Kasuistiken Ophthalmologe 2014 · 111:1073–1076 DOI 10.1007/s00347-014-3066-4 Online publiziert: 25. Juni 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

A. Rübsam1 · K. Erb-Eigner2 · P. Lohneis3 · E. Bertelmann1 1 Klinik für Augenheilkunde, Charité Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow-Klinikum, Berlin 2 Klinik und Hochschulambulanz für Radiologie, Charité Universitätsmedizin

Berlin, Campus Benjamin Franklin, Berlin 3 Institut für Pathologie, Charité Universitätsmedizin Berlin, Campus Mitte, Berlin

Ungewöhnliche Ursache einer orbitalen Raumforderung Anamnese

Befund

Eine 54-jährige Patientin stellte sich mit seit 6 Monaten bestehender progredienter, schmerzloser Oberlidschwellung links vor. In der Vorgeschichte war ein vor 8 Jahren mittels chirurgischer Exzision und adjuvanter kombinierter Radio-, Chemo- und Hormontherapie behandeltes Mammakarzinom bekannt.

In der Untersuchung zeigten sich bei normalem Visus keine klinischen Zeichen einer retroorbitalen Raumforderung im Sinne von Doppelbildern, Motilitätseinschränkung oder eines relativen afferenten Pupillendefekts (RAPD). Die vorderen Augenabschnitte und das funduskopische Bild waren regelrecht. Es imponierte lediglich eine weiche Oberlidschwellung mit dezenter Verdrängung des Bulbus nach inferonasal mit einer Protrusion

von 3 mm links in der Exophthalmometrie (. Abb. 1a). Aufgrund des vorliegenden Befundes mit Progressionstendenz entschieden wir uns zur Planung einer Probeexzision mittels lateraler Orbitotomie und präoperativen Durchführung eines MRT mit hochauflösender Orbitaspule. Hierbei zeigte sich eine 28×24×18 mm große Raumforderung links extrakonal superotemporal mit Kontrastmittelanreicherung (. Abb. 2). Die Raumforderung imprimierte den Bulbus von tempo-

Abb. 1 9 a Lokalbefund präoperativ mit imponierender Lidschwellung am linken Auge (medizinische Mydriasis links) und b 6 Monate postoperativ (medizinische Mydriasis links)

Abb. 2 9 28×24×18 mm große Raumforderung rechts extrakonal superotemporal mit Kontrastmittelanreicherung a koronar in T1- und b axial in T1Wichtung Der Ophthalmologe 11 · 2014 

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Kasuistiken ral und hatte Kontakt zur Glandula lacrimalis sowie zum Ansatz des M. rectus superior. Weiterhin bestand breiter Kontakt zu den Knochen des Stirnbeins und dem Os zygomaticum. Bildmorphologisch war der Befund mit einem Lymphom, nach-

Abb. 3 8 In toto resezierte Tränendrüse mit mehreren infiltrierenden Raumforderungen von weiß-rötlicher Farbe

rangig einer Metastase des vorbestehenden Mammakarzinoms vereinbar.

Diagnose In der anschließenden lateralen Orbitotomie wurde eine makroskopisch vollständige Exzision der Tränendrüse inklusive der infiltrierenden Raumforderungen unter Schonung der beteiligten okulären Strukturen angestrebt (. Abb. 3). Die histologische und immunhistologische Untersuchung des Exzidates zeigte Infiltrate eines Merkel-Zell-Karzinoms in der Glandula lacrimalis, das an mehreren Stellen bis an die Präparatoberfläche reichte (. Abb. 4). Eine Expression des Merkel-Zell-Polyomavirus wurde immunhistologisch nicht nachgewiesen.

Therapie und Verlauf In den Wochen nach der Operation zeigte sich nach Abschwellung wieder eine seitengleiche Exophthalmometrie. Doppelbilder oder eine Motilitätseinschränkung bestanden nicht (. Abb. 1b). Die Staging-Untersuchungen (Ganzkörper-CT, PET-CT, Lymphknotensonographie des Halses) ergaben keine weiteren Hinweise auf Metastasen (. Abb. 5). Aufgrund der Aggressivität des Tumors und des Vorliegens einer Exzision ohne notwendigen Sicherheitsabstand wurden in einer interdisziplinären Tumorkonferenz 2 Szenarien diskutiert: eine Exenteratio orbitae oder das Anschließen einer adjuvanten Therapie. Aufgrund der anatomisch günstigen Lage mit der Möglichkeit, den Bulbus aus dem Strahlenfeld herauszuhalten, und somit voraussichtlichem Visuserhalt entschieden wir uns – auch auf Wunsch der Patientin hin – zu

