© Klaus Rüschhoff, Springer Medizin

Urologe 2014 · 53:1671–1682 DOI 10.1007/s00120-014-3607-0 Online publiziert: 16. Oktober 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

Redaktion

M.-O. Grimm, Jena A. Gross, Hamburg C.-G. Stief, München J.-U. Stolzenburg, Leipzig in Zusammenarbeit mit M.-S. Michel, Mannheim, Vorsitzender der Akademie der Deutschen Urologen

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CME Zertifizierte Fortbildung M.F. Hamann1 · C.M. Naumann1 · S. Knüpfer1 · K.P. Jünemann1 · R. Bauer2 1 Klinik für Urologie und Kinderurologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel 2 Urologische Klinik und Poliklinik, Klinikum der Universität München-Großhadern,

Ludwig-Maximilians-Universität, München

Urogynäkologie II: Harninkontinenz bei Mann und Frau Chirurgische Therapie der Harninkontinenz und des Prolapses Zusammenfassung

In der operativen Therapie der Belastungsharninkontinenz stehen zahlreiche Verfahren für Frauen und Männer zur Verfügung. Die Implantation suburethraler Bänder hat sich neben den klassischen Behandlungsmethoden (Kolposuspension, artifizieller Harnröhrensphink­ ter) als minimal­invasiver Standard etabliert. Das Vorliegen von Komorbiditäten oder einer Rezidivharninkontinenz erfordert ein individuell adaptiertes Therapieregime, wobei die Ent­ scheidung, welcher Maßnahme man sich bedient, gemeinsam mit dem Patienten in Abhän­ gigkeit des Leidensdrucks getroffen werden sollte. Eine genaue Aufklärung über mögliche konservative und operative Alternativen und ihre Erfolgsaussichten ist essenziell.

Schlüsselwörter

Harninkontinenz · Belastungsharninkontinenz · Deszensus · Operative Therapie

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Lernziele Funktionelle Behandlungsoptionen haben die operative Therapie der Belastungsharninkontinenz in den vergangen Jahren bereichert. Für Frauen und Männer stehen zahlreiche innovative wie etablierte Verfahren zur Auswahl, die auf der Grundlage einer zunehmend belastbaren Datenlage zum Einsatz kommen sollen. Nach Absolvieren dieser Fortbildungseinheit kennen Sie … F die relevanten Behandlungsverfahren. F die aktuellen Therapieempfehlungen.

Einleitung In der operativen Therapie der Harninkontinenz liegt der Schwer­ punkt auf der Behandlung der ­Belastungsharninkontinenz

Die Berücksichtigung ­relevanter ­Kofaktoren bei der Wahl des Behandlungsverfahrens ist ­therapieentscheidend

In der operativen Therapie der Harninkontinenz liegt der Schwerpunkt auf der Behandlung der ­ elastungsharninkontinenz. Ein Eingriff wird für beide Geschlechter erst dann empfohlen, wenn B konservative Maßnahmen nicht zu einer zufriedenstellenden Kontinenz geführt haben respektive die Fortsetzung nichtinvasiver Maßnahmen keine Symptomenverbesserung erwarten lässt. Bei der Frau haben sich im Verlauf der letzten 20 Jahre primär funktionelle Therapiestrategien durchgesetzt. Die Prinzipien der „vaginalen Hängematte“ nach DeLancey sowie der Integraltheorie nach Pe­ tros und Ulmsten haben in Form der spannungsfreien, suburethralen Schlingen mit guten Langzeit­ ergebnissen ihre Wirksamkeit bestätigt. Eine vergleichbare Entwicklung haben auch die therapeu­ tischen Optionen der männlichen Belastungsharninkontinenz in den vergangenen 10 Jahren voll­ zogen. Auch hier erweisen sich zunehmend funktionelle (repositionierende) Verfahren, neben rein ­obstruierenden Verfahren, in der Therapie als effektiv. Die Berücksichtigung relevanter Kofaktoren wie beispielsweise Deszensusgrad oder Sphinktermotorik bei der Wahl des Behandlungsverfahrens ist therapieentscheidend. Ebenso verpflichtend ist das ausführliche Aufklärungsgespräch mit dem Patienten, welches den Ursachen, den Zielen und dem Nutzen ebenso wie möglichen Komplikatio­ nen und Therapiealternativen Rechnung trägt.

