Leitthema Urologe 2015 DOI 10.1007/s00120-014-3682-2 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

C. Frohme · R. Hofmann Klinik für Urologie & Kinderurologie, Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort Marburg, Philipps-Universität Marburg, Marburg

Behandlung der weiblichen Belastungsinkontinenz Stellenwert klassischer Inkontinenzoperationen

Über 200 operative Verfahren zur Behandlung der weiblichen Belastungsinkontinenz wurden seit der ersten Beschreibung einer Inkontinenzoperation von Baker-Brown im Jahre 1864 in der Literatur geschildert. Ein operativer Eingriff wird dann empfohlen, wenn konservative Maßnahmen nicht zu einer zufriedenstellenden Kontinenz geführt haben bzw. die Fortsetzung nicht-invasiver Maßnahmen keine ausreichende oder weitere Symptomenverbesserung erwarten lässt. Grundsätzlich können bei der operativen Therapie der Belastungsinkontinenz der Frau vier Vorgehensweisen unterschieden werden: ein retropubisches Vorgehen zur Blasenhalssuspension, wie die Operationsverfahren nach Burch oder MarshallMarchetti-Krantz, ein vaginales Vorgehen wie die anteriore Kolporrhaphie und die mitturethrale Schlingensuspensionen, kombiniert vaginal-suprapubische Vorgehen, wie Nadelsuspensionsplastiken und Faszienzügelplastik, sowie periurethrale Injektionen und die Implantation eines artifiziellen Sphinkters. Die Faszienzügelplastik und die Kolposuspensionsplastik nach Burch galten bis Mitte der 1990er Jahre als Standardoperationen. Neue operative Verfahren wurden mit diesen Operationstechniken bezüglich Heilungsrate und Langzeitergebnissen verglichen.

Ziel der operativen Inkontinenztherapie war in erster Linie die Rekonstruktion anatomischer Defekte mit dem Ziel einer funktionellen Restitution, welches jedoch nicht immer gleichzusetzen war. Mit der Einführung der Integraltheorie [1, 2] und der neuen funktionellen Sicht auf die Ursachen der weiblichen Belastungsinkontinenz kam es zur Entwicklung der mittbzw. suburethralen vaginalen Schlingen. Ziel dieser operativen Technik war nun, die insuffizienten pubourethralen Bänder zu ersetzen und eine Stabilisierung der mittleren Harnröhre unter Belastung zu gewähren [2, 3]. Seither werden die unterschiedlichen, retropubischen und transobturatorischen, spannungsfreien Schlingen als neuer Goldstandard der heutigen Inkontinenzchirurgie angesehen. Doch welchen Stellenwert besitzen klassische Verfahren zum heutigen Zeitpunkt noch?

wiederherzustellen. Über einen kombinierten abdominellen und vaginalen Zugangsweg werden beiderseits Faszienzügel aus körpereigenem Material (Rektusaponeurose, Aponeurose des M. obliquus externus, Fascia lata) präpariert, an der Hinterfläche des Os pubis nach paraurethral gezogen und so um den Blasenhals gelegt. Dadurch wird der Blasenhals leicht angehoben und unterstützt. Elementar für dieses Verfahren ist die Anlage der adäquaten Schlingenspannung, die wesentlich in der Folge über Wirkungslosigkeit oder aber Überkorrektur mit Miktionsbeschwerden entscheidet [4]. In der zu diesem Verfahren vorliegenden Literatur werden Komplikationsraten zwischen 3 und 20% beschrieben. Bauch-

Klassische Methoden Faszienzügelplastik Die Faszienzügelplastik war eines der ersten funktionellen Verfahren zur Behandlung der Belastungsharninkontinenz. Das Prinzip der Operation besteht darin, die Aufhängung der Scheide im kleinen Becken durch Korrektur der Senkung des vaginalen mittleren Kompartiments mittels Fixation der Scheide von abdominal über zwei lateral gestielte Faszienzügelstreifen

Abb. 1 8 Paraurethrale Präparation. (Nach [9]) Der Urologe 2015 

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Leitthema wandhernien kommen hierbei mit bis zu 20%, sekundäre Komplikationen wie die Ausbildung einer Rekto- oder Enterozele mit bis zu 10% am häufigsten vor. Erneute Scheidenstumpfsenkungen und Harninkontinenz werden mit 7 bzw. 3% angegeben. Die Kontinenzraten zeigen im Langzeitverlauf eine große Spannbreite (43– 90%) und sind im Vergleich zu alternativen Verfahren (Kolposuspension) häufiger mit dem Auftreten von postoperativen Drangbeschwerden oder Harnretention assoziiert [5, 6].

