Altenkirch, Mager: Toxische Polyneuropathien durch Schnüffeln von Pattex-Verdünner

'95

Dtsch. med. Wsdir. 101 (1976), 195-198 © Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Toxische Polyneuropathien durch Schnüffeln von Pattex -Verdünner H. Altenkirch und J. Mager Neurologisdse Klinik und Poliklinik im Klinikum Steglitz der Freien Universität Berlin (Prof. Dr. H. Schliack)

Bei vier Männern im Alter zwischen 16 und 19 Jahren, die drei bis sieben Jahre lang fast täglich Pattex-Verdünnungsmittel geschnüffelt hatten, entwickelten sich ausgeprägte Polyneuropathien; sie mußten nahezu gleichzeitig hospitalisiert werden. In allen Fällen bestand ein einheitliches neurologisches Syndrom ähnlich einer Landry-Paralyse mit progressiven, aszendierenden, symmetrisch angeordneten Paresen. Die motorischen Ausfälle und Atrophien betrafen schwerpunktmäßig die unteren Extremitäten. Die sensiblen Störungen waren nur diskret ausgeprägt. Das Krankheitsbild zeigt auffallende Ähnlichkeit mit der in den USA und Japan beschriebenen »glue-sniffing neuropathy«, die auf n-Hexan zurückgeführt wird.

Toxic polyneuropathy after sniffing contact glue thinner Four men aged 16 to 19 years who had sniffed contact glue (»Pattexe) thinner almost daily for 3 to 7 years developed a pronounced polyneuropathy. They had to be admitted nearly at the same time. A uniform neurological syndrome similar to Landry's paralysis with progressive ascending symmetrical pareses had developed. Motor deficiencies and atrophies affected the lower extremities more frequently and more severely. Only minimal sensory disturbances were found. The disease shows remarkable similarity to the '>glue-sniffing neuropathy« described in the US and Japan which is attributed to n-hexane.

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Nr. 6, 6. Februar 1976, 101. Jg.

Altenkirch, Mager: Toxische Polyneuropathien durch Schnüffeln von Pattex-Verdünner

Seit längerer Zeit ist in den meisten Industrienationen eine Sonderform jugendlichen Drogenmißbrauches bekannt, das Schnüffeln (»sniffing«). Man versteht darunter die Inhalation von organischen Lösungsmitteln, Kiebstoffen und Aerosolen zum Zwecke der Bewußtseinsveränderung und Euphorisierung. In den USA um 1959, in Japan und Skandinavien ab Mitte der siebziger Jahre und in West-Berlin etwa ab 1969 breitete sich eine Welle der Schnüffelsucht aus, die jeweils regional ge-

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Kasuistik Fall 1: Ein jetzt l9jähriger Mann schnüffelte nach eigenen Angaben seit sieben Jahren Pattex-Verdünner, davon etwa fünf Jahre durchgehend mit einem täglichen Verbrauch zwischen einem halben und einem Liter. Erst in den Ieteten beiden Monaten hatte der Konsum stark nachgelassen, da er das Mittel nicht mehr so gut vertrug. Eine Woche vor der Aufnahme bekam er Zahnschmerzen, nahm mehrere

Schmerztabletten und schnüffelte sich mit der üblichen Portion Pattex-Verdünner in den Schlaf. Am nächsten Morgen bemerkte er eine Kraftlosigkeit beider Beine; insbesondere knickte das rechte Bein im Knie ein, beide Unterschenkel fühlten sich taub an. Nachdem die Lähmungen an den Beinen im Laufe einer Woche weiter

wisse charakteristische Züge in der Bevorzugung der verwendeten industriellen Substanzen trug. So kam es hatten, wurde er durch Vermittlung einer Sozialin Japan und den USA zu dem Phänomen des »glue- zugenommen arbeiterin in ein Krankenhaus eingewiesen und uns in den folgensniffing«, des Schnüffelns von Plastikkiebern, die indu- den Tagen vorgestellt. striell zum Modellbau angeboten werden (2). In NorBefunde: Bei der Aufnahme war der internistische Befund regelwegen wurde das Lösungsmittel Lynol bevorzugt (16). recht. Die neurologische Untersuchung ergab außer einem beiderIn West-Berlin trat, insbesondere im Stadtteil Kreuz- seits unerschöpflichen Horizontalnystagmus mit rotatorischer Kornin Endstellung keine Ausfälle im Bereich der Hirnnerven. berg, ein geradezu endemisch von Straßenzug zu ponente An den Extremitäten fand sich ein Polyneuropathie-Syndrom mit Straßenzug übergreifender Mißbrauch von Pattex-Ver- ausgeprägten motorischen Ausfällen in Form einer schiaffen, proxidünner auf, der sich bald auch auf Schulen und Heime mal betonten Paraparese der Beine und nur geringfügigen sensiblen ausdehnte (14). 1973 wurde hier nach offiziellen Schät-