Abb. 4 8 Die untersuchte Tränendrüse zeigt histologisch Infiltrate eines solide wachsenden Tumors. a Die Tumorzellen weisen ein spärliches Zytoplasma und vergrößerte ovaläre Zellkerne mit aufgelockertem Kernchromatin auf (HE-Färbung). b Immunhistologisch weisen die Tumorzellen eine charakteristische paranukleäre punktförmige Expression von Zytokeratin 20 auf. c Die Expression von Synaptophysin belegt die neuroendokrine Natur des Karzinoms (Vergr. 400:1)

Abb. 5 9 Staging a FDGPET-CT und b GanzkörperCT mit 2 reaktiv vergrößerten zervikalen Lymphknoten bei Zustand nach Orbitotomie links

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Zusammenfassung · Abstract Tab. 1  Stadieneinteilung des Merkel-Zell-Karzinoms nach American Joint Association 2010 Stadium I II III

Charakterisierung Primärtumor ≤2 cm Primärtumor ≥2 cm Regionale Lymphknotenmetastasen Fernmetastasen

einer stereotaktischen Bestrahlung mit einer Gesamtdosis von 61,6 Gy und einer anschließenden Chemotherapie mit Cisplatin. Die Patientin ist aktuell über den Beobachtungszeitraum von 1,5 Jahren rezidivfrei. Subjektive Beschwerden bestehen nicht.

Diskussion Das Merkel-Zell-Karzinom ist ein seltener maligner Hauttumor, der jedoch in den letzten Jahren eine steigende Inzidenz von 0,4 Neuerkrankungen/100.000 Einwohner pro Jahr verzeichnet [1]. Typischerweise treten diese neuroendokrinen Tumore im Bereich lichtexponierter Haut auf, in 10% auch im Bereich der Lidhaut der Augen, wobei hier differenzialdiagnostisch Basaliome, Chalazien oder Keratoakanthome in Betracht kommen. Als ursächlich wird eine Schädigung durch ultraviolettes Licht vermutet, was das gehäufte Auftreten an lichtexponierten Hautarealen erklärt [2]. Neuere Untersuchungen konnten das Merkel-Zell-Polyomavirus bei 80% der Patienten nachweisen und sehen daher die Infektion mit dem Virus bei gleichzeitigem Vorliegen einer Immunsuppression als ursächlich [3]. Die Stadieneinteilung wurde aktuell nach WHO-Kriterien erneuert und richtet sich nach der Tumorgröße und dem Ausmaß des Lymphknotenbefalls (. Tab. 1). Es existieren keine prospektiven, randomisierten Studien, die eine Therapieempfehlung über dem Evidenzgrad III ableiten ließen. Merkel-Zell-Karzinome gelten dabei als höchst aggressiv durch ein hohes Potenzial für lokale Rezidive und die frühe Ausbreitung in den Lymphknoten und Ausbildung von Fernmetastasen. Erstes Ziel ist die möglichst komplette chirurgische Exzision mit 3 cm Sicherheitsabstand. Der Vorteil einer Sentinellym-