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Die Verwendung synthetischer Schlingen führt zu kürzeren Operationszeiten und niedrigeren Komplikationsraten

Abb. 2 9 a Anbringen der Kolposuspensionsfaden (Insert) und b nachfolgend Knoten der Faden. (Nach [9])

Abb. 3 9 Kolposuspension nach MarshallMarchetti-Krantz

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Die aktuellen EAU-Guidelines („European Association of Urology“) führen an, dass Faszienschlingenplastiken und Kolposuspensionen eine ähnliche Heilungsrate nach 1 Jahr aufweisen [7, 8]. Kolposuspensionen bargen im Vergleich ein geringeres Risiko für postoperative Blasenentleerungsstörungen und Harnwegsinfekte, aber ein höheres Risiko für Blasenperforationen. Im Vergleich von autologen Faszienschlingen zu synthetischen mitturethralen Schlingen zeigten die Verfahren ähnliche Wirksamkeit. Jedoch führt die Verwendung der synthetischen Schlingen zu kürzeren Operationszeiten und niedrigeren Komplikationsraten, einschließlich Blasenentleerungsstörungen. Weitere Studien verglichen autologe Faszienschlingen mit anderen Materialien unterschiedlicher Herkunft, mit dem Ergebnis, dass traditionelle autologe Faszienschlingen zu favourisieren sind. In der gynäkologischen Chirurgie zur Therapie der Senkung des mittleren vaginalen Kompartiments findet die Faszienzügelplastik zur Behandlung der Vaginalstumpfsenkung, insbesondre bei voroperierten Patientinnen, weiterhin Anwendung. Insgesamt muss dem Verfahren, aktuellen Publikationen folgend, heute lediglich ein historischer Stellenwert beigemessen werden, da letztendlich individuell weniger herausfordernde Techniken eine breitere Anwendung gefunden haben.

Zusammenfassung · Abstract

Kolposuspension Methode nach Burch Die Kolposuspension nach Burch hat ihre Indikation bei hypermobiler proximaler Urethra und Blasenhals. Der suprapubische Zugang kann über eine Quer- oder Längslaparotomie erfolgen. Das paraurethrale Gewebe und die Vaginalfaszie müssen eindeutig identifiziert und dargestellt werden, eine Präparation ventral der Urethra sollte vermieden werden. Die vordere Scheidenwand wird paraurethral angehoben und mit einer weitgehend spannungsfreien Nahtreihe am Lig. iliopectineum (Cooper-Ligament) fixiert. Die Suspension der Harnröhre und die erhöhte Stabilität der Blasenhalsregion führen dann zu einer verbesserten Drucktransmission (. Abb. 1, 2, [9]).

Methode nach Marshall-Marchetti-Krantz Der Zugang, die Präparation und das Legen der nicht oder spät resorbierbaren Fäden in der Vaginalwand im Bereich lateral des Blasenhalses entsprechen der BurchMethode. Allerdings wird die anteriore Vaginalwand hier zusätzlich digital symphysenwärts mobilisiert. An der Stelle der besten Annäherung zwischen Blasenhals und Rückwand der Symphyse werden die Suspensionsfäden durch Periost und Knorpel der Symphysenrückwand gestochen (. Abb. 3). Das Knüpfen approximiert dann den Blasenhals der Symphysenrückwand. Die Methode nach Burch ist verbreiteter, auch weil eine Manipulation direkt am Periost vermieden wird, die Suspensionsfäden weiter von der Harnröhre distanziert sind und die Fixation an das Cooper-Ligament stabiler als an das Periost ist [9]. Es existieren weitere Modifikationen nach Cowan und Hirsch. Des Weiteren können die Verfahren auch in verschiedenen laparoskopischen Techniken durchgeführt werden (. Abb. 4). Daraus ergibt sich aber auch eine Heterogenität hinsichtlich der publizierten Daten. Die abdominale Kolposuspension ist bei korrekter Indikationsstellung mit einer hohen Erfolgsrate versehen. Sie beträgt