zungen eine Zahl von 100 bis 200 schwer süchtigen, physisch geschädigten und dringend behandlungsbedürf-

tigen Kindern und Jugendlichen sowie von über 1000 Minderjährigen angenommen, die mindestens phasen-

Störungen im Bereich der Unterschenkel. Bei einer Kontrolle nach einer Woche war das Ausmaß der Ausfälle im wesentlichen unver-

ändert. Nach drei Wochen hatten die Lähmungen zugenommen und auch auf die oberen Extremitäten übergegriffen. Der Kranke, der vorher noch mit zwei Krücken mühsam hatte gehen können, war nun an den Rollstuhl gebunden. Formal fand sich eine schlaffe

weise starken Konsum betrieben. Der Anteil schnüffeln- Tetraparese mit schweren, proximal betonten Paresen und Atroder Beine, die besonders die Iliopsoas-, Gluteal- und Oberder Minderjähriger in Heimen wurde auf 3 bis 5% ge- phien schenkelmuskulatur umfaßten, aber auch die Unterschenkelmuskeln schätzt. unter Bevorzugung der Extensoren betrafen. An den Armen waren Als Folgen der Schnüffelsucht wurde zunächst über die Paresen distal betont und erstreckten sich vorwiegend auf die akute Komplikationen wie plötzliche Todesfälle durch vorn Nervus radjahs versorgte Muskulatur. Urinstatus, Blutsenkungsreaktion, Blutbild, Differentialblutbild, Ersticken, zentrale Atemdepression und Herzstillstand

berichtet (10, 11, 12). Aus den Jahren 1960 bis 1970 wurden allein in den USA von einem Autor 110 Todesfälle von kindlichen Schnüfflern zusammengestellt (1). Mit Sorgen betrachtete man außerdem die sozialpsychiatrischen Folgen, die Verhaltens- und Entwicklungsstörungen der meist ohnehin schon geschädigten oder aus sozial schwachem Milieu stammenden Kinder (11). Dagegen wurde die Frage chronischer Organschädigungen und insbesondere neurotoxischer Folgen lange

Serumelektrolyte, Harnstoff-N, Kreatinin, CK, GOT, GPT, LDH, y-GT, Blutzucker, Gerinnungsstatus, Gesamtlipide, Cholesterin, Phosphatide, Neutralfette, Luesserologie, LE-Zehlen-Test sowie die Vitarnin-B12-Resorption waren im Bereich der Norm. Im Liquor fanden sich nach Zellzahl, Eiweiß und Elektrophorese normale Befunde. Röntgenaufnahmen des Schädels, der Sella und des Thorax, EEG, Hirnszintigramm und Elektrokardiogramm waren unauffällig. Eine augenärztliche Konsiliaruntersuchung, die wegen einer Papillenunschärfe veranlaßt wurde, ergab eine Pseudopapillitis hyperopica. Alle Nervenleitgeschwindigkeiten waren erheblich gesenkt. Im Nadel-F.MG fanden sich in allen untersuchten Muskeln Zeichen

Zeit leichtgenommen Noch 1972 kam man in Nor-

für einen peripher-neurogenen Schaden.

wegens staatlicher Suchtklinik und 1974 im US-Depart-

Fall 2: Ein l9jähriger Hilfsarbeiter hatte seit drei Jahren täglich etwa eine Dose Pattex-Verdünner geschnüffelt. Acht Wochen vor der Aufnahme hörte er jedoch damit auf, weil ihm ein anderer

ment of Health, Education and Welfare zu der OberZeugung, daß auch bei chronischem Mißbrauch Organschäden und toxische Folgen am Nervensystem weitgehend nicht zu befürchten seien (3, 16). 1972 tauchten aber in den USA und in Japan die ersten Falimitteilungen über Polyneuropathien nach Schnüffeln von Modellbauklebstoffen auf (9). Weitere Untersuchungen bestätigten 1974 und 1975 die Vermutung, daß es sich um Polyneuropathien handelte, die in den neurologischen, bioptischen, elektronenoptischen und toxikologischen Befunden weitgehend übereinstimmten (8, 13).