TNM-analog cT1 cN0 cM0 cT2 cN0 cM0 cTx xN1 cM0 cTx cNx CM1

5-Jahres-Überleben (%) 70 23 5

phknotenbiopsie wird kontrovers diskutiert, da auch bei fehlendem Lymphknotenbefall nach neuen Erkenntnissen aufgrund der hohen Strahlensensibilität eine adjuvante Strahlentherapie angeschlossen werden sollte. Dies bewirkt eine Minimierung der Rezidivrate mit besserem Outcome. Bei Befall lokoregionärer Lymphknoten erweitert sich dieses Vorgehen um eine Lymphknotenexzision. Die Wirksamkeit einer adjuvanten Chemotherapie ist nicht eindeutig belegt und sollte Einzelfällen vorbehalten bleiben. Das übliche Schema beinhaltet Cisplatin oder Carboplatin mit oder ohne Etopsid [4]. Bei Vorliegen von Fernmetastasen, wird meist ein individualisiertes, multimodales Therapiekonzept erforderlich. In neueren Studien wird auch die Anwendung von Biologika und immunmodulatorischen Verfahren untersucht [5, 6]. Da bei unserer Patientin zur Durchführung einer R0-Resektion eine Exenteratio notwendig gewesen wäre, entschieden wir uns primär mit der Patientin dagegen und schlossen eine adjuvante Strahlen- und Chemotherapie an. Aufgrund der Aggressivität des Tumors liegt die 5-Jahres-Überlebensrate stadienabhängig nur bei etwa 65%. Innerhalb der ersten 2 Jahre liegt die Rate regionären Lymphknotenbefalls bei bis zu 90% und die der Fernmetastasen bei ca. 50% [7]. Hauptrisikofaktor diesbezüglich scheinen weder Größe, Lokalisation noch Alter der Patienten, sondern die Therapie mittels alleiniger Resektion zu sein [8]. Das Vorliegen eines Merkel-Zell-Karzinoms im Bereich der Tränendrüse ist bis dato eine höchst ungewöhnliche Lokalisation, und es existieren lediglich 2 weitere Fallberichte in der Literatur [9]. Weiterhin nur in Einzelberichten sind metastatische Absiedlungen von Merkel-Zell-Karzinomen in der Choroidea oder dem Ziliarkörper erwähnt [10]. In den 2 publizierten Fällen lagen bei Erstdiagnose keine Fernmetastasen vor, und die Patienten blie-

Ophthalmologe 2014 · 111:1073–1076 DOI 10.1007/s00347-014-3066-4 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 A. Rübsam · K. Erb-Eigner · P. Lohneis · E. Bertelmann

Ungewöhnliche Ursache einer orbitalen Raumforderung Zusammenfassung Falldarstellung.  Eine 54-jährige Patientin stellte sich mit einer seit 6 Monaten bestehenden, progredienten Oberlidschwellung mit magnettomographischer Lokalisation extrakonal superotemporal in der Orbita, deren Biopsie ein Merkel-Zell-Karzinom in der Glandula lacrimalis ergab, vor. Verlauf.  Nach erfolgter adjuvanter Radiound Chemotherapie ist sie seit 1,5 Jahren rezidivfrei. Schlussfolgerung.  Das Merkel-Zell-Karzinom ist ein seltener neuroendokriner Tumor lichtexponierter Haut, in 10% auch im Bereich der Augen. Das Vorliegen eines Merkel-Zell-Karzinoms in der Glandula lacrimalis gilt als höchst selten mit 2 weiteren berichteten Fällen. Schlüsselwörter Merkel-Zell-Karzinom · Glandula lacrimalis · Chemotherapie · Radiotherapie · Orbita

Unusual cause of orbital mass Abstract Case report.  A 54-year-old female presented with a progressive swelling of the upper eyelid since 6 months. Magnetic resonance imaging (MRI) showed an extraconal supratemporal orbital lesion. After resection the histopathological diagnosis confirmed a Merkel cell carcinoma in the lacrimal gland. Clinical course.  Due to an incomplete resection the patient underwent adjuvant radiochemotherapy and is relapse-free for 1.5 years. Conclusion.  Merkel cell carcinoma (MCC) is a rare neuroendocrine tumor, usually occurring on sun-exposed skin and in 10% in the region of the eyelids. The occurrence of MCC in the lacrimal gland is even less common with only two published cases. Keywords Merkel cell carcinoma · Lacrimal gland · Chemotherapy · Radiotherapy · Orbit

ben nach Abschluss der Behandlung rezidivfrei. Als ursächlich für diese gutartigen Verläufe halten wir die exponierte Lage mit früher Diagnosesicherung und die, wie bereits beschrieben, günstige Lage für Der Ophthalmologe 11 · 2014 

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Fachnachrichten eine hoch dosierte Radiotherapie mit gut möglicher Schonung des Bulbus. Ob die Tumorlokalisation in der Tränendrüse generell eine günstigere Prognose aufweist, kann jedoch erst nach Zusammentragen weiterer Fälle sicher geklärt werden.

Fazit für die Praxis F Das Merkel-Zell-Karzinom ist als seltene Ursache einer orbitalen Raumforderung in Betracht zu ziehen. F Die Diagnose eines Merkel-Zell-Karzinoms ist nur histologisch zu sichern. F Die im Vorfeld angefertigte Bildgebung dient der Evaluation der Ausdehnung und Planung der Biopsie. F Neben einer vollständigen Resektion ist eine adjuvante Therapie ratsam, da häufig Rezidive nach alleiniger Resektion auftreten. F Die Manifestation in der Tränendrüse scheint dabei eine günstigere Prognose zu haben.