Operative Therapie der weiblichen Belastungsharninkontinenz Faszienzügelplastik Die Faszienzügelplastik ist eines der ersten funktionellen Verfahren zur Behandlung der Belastungs­ harninkontinenz. Über einen kombinierten abdominellen und vaginalen Zugangsweg wird eine Faszien­schlinge aus körpereigenem Material (Rektusaponeurose, Fascia lata) um den Blasenhals ge­ legt und letzterer dadurch leicht angehoben und unterstützt. Elementar für dieses Verfahren ist die Anlage der adäquaten Schlingenspannung, die wesentlich von der Erfahrung des Operateurs abhän­ gig ist und in der Folge über Wirkungslosigkeit oder aber Überkorrektur mit Miktionsbeschwerden

Urogynecology II: urinary incontinence in men and women – Surgical treatment of urinary incontinence and prolapse Abstract

Numerous surgical procedures are available for the treatment of stress urinary incontinence in wom­ en and men. On a par with classical therapy options (e.g. colposuspension and artificial sphincter prosthesis) suburethral tape procedures have become established as the minimally invasive standard of care. Regarding comorbidities and recurrent urinary incontinence, therapeutic procedures should be modified on an individual basis. It is crucial to involve patients in therapeutic decision-making and counseling should be given with respect to all conservative and operative alternatives.

Keywords

Urinary incontinence · Urinary stress incontinence · Prolapse · Surgical therapy

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CME entscheidet. Die Kontinenzraten zeigen im Langzeitverlauf eine große Spannbreite (43–90%) und sind im Vergleich zu alternativen Verfahren (Kolposuspension) häufiger mit dem Auftreten von postoperativen Drangbeschwerden oder Harnretention assoziiert [1, 2]. Dem Verfahren kann ­heute ­lediglich ein historischer Stellenwert beigemessen werden, da letztendlich individuell weniger her­ ausfordernde Techniken eine breitere Anwendung gefunden haben.

Die Faszienzügelplastik hat ­heute lediglich einen historischen ­Stellenwert

Kolposuspension Die Kolposuspension galt über viele Jahrzehnte als Referenzmethode in der operativen Korrektur der Belastungsharninkontinenz. Über eine suprapubische, transversale Laparotomie wird die vorde­ re Scheidenwand paraurethral angehoben und mit einer weitgehend spannungsfreien Nahtreihe am Ligamentum iliopectineum (Cooper-Ligament) fixiert. Die Suspension der Harnröhre und die er­ höhte Stabilität der Blasenhalsregion führen zu einer verbesserten Drucktransmission. Die Erfolgs­ rate ist mit 90% nach 1 Jahr bzw. 70% nach 10 Jahren ausgezeichnet. Modifikationen des Zugangs, nicht zuletzt die Laparoskopie (trans- oder extraperitoneal), führten zu einer kontinuierlichen Re­ duktion perioperativer Komplikationen wie Blasenverletzungen, Hämatome und Wundheilungsstö­ rungen auf 5–10%. Blasenentleerungsstörungen, insbesondere De-novo-Drangsymptome, sind sel­ ten zu beobachten [1, 3]. Im Zuge der Entwicklung suburethraler alloplastischer Schlingen hat die Kolposuspension ihren Stellenwert als Referenzmethode verloren. Dies ist weniger einer geringeren Effektivität als vielmehr dem reduzierten operativen Trauma sowie der unkomplizierten Anwendung und schnellen Rekonvaleszenz geschuldet [4]. Eine Sonderstellung nimmt die modifizierte Kolposuspension dennoch im Rahmen der komple­ xen offenen respektive laparoskopischen Deszensuschirurgie ein. Gemäß den Ergebnissen der  CAREStudie kann ein kombiniertes Vorgehen bei Frauen, die gleichzeitig eine Sakrokolpopexie erhalten, zu signifikant besseren postoperativen Kontinenzraten führen. Kontroverse Ergebnisse ähnlicher Stu­ dien verhindern jedoch diesbezüglich klare Therapieempfehlungen [5, 6].

