gerung oder gar Funktionsausfall, ist verd~ichtig auf eine Harnleiterl~ision. Sie erfordert deshalb b) die Cystoskopiemit retrograderHarnleitersondierung, entweder ein- oder doppelseitig, und retrograder Ureteropyelographie. Dies ist die entscheidende diagn0stische Magnahme zur Lokalisation der Ureterl~ision. c) Indigokarmingaben sind nicht immer beweisend: Die Niere kann unter Umst~inden in ihrer Funktion so gest6rt sein, dab kein Farbstoff ausgeschieden wird.

D. Vermeidung Der verantwortungsbewuBte Operateur versucht, die Radikalitiit des Eingriffes gegen die Komplikationsm/Sglichkeiten abzuw~igen. Was kann man zur Vermeidung tun? Wichtig ist die Identifikation beider Harnleiter unter Z/igelung an der IliacalgefiiBkreuzung, d. h. wenn m6glich im Bereich des Gesunden. Die Markierung oberoder unterhalb des Operationsfeldes aus dem entziindlichen oder tumortJsen Bereich ist notwendig. Die priioperative Katheterung beider Harnleiter kann eine Hilfe sein, jedoch die roufinemiiBige Anwendung von Leuchtsonden hat sich im allgemeinen nicht durchgesetzt. Merke: Vermeidung von traumatischem Operieren mit Denudierung oder Devascularisierung des Harnleiters, blindes Ansetzen von Klemmen zur Hiimostase.

E. Behandlung Die Behandlung der Harnleiterverletzung, d. h. also dieser urologischen Komplikation, h~ingt generell von folgenden Faktoren ab: a) Von der Zeitdauer, d.h. Harnleiterverletzung bis Stellung der Diagnose. b) Von der Lokalisation, d. h. oberer, mittlerer oder unterer Harnleiterabschnitt. c) Von der Schwere und vom Ausmag der Verletzung selbst. Es gilt die Regel, dab die Versorgung einer intraoperativ diagnostizierten Harnleiterverletzung einfacher, sicherer und effektiver ist als die einer erst postoperativ diagnostizierten Ureterkomplikation.

1. Intraoperative Diagnose Die Rekonstruktion des Harnleiters erfolgt je nach Lokalisation, Schwere und AusmaB der Verletzung. Das heiBt: bei Tangentialverletzungen: Schienung oder Adventitianaht, bei Ligaturen oder Klemmen: k6nnen diese gel6st werden, da aus dem Tierversuch bekannt ist, daB ein Klemmendruck bis zu 60 rain vom Harnleiter ohne schwerere Sch/idigung toleriert wird (Peters u. Mitarb.). Evertierende End-zuEnd-Naht /iber einem Silicon- oder PVC-Splint bei glatter Durchtrennung. Trifft die Lokalisation die sogenannte kritische Zone, d. h. die mittleren 12 cm des abdominalen Harnleiters, so kommen im oberen und im unteren Abschnitt Methoden der Neoimplantation in das Nierenbecken oder in die Blase mit oder ohne Blasenlappen, H6rnerblase oder direkte H6rnerblase in Frage.

562

W. Lutzeyer

Die Transureteroureterostomie oder ein Diinndarmureter sind nur bei ausgedehnten Defekten zu verwenden, aber dann sehr wahrscheinlich zu einem erst sp~iteren Zeitpunkt.

2. Postoperative Diagnose Wird die Diagnose aufgrund der postoperativ geschilderten Symptomatik zu einem sp~iteren Zeitpunkt gestellt, so unterscheidet man hier zwischen a) Sofortintervention oder b) verz6gerte Intervention.

Zu a) Hier gelten dieselben Verfahren, wie sie eben geschildert wurden, n~imlich die der Deligation, der Harnleiterschienung, der Harnleiter-End-zu-End-Naht, der Neoimplantation in eine HBrnerblase durch submukBsen Schr~igkanal,wenn der Allgemeinzustand des Patienten gut ist und das Wundgebiet exakte Operationsverfahren zul~iBt.

Ansonsten Harnableitung durch Nephrostomie! Zu b) In der Regel zielt die sp~itere Intervention darauf ab, das Operationsgebiet, welches durch Urinaustritt erheblich irritiert ist, durch eine Nephrostomiedrainage trocken zu legen. Die entz/indlichen Ver~inderungen sollen soweit ausheilen, dab zu einem bestimmten Zeitpunkt, d.h. 3-6 Monate nach dem Eingriff, die Versorgung des Harnleiterdefektes und damit die Wiederherstellung der Harnableitung per vias naturalis in Form der sich anbietenden inneren Harnableitung vorgenommen werden kann. Es gilt die Regel: Nephrostomie oder Ureterhautfistel bei Patienten in nicht gutem Allgemeinzustand lassen die Rekonstruktion des Harnleiters mit Wahl des g/instigen Operationszeitpunktes zu. Der transperitoneale Weg ist dann sicher vorzuziehen. (Hempel u. Schwencke schlagen vor, nach Konsolidierung der Wund- oder Narbenverh~iltnisse 2-3 Wochen sp~ter transperitoneal die Harnleiterrevision und Rekonstruktion vorzunehmen.) Hinweis: Sofortige Intervention, unabh~ingig yore Zeitpunkt der Diagnose, hat folgende Vorteile: a) Geringe Komplikationsrate mit gutem Resultat. b) Zeitersparnis f/ir den Patienten. c) Vermeidung weiterer Eingriffe. Die urologische Komplikation an Niere und Harnleiter durch intraabdominelle oder retroperitoneale allgemein-chirurgische und spezielle Eingriffe verlangt neben Kenntnis der intra- und retroperitonealen topographischen Anatomie, neben Kenntnis der Vermeidung yon Komplikationsm6glichkeiten die Beherrschung sowohl der diagnostischen als auch der operativ-technischen Veffahren, um jeder Komplikation in sicherer und ad~iquater Weise begegnen zu k6nnen.

[Urological and nephrological complications after general surgery. Urological complications. Kidney and ureter].

Freitag, 29. April 1977- Kongreflhalle 15.40-17.30 Uhr C. Urologische und nephrologische Komplikationen nach allgemeinchirurgischen Eingriffen Urolog...
332KB Sizes 0 Downloads 0 Views