Korrespondenzadresse Dr. A. Rübsam Klinik für Augenheilkunde, Charité Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow-Klinikum Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  A. Rübsam, K. Erb-Eigner, P. Lohneis und E. Bertelmann geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.     Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

Literatur   1. Goessling W, Mckee PH, Mayer RJ (2002) Merkel cell carcinoma. J Clin Oncol 20:588–598   2. Heath M, Jaimes N, Lemos B et al (2008) Clinical characteristics of Merkel cell carcinoma at diagnosis in 195 patients: the AEIOU features. J Am Acad Dermatol 58:375–381   3. Feng H, Shuda M, Chang Y et al (2008) Clonal integration of a polyomavirus in human Merkel cell carcinoma. Science 319:1096–1100   4. Voog E, Biron P, Martin JP et al (1999) Chemotherapy for patients with locally advanced or metastatic Merkel cell carcinoma. Cancer 85:2589–2595   5. Samlowski WE, Moon J, Tuthill RJ et al (2010) A phase II trial of imatinib mesylate in merkel cell carcinoma (neuroendocrine carcinoma of the skin): a Southwest Oncology Group study (S0331). Am J Clin Oncol 33:495–499

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  6. Shah MH, Varker KA, Collamore M et al (2009) G3139 (Genasense) in patients with advanced Merkel cell carcinoma. Am J Clin Oncol 32:174–179   7. Pectasides D, Pectasides M, Economopoulos T (2006) Merkel cell cancer of the skin. Ann Oncol 17:1489–1495   8. Peters GB III, Meyer DR, Shields JA et al (2001) Management and prognosis of Merkel cell carcinoma of the eyelid. Ophthalmology 108:1575–1579   9. Gess AJ, Silkiss RZ (2012) A Merkel cell carcinoma of the lacrimal gland. Ophthal Plast Reconstr Surg 28:e11–e13 10. Kirwan C, Carney D, O’keefe M (2009) Merkel cell carcinoma metastasis to the iris in a 23 year old female. Ir Med J 102:53–54

Schon ein Bier verschlechtert die Nachtsicht Dass schon geringe Mengen Alkohol den Sehsinn „vernebeln“ wurde jetzt wissenschaftlich belegt: Das in alkoholischen Getränken enthaltene Ethanol stört den natürlichen Tränenfilm des Auges, so eine spanische Studie. Dies verschlechtert das Sehvermögen bei Nacht und erhöht die Licht- und Blendempfindlichkeit. Wissenschaftler der Universität Granada testeten Kontrastsehen und Blendempfindlichkeit von 67 Probanden vor und nach dem Verzehr unterschiedlicher Mengen Rotwein. Alle Teilnehmer schnitten nach Alkoholkonsum im Sehtest deutlich schlechter ab als im nüchternen Zustand. Schuld daran sei, so die Autoren der Studie, das im Alkohol enthaltene Ethanol. Es löst die äußere, leicht fettige Schicht des Tränenfilms auf, der das Auge bedeckt. Dadurch verdunsten die wässrigen Bestandteile der Tränenflüssigkeit. Die Folge ist, dass ein alkoholisierter Fahrer Kontraste schlechter erkennt und empfindlicher auf Licht reagiert. Dieser Effekt zeigt sich verstärkt ab einer Blutalkoholkonzentration von 0,5 Promille. Aber auch Probanden, deren Werte unterhalb der gesetzlichen Höchstgrenze lagen, sahen Kontraste schlechter und nahmen vermehrt Lichtschleier wahr. Alkoholische Getränke beeinträchtigen also nicht nur generell das Reaktionsvermögen des Fahrers, sondern wirken auch direkt auf die Augen. Dieses Ergebnis stützt nur einmal mehr die Empfehlung, sich alkoholisiert gar nicht erst hinters Steuer zu setzen. Originalpublikation: Castro J, Pozo AM et al., Retinal-Image ­Quality and Night Vision Performance after Alcohol Consumption, Journal of Ophthalmology Volume 2014 (2014), DOI:10.1155/2014/704823 Quelle: Deutsche Ophthalmologische ­Gesellschaft (www.dog.org)

[Unusual cause of orbital mass].

A 54-year-old female presented with a progressive swelling of the upper eyelid since 6 months. Magnetic resonance imaging (MRI) showed an extraconal s...
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