Im Zuge der Entwicklung subure­ thraler alloplastischer Schlingen hat die Kolposuspension ihren Stellen­ wert als Referenzmethode verloren

Spannungsfreie suburethrale Bandoperationen Anfang der 1990er-Jahre präsentierten Ulmsten und Papa Petros gemäß den Aspekten der Integral­ theorie die Technik der spannungsfreien, suburethralen Schlinge. Das synthetische Band (primär Prolene) wird über eine anteriore Kolpotomie hinter dem Schambein auf die Bauchdecke geführt und unter der mittleren Harnröhre platziert. Das nichtresorbierbare Gewebe unterstützt so die ge­ schwächte pubourethrale Verankerung des mittleren Drittels der Harnröhre. Aufgrund der ausge­ zeichneten Heilungsraten und da es sich um ein minimal-invasives und technisch leicht durchzu­ führendes Verfahren handelt, gewann die TVT-Operation zügig an Popularität. Die Erfolgsraten nach 11 Jahren liegen bei etwa 90% und bestätigen den Erfolg auch gegenüber den Ergebnissen nach Burch-Operation [7]. Die häufigsten Komplikationen entstehen intraoperativ im Rahmen der retropubischen Passage des Bandes: Blasenperforationen (2–5%) sowie retropubische Blutungen und Hämatome im ­Cavum Retzii (0,5–1%; [8]). Bei unverändertem therapeutischen Ansatz (Stabilisierung der mittleren Urethra) vermeidet die transobturatorische Implantationstechnik derartige Komplikation im retropubischen Raum. Das Band wird auf Höhe der Klitoris um den Ramus inferior des Os pubis durch das Foramen obtura­ tum gelegt. Das „outside-in transobturator tape“ (TOT) wird an den Schenkelbeugen von außen nach innen unter die Urethra geführt. Die Implantation kann alternativ auch von suburethral in Rich­ tung Foramen obturatorium („inside-out“) erfolgen („inside-out transobturator tape“; TVT-O). Im Vergleich zum retropubischen Band treten beim transobturatorischen Band seltener Blasen­ entleerungsstörungen und Blasenperforationen sowie ein geringerer Blutverlust auf [0,3 vs. 5,5%, re­ latives Risiko (RR): 0,14; 95%-Konfidenzintervall (KI): 0,07–0,26; [8, 9]]. Die Operationszeit ist beim transobturatorischen Zugangsweg insgesamt kürzer [8]. Demgegenüber sind muskuläre Beschwer­ den sowie eine geringfügig erhöhte Erosiosrate der Scheide im Sinne eines verfahrensbedingt ver­ änderten Risikoprofils nachweisbar [9, 10]. Hinsichtlich der objektiven Heilungsrate zeigt sich der transobturatorische dem retropubischen Zugangsweg leicht unterlegen (84 vs. 88%, RR: 0,96; 95%-KI: 0,93–0,99). Dieser Unterschied spiegelt sich jedoch nicht in der subjektiven Heilungsrate wider [8]. Der Urologe 11 · 2014 

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CME Tab. 1  Operationsmethoden bei Descensus genitalis der Frau Zugang Vaginal Abdomial (offen/ laparoskopisch)

Defekt Vorderes Kompartiment Kolporaphia anterior Sakrokolpo-/zervikopexie

  Mittleres Kompartiment Vaginae fixatio sacrospinalis (Amreich-Richter) Sakrokolpo-/zervikopexie

