Leserbriefe Med Klin Intensivmed Notfmed 2016 · 111:134–135 DOI 10.1007/s00063-015-0132-x Online publiziert: 16. Februar 2016 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

C.H. Nickel1 · F.F. Grossmann1 · M. Christ2 · R. Bingisser1 1 Notfallzentrum, Universitätsspital Basel, Basel, Schweiz 2 Universitätsklinik für Notfallmedizin und Internistische Intensivmedizin,

Paracelsus Medizinische Privatuniversität, Klinikum Nürnberg, Nürnberg, Deutschland

Triage: ESI oder Manchester Triage? Leserbrief zu J Krey (2015) Klinische Ersteinschätzung in der Notaufnahme. Vergleichende Evaluation 4 international bestehender Triagesysteme. Med Klin Intensivmed Notfmed. doi:10.1007/ s00063-015-0069-0

Kommentar Dem Autor sei gedankt, dass er sich dem wichtigen Thema Triage in den Notaufnahmen angenommen hat. Die Wertung allerdings, dass für Deutschland der Emergency Severity Index (ESI) ungeeignet sei, halten wir für falsch, unhaltbar und einem groben Bias unterliegend. Die Annahme, dass die personellen Voraussetzungen in Deutschland – aufgrund der unzureichenden Ausbildung, wie der Autor suggeriert – für die Anwendung des Manchester Triage System (MTS) sprächen, ist falsch. Die Empfehlung der Emergency Nurses Association (ENA) gilt gleichermaßen für alle Triagesysteme und fordert, mit der Triage erfahrene Pflegende zu betrauen [1]. Die vermeintliche Sicherheit, die sich bei der Triage mit dem MTS ergibt, soll anhand zweier Beispiele infrage gestellt werden. 1. Im Thoraxschmerzalgorithmus des MTS wird vom „Ersteinschätzer“ verlangt, zwischen „Pleuraschmerz“ und „kardialem Schmerz“ zu differenzieren, was zu einer unterschiedlichen Triagekategorie führt. Eine Risikostratifizierung ausschließlich aufgrund der Anamnese – wie im MTS gefordert – ist jedoch fehleranfällig: Für die typische Symptomatik bei akutem Myokardinfarkt wird ein fast 3-mal besseres Überleben prognostiziert als für die atypische

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Präsentation, die in bis zu 45 % der Fälle vorliegt [2]. Die Qualität von Thoraxschmerzen erlaubt deshalb keine Abschätzung bezüglich des Vorliegens eines Myokardinfarkts oder des Auftretens von Komplikationen [3]. Aus dem Vorliegen von typischen bzw. atypischen Beschwerden lassen sich keine verlässlichen Hinweise für das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines akuten Myokardinfarkts ableiten[4]. Während das MTS also ohne gute wissenschaftliche Basis je nach Präsentation unterschiedliche Triagekategorien vorschlägt, wird im ESI-Algorithmus der Thoraxschmerz als Hochrisikosituation eingestuft (ESI 2) und im Handbuch die Schwierigkeit bei der klinischen Abschätzung explizit dargestellt. 2. Für unspezifische Symptome, die zu den 5 häufigsten Präsentationsarten auf Notfallstationen (bei hoher Mortalität) gehören [5], wird im MTS kein Algorithmus vorgeschlagen; allenfalls könnte der Algorithmus „Unwohlsein bei Erwachsenen“ zur Anwendung kommen. Dieser birgt jedoch durch die Begrenzung auf 12 spezifische „spezielle Indikatoren“ ein hohes Risiko für eine systematische Untertriage. Es ist uns unklar, wie diese Patienten, deren Beurteilung äußerst schwierig ist und deren zugrunde liegendes Krankheitsspektrum zwischen trivial und akut lebensbedrohlich liegt [6], anhand des MTS kategorisiert werden sollen. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass in der aktuellen 3. deutschen Auflage des MTS aus dem Jahr 2011 noch kein „Schlaganfallalgorithmus“ vorliegt.