90% nach 1 Jahr bzw. 70% nach 10 Jahren. Modifikationen des Zugangs, nicht zuletzt die Laparoskopie (trans- oder extraperitoneal), führten zu einer kontinuierlichen Reduktion perioperativer Komplikationen wie Blasenverletzungen, Hämatome und Wundheilungsstörungen auf 5–10%. Blasenentleerungsstörungen, insbesondere neu auftretende Drangsymptome, sind selten zu beobachten [5, 10]. Der Vergleich zwischen offener und laparoskopischer Kolposuspenison zeigt allerdings sowohl in der subjektiven wie auch der objektivierten Beurteilung widersprechende Ergebnisse. Im Einzelnen sind über einen längeren Beobachtungszeitraum die objektiven Ergebnisse bei der offenen Operation bis zu 10% besser. In der subjektiven Wahrnehmung liefern beide Verfahren vergleichbare Ergebnisse, so dass die Methodik entsprechend der Fähigkeiten des Operateurs und im Rahmen des Gesamtkonzepts zu wählen ist.

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Die abdominale Kolposuspension ist bei korrekter Indikationsstellung mit einer hohen Erfolgsrate versehen Im Zuge der Entwicklung suburethraler alloplastischer Schlingen hat die Kolposuspension ihren Stellenwert als Referenzmethode verloren. Dies ist weniger einer geringeren Effektivität als vielmehr dem reduzierten operativen Trauma sowie der unkomplizierten Anwendung und schnellen Rekonvaleszenz geschuldet [11]. Eine Sonderstellung nimmt die modifizierte Kolposuspension dennoch im Rahmen der komplexen offenen respektive laparoskopischen Deszensuschirurgie ein. Hier kann das kombinierte Vorgehen bei Frauen, die gleichzeitig eine Sakrokolpopexie erhalten, zu signifikant besseren postoperativen Kontinenzraten führen. Kontroverse Ergebnisse ähnlicher Studien verhindern jedoch eine klare Therapieempfehlung [12, 13]. Eine Cochrane-Analyse von 2012 [6] enthält 53 Studien (5244 Frauen) zur offenen Kolposuspension. In den meisten dieser Studien wurde die offene Kolposuspension als Standard in Vergleich mit einem zu testenden, experimentellen Verfahren verwendet. Hier zeigt sich zusam-

Urologe 2015 · [jvn]:[afp]–[alp] DOI 10.1007/s00120-014-3682-2 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 C. Frohme · R. Hofmann

Behandlung der weiblichen Belastungsinkontinenz. Stellenwert klassischer Inkontinenzoperationen Zusammenfassung Hintergrund.  Faszienzügelplastiken und die Kolposuspensionsplastiken galten bis Mitte der 1990er Jahre als Standardoperationen in der Therapie der Belastungsinkontinenz der Frau. Neue operative Verfahren wurden mit diesen Operationstechniken bezüglich Heilungsrate und Langzeitergebnissen verglichen. Ergebnisse.  Während die Faszienzügelplastik heute nur noch einen historischen Stellenwert einnimmt, wurde auch die Kolposuspension, trotz teils vergleichbarer Ergebnisse, durch die spannungsfreien Bänder als neuer Goldstandard abgelöst. Dies ist weniger einer geringeren Effektivität als vielmehr einem geringeren operativen Trauma, einer unkomplizierten Anwendung und schnellen Rekonvaleszenz geschuldet. Insbesondere aber im Rezidivfall und in der kombinierten Therapie des Deszensus bzw. Prolaps kann die Kolposuspension weiterhin ihre Anwendung finden. Schlüsselwörter Kolposuspension · Faszienzügelplastik · Therapie, operative · Prolaps · Harnröhrenband

Treatment of female stress urinary incontinence. Value of classical incontinence operations Abstract Background.  Fascial sling and the colposuspension were considered standard operations in the therapy of female stress urinary incontinence until the mid-1990s. New surgical procedures were compared with these techniques in regard to cure rate and longterm results. Results.  Nowadays fascial slings are rarely performed. Colposuspension – despite comparable results – was replaced by tensionfree tapes as the new gold standard. This is not due to lower efficacy, but predominantly due to reduced surgical trauma, simple use, and rapid convalescence. However, in cases of recurrence and the combined treatment of prolapse, colposuspension is still used. Keywords Colposuspension · Fascial sling · Surgical therapy · Prolapse · Urethral slings Der Urologe 2015 