  Hinteres Kompartiment Kolporaphia posterior Sakrokolpo-/zervikopexie

Minischlingen Diese auf etwa 8 cm Länge reduzierten Schlingen übernehmen weiterhin das genuine Prinzip der suburethralen Bänder. Sie durchtreten das Cavum Retzii oder das Foramen obturatorium jedoch nicht mit dem Ziel einer verminderten Komplikationsrate bei gleichbleibender Effektivität. ­Anstelle der Schlingenschenkel werden Gewebeanker verarbeitet, die den Halt im Gewebe gewährleisten sollen. Bisherige Ergebnisse zur Vergleichbarkeit mit herkömmlichen Systemen sind rar. Der Ver­ gleich zum retropubischen Verfahren zeigt trotz subjektiv gleicher Effektivität eine signifikant erhöh­ te Rate ­primär postoperativer Therapieversager zuungunsten der Minischlinge [11]. Andere Studien ­beschreiben Verfahren mit Erfolgsraten zwischen 78% (Gynecare, World Registry) und 84,1% [12]. Zusammenfassend scheint jedoch aktuell eine verlässliche Bewertung der Systeme, insbesondere mit längerem Follow-up, unmöglich.

„Bulking agents“

Der Einsatz von „bulking agents“ empfiehlt sich in erster Linie für ­Patientinnen mit eingeschränkter Operabilität

Hierunter werden Materialien (Hyaluronsäure, Dextranpolymere, Silikonhydrogel) zur Untersprit­ zung der urethralen Submukosa im Bereich der proximalen Harnröhre und/oder des externen ure­ thralen Sphinkters verstanden. Die Injektionen verursachen eine Pseudoobstruktion mit dem Ziel, die Kontinenz durch verbesserte Koaptation der Urethrawand passiv zu verbessern. Wiederholte In­ jektionen sind oft notwendig, da sich zumeist nur kurzfristige Therapieerfolge erzielen lassen [13]. Der Einsatz von „bulking agents“ empfiehlt sich daher in erster Linie für Patientinnen mit einge­ schränkter Operabilität.

Sphinkterprothese

Der weibliche Situs erfordert stets einen Bauchschnitt zur Implanta­ tion einer Sphinkterprothese

Die Implantation eines hydraulischen Sphinkterersatzes (AMS 800, American Medical Systems, USA) empfiehlt sich in ausgesuchten Fällen der Rezidivinkontinenz, nach multiplen Voroperationen bzw. in der Situation des vollständigen Verlusts der Schließmuskelfunktion [10]. Die Manschette wird um die Harnröhre bzw. den Blasenhals gelegt und die Pumpe in der großen Schamlippe platziert. Die ­Mechanik sowie die Handhabung bei der Frau entsprechen der des Mannes, jedoch erfordert der weibliche Situs stets einen Bauchschnitt zur Implantation. Die subjektiven Heilungsraten liegen zwischen 59 und 88%. Komplikationen umfassen mechanisches Versagen mit Revisionsoperationen in bis zu 42% der Fälle innerhalb von 10 Jahren und Explantationsraten von 5,9–15%. Die besonde­ re Indikation des Verfahrens beinhaltet bereits zahlreiche Risikofaktoren, sowohl für das Auftreten ­perioperativer Komplikationen (Verletzungen von Urethra, Blase, Rektum) als auch für das Therapie­ versagen im Verlauf (Lebensalter, lokale Radiotherapie, Voroperationen etc.; [14, 15]).