Auch in West-Berlin wurde die Problematik des Pattex-Verdünner-Schnüffelns bisher nur in den akuten Intoxikationsfolgen und den sozialpsychiatrischen Implikationen gesehen. Daß dieser Standpunkt nicht mehr haltbar ist, zeigt die Beobachtung schwerer Polyneuropathien nach jahrelangem Schnüffeln bei vier Jugendlichen, die wir innerhalb von zwei Wochen im Oktober 1975 in der Neurologischen Klinik im Klinikum Steglitz sahen.

Jugendlicher gesagt hatte, man bekäme davon einen Gehirnschlag. Etwa sechs Wochen vor der Untersuchung bemerkte er Schwierigkeiten beim Laufen, die er zunächst auf neu gekaufte Stiefel zurückführte. Die Beine wurden in der folgenden Zeit schwer und begannen im Knie einzuknicken. Befunde: Der internistische Befund war bis auf schwerste kariöse

Veränderungen aller Zähne regelrecht. Bei der neurologischen Untersuchung fand sich bei regeirechtem Hirnnervenbefund eine ausgeprägte schlaffe Paraparese der unteren Extremitäten mit Atrophie des Musculus quadriceps femoris beiderseits, positivem Trendelenburgschen Zeichen als Hinweis auf eine Parese der Musculi glutei medii und kompletten Paresen der Fußheber und -strecker.

Die Rumpfmuskulatur und die Arme waren nicht befallen, die Reflexe an den oberen Extremitäten noch schwach auslösbar, an den unteren erloschen. Die Bauchhautreflexe waren seitengleich gut auslösbar. Sphinkterstörungen und Zeichen einer Pyramidenbahn-

läsion fehlten. Wiederum fanden sich nur geringfügige sensible Störungen in Form einer strumpfförmigen Hypästhesie, zum Teil Hyperpathie, distal der Knie. Harnstatus, Blutsenkungsreaktion, Blutbild, Differentialblutbild, Serumelektrophorese, Serumelektrolyte, GOT, GPT, alkalische Phosphatase, y-GT, LDH, Quick-Wert, Bihirubin, Kreatinin, Lues-

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Akenkirch, Mager: Toxische Polyneuropathien dutch Schnüffeln von Pattex-Verdünner

serologic und Schilling-Test zeigten Werte im Normbereich. Der Liquorbefund war normal. In den zusätzlichen klinischen Untersuchungen, Röntgen-Thorax, Elektrokardiogramm, EEG, fanden sich keine Auffälligkeiten. Die Nervenleitgeschwindigkeiten waren gesenkt, die distalen Cberleitungszeiten erheblich verlängert. Im Nadel-EMG fanden sich Zeichen für einen peripher-neurogenen Schaden mit Reinnervation.

Fall 3: Der l8jährige Mann hatte seit sechs Jahren Verdünner geschnüffelt, bei einem täglichen Konsum von einem halben bis einem Liter. Zusätzlich bestand besonders in den letzten beiden Jahren auch ein Mißbrauch von Schlaf- und Beruhigungsmitteln, Drogen und Alkohol, je nachdem, wieviel Geld dem Arbeitslosen zur Verfügung stand. Pattex-Verdünner war nach seinen Angaben jedoch immer das billigste und bevorzugte Mittel gewesen. Seit etwa einem halben Jahr hatte er das Schnüffeln eingeschränkt, da die erwünschten Wirkungen immer schwächer wurden und er auch weniger vertrug. Seit zwölf Wochen waren Gangstörungen aufgetreten, die vom Hausarzt zunächst auf Spreizfüße zurückgeführt und mit Einlagen behandelt wurden. Nach vier Wochen trat dann