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Abb. 4 8 Laparoskopische Techniken: a Laparoskopischer transperitonealer Zugang zum Spatium Retzii. b Präparation im Spatium Retzii. c Endoskopisches Anbringen der Kolposuspensionsfaden entsprechen der Methode nach Burch. d Situs nach extrakorporalem Knoten der Kolposuspensionsfaden. e Präperitonealer laparoskopischer Zugang zum Spatium Retzii. (Nach [9])

menfassend, dass innerhalb des ersten Jahres vollständige Kontinenzraten von ca. 85–90% für die offene Kolposuspension erreicht wurden, während sich durchschnittliche Rezidivraten von 20% innerhalb der ersten 5 Jahre und von 21% über 5 Jahre hinaus fanden. Die Reoperationsrate aufgrund einer erneuten Harninkontinenz betrug 2%. Der Vergleich von retropubischen Schlingenplastiken mit offenen und laparoskopischen Kolposuspensionen zeigte nach 12 (3–16) Monaten keinen Unterschied hinsichtlich der Heilungsraten. Die Heilungsrate im Gesamten betrug 75%. Postoperative Blasenentleerungsstörungen fanden sich häufiger nach Kolposuspensionen, während es im Rahmen der mitturethralen Schlingen häufiger zu Blasenverletzungen bzw. -perforationen kam [7]. Im Vergleich zu spannungsfreien vaginalen Bändern geht die Kolposuspension innerhalb der ersten 5 Jahre mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung einer Entero-

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zele/eines Zervikalprolapses mit 42% und einer Rektozele 49% (im Vergleich 23% und 32%) einher. Die Rate der neu auftretenden Zystozelen war für die Kolposuspension mit 37% geringer (41%). Sieben Studien verglichen die offene Kolposuspension mit Nadelsuspensionsplastiken. Es zeigten sich vergleichbar Erfolgsraten mit 85–90%. Im Vergleich von laparoskopischer Kolposuspension mit mitturethralen Schlingenplastiken finden sich für die subjektiven Heilungsraten keine signifikanten Unterschiede, während die objektive Heilungsrate nach 18 Monaten einen Vorteil für die mitturethralen Schlingen zeigte. Die Komplikationsraten waren wiederum vergleichbar, die Operationszeiten für die Schlingen kürzer.

Stellenwert in der Rezidivsituation Die berichteten Rezidivraten für die verschiedenen operativen Verfahren fallen mit 5–80% sehr unterschiedlich aus, was nicht zuletzt an der jeweiligen Definition des therapeutischen Fehlschlags liegt (. Tab. 1). Selbst bei einer sehr engen Definition bedeutet dies, dass von den vielen Tausenden von Frauen, die sich einer Operation unterziehen, prinzipiell Hunderte später eine erneute Therapie bzw. eine weitere Operation aufgrund wiederkehrender Symptome benötigen. So werden innerhalb von 10 Jahren 8–17% der Frauen, die bereits eine chirurgische Inkontinenztherapie erhalten haben, erneut operiert [14]. Bänder haben bei der Therapie der persistierenden bzw. rezidivierenden Belastungsinkontinenz geringere Erfolgsraten (48–68%) als bei der primären Therapie (82%, [15, 16]). In einem Kollektiv, in dem die Kolposuspension zur in-

Tab. 1  Studien und Erfolgsraten zum Einsatz der Kolposuspension bei Frauen mit einer per-

sistierenden bzw. rezidivierenden Belastungsharninkontinenz Studie

Nitahara et al. [18] Sharifiaghdas u. Mortazavi [17] Albo et al. [5]

Primäres Operationsverfahren (% der Patientinnen des untersuchten Kollektivs) Kolposuspension (100,0) Nicht spezifizierte Eingriffe (40,0)

Sekundäres Operationsverfahren

Followup (Monate)

Erfolgsrate (%)

Definition des Erfolgs und Art der Erfolgsmessung

Kolposuspension TVT, pubovaginale Schlinge

k.A.

69,0

Fragebögen

40,0

TVT: 76,0, pubovaginale Schlinge: 75,0

Nicht spezifizierte Eingriffe (15,0)

Autologe Schlinge, Kolposuspension

14,0

≤2 g Urinverlust 1-h-Vorlagentest

[Treatment of female stress urinary incontinence. Value of classical incontinence operations].

Fascial sling and the colposuspension were considered standard operations in the therapy of female stress urinary incontinence until the mid-1990s. Ne...
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