Operative Therapie bei Belastungsharninkontinenz und Deszensus

Genitaldeszensus und Belastungs­ harninkontinenz sind pathophysio­ logisch eng vergesellschaftet

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Auch wenn der Beitrag die Gesamtheit der operativen Therapiekonzepte der Deszensuschirurgie (. Tab. 1) nicht wiedergeben kann, müssen dennoch Aspekte im engen Zusammenhang mit der Harninkontinenztherapie erläutert werden, denn Genitaldeszensus und Belastungsharninkonti­ nenz sind nicht zuletzt pathophysiologisch eng vergesellschaftet. So gibt etwa die Hälfte aller Frauen mit Vorliegen einer Senkung 2. Grades (1 cm oberhalb oder unterhalb des Hymenalsaums) eine be­ gleitende Belastungsharninkontinenz an; bei einem bemerkenswerten Anteil (10–80%) kontinenter Frauen können unwillkürliche Urinverluste unter Belastung (larvierte Belastungsinkontinenz) provo­ ziert werden, falls man durch Elevation einen Prolaps korrigiert [16, 17]. Für den Fall einer operativen Korrektur im vorderen Kompartiment (Zytozele) tritt selbiger Effekt in rund 10% der Fälle auf [4, 18].

CME Dennoch wird der Einsatz kombinierter Verfahren (Sakrokolpopexie/Kolposuspension, trans­ obturatorische Netzeinlage/suburethrale Schlinge) selbst im Falle einer evidenten Belastungsharn­ inkontinenz bei parallel vorliegendem Deszensus kontrovers diskutiert. Erhalten Frauen mit Belas­ tungsinkontinenz und Zystozele eine vordere Plastik, war die Operation hinsichtlich der Inkonti­ nenz vergleichbar erfolgreich, gleichgültig ob die suburethrale Bandeinlage („tension-free vaginal tape“, TVT) gleichzeitig (83/87, 95%) oder 3 Monate nach der vorderen Plastik erfolgte (47/53, 89%). ­Allerdings waren 27/94 Frauen (29%) nach der alleinigen Deszensusoperation kontinent und lehnten die TVT 3 Monate später ab, sodass bei fast einem Drittel der Frauen eine unnötige Operation ver­ mieden werden konnte [19]. Vergleichbare Effekte werden im Zusammenhang mit der Einlage von transobturatorischen Netzen beobachtet. Auch hier lässt sich die Kontinenzrate durch eine zusätzli­ che suburethrale Bandeinlage steigern [20]. Die Studienlage zeigt, dass sowohl prophylaktische und gleichzeitige als auch zweizeitige Kontinenzoperationen angebracht sein können. In der Konsequenz muss die Patientin mit dem Arzt im Prozess des „informed decision making“ entscheiden, ob eine gleichzeitige Sanierung einer symptomatischen oder larvierten Stressinkontinenz in Frage kommt. Dabei sind natürlich Komplikationen und die Lebensumstände (z. B. chronisches Asthma, Adiposi­ tas oder schwere körperliche Arbeit wie häusliche Krankenpflege) zu beachten.

Operative Therapie der männlichen Belastungsinkontinenz Eine operative Therapie der männlichen Belastungsinkontinenz wird empfohlen, wenn der Konti­ nenzstatus stabil ist und durch die konservative Behandlung keine weitere Verbesserung mehr erzielt werden kann [10]. Eine operative Therapie sollte daher möglichst nicht innerhalb der ersten 6 Mo­ nate nach dem auslösenden Eingriff erfolgen. Insgesamt werden laut aktueller Studienlage schluss­ endlich 10% der Patienten, die an postoperativer Belastungsinkontinenz leiden, einer operativen Therapie zugeführt [21, 22]. Allerdings muss davon ausgegangen werden, dass eine nicht unbedeu­ tende Anzahl von Männern keine weitere Behandlung ihrer persistierenden Belastungsinkontinenz erhält, obwohl sie durch ihre Inkontinenz an einer reduzierten Lebensqualität leidet. Ein wesentli­ cher Grund dafür scheint zu sein, dass das Bewusstsein für die zur Verfügung stehenden operativen Therapiemöglichkeiten noch nicht genügend unter den behandelnden Ärzten verbreitet ist. Neben dem artifiziellen Sphinkter kommen in den letzten Jahren vermehrt Schlingensysteme zum Einsatz. Unter den verschiedenen Systemen wird zwischen adjustierbaren Schlingensystemen und fixierten Schlingen unterschieden. Darüber hinaus finden aber auch noch „bulking agents“ und adjustierba­ re Ballons Anwendung [23].