ein Taubheitsgefühl aller Zehen hinzu, und die Lähmung der Beine nahm so zu, daß er gar nicht mehr laufen konnte. Nach weiteren zwei bis drei Wochen kam es auch zu einer Schwäche der Hände, so daß er keine Gegenstände mehr halten konnte. Befunde: Der internistische Aufnahmebefund zeigte außer einem erheblichen Untergewicht und einer Akne juvenilis keine Besonderheiten. Die neurologische Untersuchung ergab keine Hirnnervenstörungen. Der Kranke war auf einen Rollstuhl angewiesen und bot ausgeprägte Atrophien der Extrernitätenmuskulatur (Abbildung 1). Es fand sich eine schlaffe Tetraparese, wobei die Unterschenkelmuskulatur plegisch war und die Oberschenkelmuskeln, einschließlich der Musculi iliopsoas und gluteus maximus und medius, nur eine minimale Restfunktion zeigten. Die Rumpfmuskulatur blieb ungestört. An den Armen waren die Lähmungen distal betont. Die sensiblen Ausfälle wiederum waren sehr diskret. Die Pallästhesie war ab dem Beckenkamm abgeschwächt, im Knöchelbereich beiderseits aufgehoben, die Asthesie und Algesie waren distal der Kniescheibe bei gleichzeitiger 1-lyperpathie und Dysästhesie abge-

schwächt; die übrigen Qualitäten waren ungestört. Nach einer Woche begann sich die Paraplegic der Beine minimal zurückzubilden, während die motorischen Ausfälle an den Armen zunahmen. Nach weiteren zwei Wochen war der Kranke jedoch in Form einer Quadriplegic gelähmt; lediglich Kopf-, Nacken-, Schultergürtel- und Rurnpfmuskulatur waren ungestört und geringfügige Bewegungen mit den proximalen Oberarmmuskeln möglich. Die sensiblen Stö-

rungen blieben weiterhin diskret und zeigten sich in Form von handschuh- bzw. strumpfförmigen, distal betonten Störungen der Asthesie und Algesie.

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Beine. Der Gang war watschelnd, staksend, nur mit Gangunterstützung möglich; Hacken- und Zehenstand waren aufgehoben. Das Trendelenburgsche Zeichen war beiderseits positiv. Es fanden sich ausgeprägte Atrophien der Oberschenkelmuskulatur, einschließlich

der Musculi iliopsoas und glutei, aber auch der Fußheber und -strecker beiderseits (Abbildung 2). An den Armen waren keine Lähmungen nachweisbar und die Dehnungsreflexe hier noch schwach auslösbar, der Brachioradialisreflex allerdings war beiderseits

erloschen. Außer einer Hyperpathie der Füße und einer

strumpfförmig angeordneten Hypalgesie bis zum mittleren Unterschenkeldrittel fanden sich keine sensiblen Störungen. Urinstatus, Blutbild, Differentialblutbild, Serumelektrophorese,

Serumelektrolyte, Harnstoff-N, Kreatinin, CK, GOT, GPT, LDH, alkalische Phosphatase, a-Amylase, Bilirubin, Gerinnungsstatus, Luesserologie und Schilling-Test zeigten Werte im Normbereich. Der Liquorbefund war regelrecht. Röntgenaufnahmen des Thorax, des Schädels, Elektrokardiogramm und EEG zeigten keine Auffälligkeiten. Die motorischen und sensiblen Nervenleitgeschwindigkeiten wa-

ren deutlich gesenkt, die distalen Oberleitungszeiten erhöht, Im EMG fanden sich Zeichen für einen peripher-neurogenen Schaden und ein allgemein schlechtes Aktivierungsvermögen.

Diskussion In allen vier beobachteten Fällen zeigte das neurologische Schädigungsmuster eine bemerkenswerte Einheitlichkeit. Es bestand das Bild einer progressiven, vorwiegend mo-

torischen Polyneuropathie, ähnlich einer Landry-Paralyse. Bei plötzlichem Beginn, rascher Progredienz, symmetrischen, von distal nach proximal fortschreitenden motorischen Ausfällen fanden sich nur gering ausgeprägte sensible Störungen in Form eines »Handschuhund Strumpfmusters«. In allen Fällen waren die unteren Extremitäten schwerer betroffen als die oberen, dabei stets auch die proximalen Muskeigruppen der Beine, einschließlich der Iliopsoas- und Glutealmuskulatur. Die Rumpfmuskulatur blieb unberührt. Zeichen einer Pyramidenbahnläsion, Schmerzen, Sphinkterstörungen oder Hirnnervenausfälle fehlten. In allen Fällen nahmen die neurologischen Ausfälle während stationärer Beobachtung und nach Absetzen des Mittels noch zu.