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Die deutsche Version des MTS wurde zwischenzeitlich auf Reliabilität und Validität untersucht [7]. Obwohl einige Befunde dieser exzellenten Studie kritisch diskutiert werden müssen (Krankenhaussterblichkeit in der Kategorie Rot niedriger als in Orange; beachtliche Sterblichkeit in niedrigen Triagekategorien Blau und Grün [7]), lassen die derzeit vorliegenden Studien keine Wertung zu, ein Triagesystem in den deutschsprachigen Ländern zu bevorzugen. Zusammenfassend möchten wir vorschlagen, die 2 Triagesysteme wie 2 diagnostische Tests zu behandeln, die nie direkt miteinander verglichen worden sind. Man kann die Stärken und Schwächen erwähnen – sollte aber die Evidenz nicht außer Acht lassen. Hier hat der ESI eine ausgezeichnete Validität [8] – z. B. bei der Prognose der Sterblichkeit und des Ressourcenverbrauchs, auch für geriatrische Patienten [9] – und geht nicht von wissenschaftlich unhaltbaren Vorurteilen aus (wie z. B. bei der Triage von Thoraxschmerzen). Das offensichtliche Bias zugunsten des MTS halten wir aus den genannten Gründen für problematisch. Die Wertung von verschiedenen Instrumenten, die bezüglich ihres Versorgungsergebnisses wahrscheinlich vergleichbar sind, ist unhaltbar.

Korrespondenzadresse PD Dr. C.H. Nickel Notfallzentrum, Universitätsspital Basel Petersgraben 2, 4031 Basel [email protected]

Interessenkonflikt.  C.H. Nickel, R. Bingisser und M. Christ geben an, dass kein Interessenkonflikt in Bezug auf diesen Artikel besteht. F.F. Grossmann bietet ESI-Anwenderschulungen auf Honorarbasis an.

Literatur 1 Emergency Nurses Association (2011) Triage qualifications. https://www.ena.org/ SiteCollectionDocuments/Position%20Statements/TriageQualifications.pdf. Zugegriffen: 15. Jan. 2016 2. Canto JG, Rogers WJ, Goldberg RJ, Peterson ED, Wenger NK, Vaccarino V et al (2012) Association of age and sex with myocardial infarction symptom presentation and in-hospital mortality. JAMA 307(8):813–822. doi:10.1001/jama.2012.199 3. Body R, Carley S, Wibberley C, McDowell G, Ferguson J, Mackway-Jones K (2010) The value of symptoms and signs in the emergent diagnosis of acute coronary syndromes. Resuscitation 81(3):281–286. doi:10.1016/j.resuscitati on.2009.11.014 4. Greenslade JH, Cullen L, Parsonage W, Reid CM, Body R, Richards M et al (2012) Examining the signs and symptoms experienced by individuals with suspected acute coronary syndrome in the Asia-Pacific region: a prospective observational study. Ann Emerg Med 60(6):777–785 e3. doi:10.1016/j.annemergmed.2012.05.008 5. Safwenberg U, Terent A, Lind L (2007) The emergency department presenting complaint as predictor of in-hospital fatality. Eur J Emerg Med 14(6):324–331. pii:00063110-200712000-00003. doi:10.1097/MEJ.0b013e32827b14dd 6. Karakoumis J, Nickel CH, Kirsch M, Rohacek M, Geigy N, Muller B et al (2015) Emergency presentations with nonspecific complaintsthe burden of morbidity and the spectrum of underlying disease: nonspecific complaints and underlying disease. Medicine (Baltimore) 94(26):e840. doi:10.1097/MD.0000000000000840 7. Graff I, Goldschmidt B, Glien P, Bogdanow M, Fimmers R, Hoeft A et al (2014) The German Version of the Manchester Triage System and its quality criteria–first assessment of validity and reliability. PLoS One 9(2):e88995. doi:10.1371/ journal.pone.0088995 8. Grossmann FF, Nickel CH, Christ M, Schneider K, Spirig R, Bingisser R (2011) Transporting clinical tools to new settings: cultural adaptation and validation of the emergency severity index in german. Ann Emerg Med 57(3):257–264. pii:S0196-0644(10)01251-5. doi:10.1016/j. annemergmed.2010.07.021 9. Grossmann FF, Zumbrunn T, Frauchiger A, Delport K, Bingisser R, Nickel CH (2012) At risk of undertriage? Testing the performance and accuracy of the emergency severity index in elderly ED patients. Ann Emerg Med 60(3):317– 325

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