Eine operative Therapie der männ­ lichen Belastungsinkontinenz wird empfohlen bei stabilem Kontinenz­ status und falls durch ­konservative Behandlung keine weitere ­Verbesserung mehr erzielt wird

Neben dem artifiziellen ­Sphinkter kommen in den letzten Jahren ­vermehrt Schlingensysteme zum Einsatz

Artifizieller Sphinkter Der artifizielle Harnröhrensphinkter (AMS 800®, American Medical Systems, USA) wird als Standard­ therapie für Männer mit persistierender moderater bis schwerer Belastungsinkontinenz angesehen und wurde bereits 1972 als AS-721 in den Markt eingeführt. Seit dieser Zeit wurde er diverse Male modifiziert. Der AMS 800® besteht aus 3 Komponenten (Pumpe, Reservoir, Manschette), welche in­ dividuell den Patientenbedürfnissen angepasst werden können (. Abb. 1; [10]). Die Erfolgsrate ist mit 80–85% höher als bei allen anderen operativen Therapieoptionen [10, 25, 26, 27]. Die Implantation erfolgte ursprünglich nur perineal mit zusätzlichem Wechselschnitt im Unterbauch zur Platzierung des Ballons. 2003 wurde der transskrotale Zugangsweg, bei dem nur noch eine singuläre Inzision notwendig ist, eingeführt [28]. Allerdings scheinen die Kontinenzraten beim klassischen perinealen Zugangsweg etwas höher zu sein [29]. Für die erfolgreiche Bedienung des ­artifiziellen Sphinkters müssen allerdings eine ausreichende manuelle Geschicklichkeit und men­ tale ­Fähigkeit des Patienten vorhanden sein. Das Alter allein sollte aber kein Ausschlusskriterium für die Implantation darstellen [30]. Die Revisionsrate aufgrund mechanischer Probleme liegt bei 8–45%. Die Revisionsrate aufgrund von Komplikationen wie Arrosion, Infektion oder Harnröhrenatrophie liegt bei 7–17% [31, 32]. Die Implantation bei bestrahlten Patienten zeigt allerdings etwas niedrigere Kontinenz- und hö­ here Komplikationsraten (v. a. Infektionen sowie Harnröhrenarrosionen; [10, 33, 34]). Insgesamt hat die Revisionsrate aber seit der Einführung des „narrow back cuff“ 1987 stetig abgenommen und ist im Vergleich zum Primäreingriff nicht mit einer Abnahme der Kontinenzrate vergesellschaftet [32].

Der artifizielle Harnröhrensphinkter wird als Standardtherapie für Män­ ner mit persistierender moderater bis schwerer Belastungsinkontinenz angesehen

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Abb. 1 9 Artifizieller Harnröhrensphinkter. (Mit freundlicher Genehmigung von Elsevier, nach [24])

Doppel-Cuff-Systeme sollten nicht standardmäßig in der Primär­ situation verwendet werden

Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass die Patientenzufriedenheit mit der Kontinenzrate, nicht jedoch mit der Anzahl an Revisionen korreliert [25]. Durch den Einsatz eines Doppel-Cuffs sollten das Risiko der Harnröhrenatrophie gesenkt und die Kontinenzraten gesteigert werden, allerdings zeigte sich ein höheres Risiko sowohl für Komplikatio­ nen als auch für Rezidiveingriffe ohne weitere Verbesserung der Kontinenzraten [35]. Daher sollten Doppel-Cuff-Systeme nicht standardmäßig in der Primärsituation verwendet werden. Seit einiger Zeit sind 2 neue Systeme erhältlich: Flow secure® und Zephyr®. Erste Ergebnisse des Zephyr® zeigen schlechtere Resultate und mehr Komplikationen im Vergleich zum AMS 800® [36]. Einige Konstruktionsmängel des AMS 800® (fehlende Nachjustierbarkeit, urethrale Atrophie) adres­ siert der Flow secure®. Allerdings liegen für die aktuelle Version noch keine Daten vor.