Die Jugendlichen hatten alle über einen Zeitraum

pletter Denervierung im M. tibialis anterior und M. quadriceps

zwischen drei und sieben Jahren Pattex-Verdünner mit einem Tageskonsum zwischen einem halben und einem Liter inhaliert. Nur in einem Fall kam auch nach fremdanamnestischen Angaben ein Mißbrauch von Tabletten und Alkohol in den letzten beiden Jahren hinzu. Die klinisch-chemischen Untersuchungen und die klinische Basisdiagnostik zeigten übereinstimmend keine pathologischen Befunde. Der Liquorbefund war in drei Fällen normal, in einem Fall wurde die Untersuchung verweigert. Bei der elektrophysiologischen Untersuchung fan-

femoris links.

den sich ausgeprägte Senkungen der Nervenleitge-

Urinstatus, Blutsenkungsreaktion, Blutbild, Differentialblutbild, Blutzucker, Elektrophorese, Kreatinin, Serumelektrolyte, Magne-

sium, Calcium, CK, GOT, GPT, alkalische Phosphatase, LDH, ?-GT, LE-Zellen-Test und Schilling-Test zeigten Werte im Normbereich. Röntgenaufnahmen des Schädels, des Thorax, der Brustund Lendenwirbelsäule, Elektrokardiogramm und EEG zeigten keine pathologischen Befunde. Die Nervenleitgeschwindigkeiten der Beine waren nicht meßbar, die der Arme erheblich herabgesetzt, die distalen Uberleitungszeiten

erhöht. Im Nadel-EMG fanden sich Zeichen eines peripher-neurogenen Schadens in den untersuchten Muskeln mit anscheinend kom-

Fall 4: Der l6jährige, ein Bruder des unter Fall 3 beschriebenen jungen Mannes, hatte seit fünf Jahren täglich bis zu einem halben Liter Pattex-Verdünner geschnüffelt. Auch er hatte im letzten halben Jahr weniger verbraucht, das Schnüffeln aber bis zehn Tage vor der Aufnahme fortgesetzt. Er bemerkte 14 Tage vor der Untersuchung plötzlich eine Schwäche der Beine beim Treppensteigen, die

schwindigkeiten und im EMG Zeichen für einen peripher-neurogenen Schaden. Das von uns beschriebene Syndrom zeigt auffallende

Ähnlichkeit mit den in den letzten drei Jahren in den

USA und Japan aufgetretenen Neuropathien nach

rasch zunahm. Vier Tage später trat ein feines Kribbeln in allen

Schnüffeln von Modellbauklebstoffen. 1972 berichteten

Fingerspitzen auf.

Gonzalez und Downey (4) über einen 20 Jahre alten Patienten, bei dem sich nach fünfzehn Monate langem Klebstoffschnüffeln eine progressive senso-motorische Polyneuropathie entwickelte. Auch Matsumura und Mitarbeiter (9) schilderten 1972 schwere Polyneuropathien

Befunde: Der internistische und der neurologische Befund der Hirnnerven waren auch hier unauffällig. Der Kranke bot das Bild einer Polyneuropathie mit ausgeprägter schlaffer Paraparese der * Abbildungen 1 und 2 siehe Tafel Seite 199

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Nr. 6, 6. Februar 1976, 101. Jg.

Altenkirdi, Mager: Toxische Polyneuropathien durch Schnüffeln von Pattex-Verdünner

nach einjährigem Klebstoffmißbrauch bei l8jährigen Zwillingsschwestern. 1974 beschrieben Suzuki und Mitarbeiter (15) einen, Goto und Mitarbeiter (5) vier Fälle vorherrschend motorischer Polyneuropathien, Shirabe und Mitarbeiter (13) zwei Fälle und 1975 Korobkin und Mitarbeiter (8) einen weiteren Fall, wobei in allen Beispielen Klebstoffe benutzt worden waren, die n-Hexan,

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Substanzen im Pattex-Verdünner neurotoxische Bedeutung haben, bleibt im Augenblick noch ungeklärt und ist von weiteren Untersuchungen abhängig. Einzelheiten der neurologischen und elektromyographischen Befunde sowie einer Nervenbiopsie, katamnestische Verlaufsberichte und Ergebnisse einer toxikologischen Untersuchung werden von uns an anderer Stelle veröffentlicht werden.