Schlingensysteme Fixierte Schlingensysteme Retrourethrale transobturatorische Schlinge.  Die aus Polypropylen bestehende transobturatori­ sche AdVance®-Schlinge (American Medical Systems, USA) wird retrourethral im Bereich der mem­ branösen Harnröhre direkt am Bulbus implantiert. Für eine korrekte Positionierung muss das Cent­ rum tendineum durchtrennt werden. Die Wirkung der AdVance®-Schlinge ist bisher nicht abschlie­ ßend geklärt und scheint multifaktoriell zu sein. Unter anderem scheinen folgende Faktoren eine Rolle zu spielen [37]: F  urethrale Hypermobilität, F  Verlängerung der funktionellen Harnröhre, F  venöser Sealingeffekt. Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Behandlung mittels ­AdVance®-Schlinge sind ausreichen­ de Mobilität der Sphinkter­region und gute Residualfunktion des Sphinkters

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Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Behandlung mittels AdVance®-Schlinge sind eine aus­ reichende Mobilität der Sphinkterregion und eine gute Residualfunktion des Sphinkters im sog. Re­ positionierungstest [38, 39]. Die ideale Indikation ist bei Patienten mit Belastungsinkontinenz nach radikaler Prostatektomie, ohne Urinverlust im Liegen, ohne Sphinkterdefekt und mit positivem Re­ positionierungstest, inkl. funktioneller Harnröhrenlänge von 1 cm oder mehr, gegeben. Im Rahmen eines 1-jährigen Follow-up konnten vollständige Trockenheitsraten von bis zu 70% erzielt werden. In einer multizentrischen Untersuchung konnte außerdem gezeigt werden, dass die Ergebnisse auch 3 Jahre postoperativ stabil bleiben und nach den ersten 12 Monaten keine weiteren Komplikationen auftreten [39, 40, 41, 42, 43]. Bei Patienten mit zusätzlicher Radiotherapie zeigt das AdVance®-System reduzierte Erfolgsraten [23, 42]. Die Hauptkomplikationen umfassen lokale Wund­

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Abb. 2 8 AdVanceXP®-Schlinge (© AMS Deutschland GmbH Abb. 3 7 Remeex®-Schlingensystem. (Mit freund­ licher Genehmigung von Elsevier, nach [24])

Abb. 4 9 ATOMS®-Schlingensystem mit scrotalem Port (© A.M.I. GmbH, Österreich)

infektionen, fieberhafte Harnwegsinfektionen, perineale Beschwerden sowie passagere postoperative Harnverhaltungen mit vorübergehender Notwendigkeit zur Katheterisierung (bis zu 21%). Die Ex­ plantationsrate ist jedoch sehr gering [40]. Die 2. Generation, die sog. AdVanceXP®-Schlinge, ist seit Herbst 2010 auf dem deutschen Markt erhältlich und soll u. a. durch kleine Ankerhäkchen eine bessere Fixierung der Schlinge in der frühen postoperativen Periode gewährleisten (. Abb. 2). Erste publizierte Daten zeigen mit der AdVance®-­ Schlinge vergleichbare Ergebnisse [44]. Zu beachten ist, dass es bei einer Überkorrektur zu einer per­ sistierenden Restharnbildung kommen kann, die durch die gute Fixierung mittels der Ankerhäk­ chen ausgelöst wird. Schlingensysteme mit Knochenverankerung.  Bei der InVance®-Schlinge (American Medical ­Systems, USA) handelt es sich um ein nichtadjustierbares Schlingensystem, das aus silikonbeschich­ tetem Polypropylen besteht. Die Schlinge wird mittels Titaniumschrauben an den beiden Rami ­ossis ischiopubicum fixiert und wirkt über eine Kompression der bulbären Harnröhre. Die InVance®Schlinge konnte sich in Europa nicht durchsetzen und findet heute nur noch sehr vereinzelt An­ wendung. Adjustierbare Schlingensysteme.  In Deutschland werden aktuell 3 adjustierbare Schlingensyste­ me verwendet: das Argus®-System (Promedon, Argentinien), das Remeex®-System (Neomedic, Spa­ nien; . Abb. 3) sowie das ATOMS-System (A.M.I.®, Österreich; . Abb. 4). Sie werden allesamt im Der Urologe 11 · 2014 

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Abb. 5 9 Phorbas®-Schlingensystem

Adjustierbare Schlingensysteme zeigen vergleichbare Resultate bei bestrahlten und nichtbestrahlten Patienten

­ ereich der bulbären Urethra auf den M. bulbospongiosus platziert und wirken durch eine Erhöhung B des urethralen Widerstands. Da alle Komponenten der jeweiligen Systeme außerhalb eines eventu­ ellen Bestrahlungsfelds liegen, sind bestrahlte Patienten für diese Verfahren prädestiniert. Adjustier­ bare Schlingensysteme zeigen vergleichbare Resultate bei bestrahlten und nichtbestrahlten Patienten. Bei dem Argus®-System handelt es sich um ein Silikonschaumpolster, welches über einen ­retropubischen (Argus classic®) oder transobturatorischen (ArgusT®) Zugangsweg implantiert wer­ den kann. Hiermit können Erfolgsraten von bis zu 65–79% erzielt werden [45, 46]. Eine Readjus­ tierung ist bei etwa einem Drittel der Patienten notwendig. Zu den beschriebenen Komplikationen des ­Argus®-Systems zählen temporäre perineale Schmerzen (15%) sowie eine Explantation des Sys­ tems (8–12%) aufgrund von Arrosion in die Urethra, die Blase oder die Bauchwand sowie aufgrund von Infektionen. Nach Explantation ist eine sekundäre Implantation eines artifiziellen Harnröhren­ sphinkters problemlos möglich und zeigt gute Ergebnisse [45]. Seit Herbst 2013 ganz neu auf dem Markt ist der Nachfolger des Argus®-Systems, das sog. Phorbas®-System (. Abb. 5). Dieses wird über eine einzige perineale Inzision transobturatorisch implantiert und ist über einen skrotalen Port adjustierbar. Das Reemex®-System besteht aus einem readjustierbaren Mesh, welches über 2 Prolene-Fäden mit einem suprapubischen mechanischen Regler verbunden ist. Die Readjustierung erfolgt mittels eines externen Manipulators. Die beschriebenen Erfolgsraten des Reemex®-Systems sind mit denen des Argus®-Systems vergleichbar [45, 47, 48]. Jedoch benötigen die meisten Patienten mindestens eine Readjustierung. Die typischen Komplikationen des Reemex® umfassen intraoperative Blasenver­ letzungen (bis zu 11%), das Reißen der Haltefäden sowie die Explantation des Systems (bis zu 12%) aufgrund von Infektionen oder urethraler Arrosion. Das ATOMS®-System wird über eine einzige perineale Inzision transobturatorisch implantiert und besteht aus einem befüllbaren Kissen, welches durch Netzärmchen, die einmal komplett um den ­Ramus inferior des Os pubis geschlungen sind, fixiert wird. Über einen Port erfolgt die Adjustierung. Auch hier sind die Erfolgsraten mit Kontinenzraten von bis zu 65% (0–1 Vorlage und

[Urogynecology II: urinary incontinence in men and women: surgical treatment of urinary incontinence and prolapse].

Numerous surgical procedures are available for the treatment of stress urinary incontinence in women and men. On a par with classical therapy options ...
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