Toluol und Athylacetat enthielten. Die Tatsache, daß die polyneuropathischen Syndrome bevorzugt nach n-Hexan-haltigen Klebern auftraten und bei Verwendung von Hexan-freien Stoffen zurückgingen, führte zu der Annahme, daß vor allem n-Hexan die neurotoxisch wirksame Substanz sei, eventuell dem Toluol eine zu-

Sicher ist nach den geschilderten Beobachtungen aber bereits zum heutigen Zeitpunkt, daß wiederholtes

sätzliche Bedeutung zukomme (13).

dünner, die in den klinischen und neurologischen Daten mit den

Polyneuropathien nach industrieller n-Hexan-Exposition sind wiederum seit längerem bekannt (6, 7, 17). Allerdings verlaufen n-Hexan-Polyneuropathien nach beruf smäßiger Exposition vorwiegend als sensorische oder senso-motorische Polyneuropathien mit handschuh- und strumpfförmigen Verteilungsmustern; schwere Verläufe mit Muskelatrophien werden seltener beschrieben (17). Die Unterschiede in Ausprägung, Schweregrad und Verteilungsmuster dieser industriellen n-Hexan-Polyneuro-

pathien gegenüber der n-Hexan-Schnüffel-Polyneuropathie wurden mit der unterschiedlichen Dauer und Intensität der Exposition erklärt, die bei Schnüfflern um ein Vielfaches höher liegt (8, 13). Pattex-Verdünner enthielt nach Steinke (14) 1972 22% Benzin, 15% Toluol, 12% Essigester, 5% Methylenchlorid und 10% Butanol. Nach Mitteilung des Pattex-Herstellers bestand im

Schnüffeln von Pattex-Verdünner schwerwiegende Schäden am peripheren Nervensystem nach sich ziehen kann. Nachtrag. Bis Dezember 1975 beobachteten wir sieben weitere Fälle von toxischen Polyneuropathien nach Schnüffeln von Pattex-Verhier geschilderten Fällen übereinstimmten. Die Erkrankungswelle ist nach unseren Untersuchungen auf eine Veränderung der Lösungsmittelzusammensetzung zurückzuführen, die im Februar 1975 vom Hersteller vorgenommen wurde. Literatur Baas, M.: Sudden sniffing death. J. Amer. med. Ass. 212 (1970), 2075. Cohen, S.: Glue.sniffing. J. Amer. med. Ass. 231 (1975), 653.

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Oktober 1975 der Verdünner aus 41% Benzin, 29%

(S) Goto, I., M. Matsumara, N. moue, Y. Murai, K. Shida, T. Santa, Y. Kuroiwa: Toxic polyneuropathy due to glue-sniffing. J. Neurol.

Toluol und 30% Athylacetat. Die Beantwortung der Frage, warum alle vier von uns

Neurosurg. Psychiat. 37 (1974), 848.

glue-sniffing. J. neurol. Sei. 21 (1974),

Flerskowitz, A., N. Ishii, H. Schaumburg: n-Hexane neuropathy.

101.

beobachteten Fälle die Angabe machten, sie hätten in der letzten Zeit vor der Krankenhausaufnahme den Schnüffelkonsum reduziert und das Mittel weniger gut vertragen, muß zunächst offenbleiben. Ebenso bleibt vorerst ungeklärt, warum nahezu gleichzeitig innerhalb von 14 Tagen im Oktober 1975 vier derart ausgeprägte neurotoxische Krankheitsbilder zur Beobachtung kamen. Der Vergleich mit den in der Literatur beschriebenen Polyneuropathien nach Schnüffeln von n-Hexanhaltigen Kiebern legt die Vermutung nahe, daß das in dem erhöhten Benzinanteil enthaltene n-Hexan die vorwiegend neurotoxische Substanz ist. Ob noch weitere

New EngI. J. Med. 285 (1971), 82. Ikeda, M.: Damages of nervous system at various levels due to organic solvents. Abstracts of 2nd Industrial and Environmental Neurology Congress, Prag 1974.

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Dr. H. Altenkirch, Dr. J. Mager Neurologische Klinik und Poliklinik der Freien Universität Klinikum Steglitz 1000 Berlin 45, Hindenburgdamm 30

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Zur Arbeit Alrenkirch, Mager (Seite 195-198)

Toxische Polyneuropathien durch Schnüffeln von PattexVerdünner

Abb. 1. Fall 3: ausgeprigce Atrophie der Hand- und Fingerextensoren.

Abb. 2. Fall 4: schlaffe Paraparese der Beine mir auffälligen, proximal betonten Atrophien.

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[Toxic polyneuropathy after sniffing contact glue thinner (author's transl)].

Four men aged 16 to 19 years who had sniffed contact glue ("Pattex") thinner almost daily for 3 to 7 years developed a pronounced polyneuropathy. They...
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