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Kasuistik

Tizanidin-Absetzsymptome bei Stress-Kardiomyopathie

Autoren

S. Mörkl, S. A Bengesser, H. Schöggl, D. Bayer, H. P. Kapfhammer

Institut

Universitätsklinik für Psychiatrie, Medizinische Universität Graz, Austria

Schlüsselwörter

Zusammenfassung

Abstract

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Einleitung: Das Absetzen von Tizanidin, einem alpha-2-Rezeptor-agonistischen Muskelrelaxans, wird mit Reflextachykardien, hohem Blutdruck, erhöhtem Muskeltonus und psychomotorischer Unruhe in Verbindung gebracht. Kasuistik: Wir berichten über eine 53-jährige Patientin, die nach langjähriger, hochdosierter Einnahme von Tizanidin ein schweres Absetzsyndrom vor dem Hintergrund einer Stress-Kardiomyopathie entwickelte. Schlussfolgerungen: Ein Einfluss von zentralen Muskelrelaxantien wie Tizanidin auf die Entwicklung eines akuten Delirs kann nicht ausgeschlossen werden. Tizanidin-Absetzsymptome sollten bei Patienten mit Entzugserscheinungen in Erwägung gezogen werden. Das Medikament sollte langsam unter psychiatrischer Observanz reduziert werden. Bei Herzerkrankungen sollte Tizanidin nur mit Vorsicht zur Anwendung kommen. Pharmakologische Interaktionsmechanismen sollten unbedingt beachtet werden.

Introduction: An acute discontinuation of tizanidine, an alpha-2-agonistic muscle relaxant, is associated with reflex tachycardia, hypertension, tremor, hypertonicity and anxiety. Case Report: We describe a 53-year-old patient with broken-heart syndrome, who developed serious tizanidine withdrawal symptoms after high-dosed long-term treatment within the framework of stress cardiomyopathy. Conclusion: Central muscle relaxants like tizanidine might have an impact on the development of delirium. Tizanidine withdrawal should be considered in patients who manifest signs and symptoms of withdrawal from medications. The drug should be gradually reduced in dosage under observation by a psychiatrist. When prescribing tizanidine, the possible pharmacological side effects and interactions should be taken into careful account.

Einleitung

infolge von neurogenen Störungen wie Multiple Sklerose, chronische Myelopathie und degenerativen Rückenmarkserkrankungen eingesetzt. Zusätzlich wird es bei vertebromuskulären Verspannungen, funktionellen Störungen im Bereich der Wirbelsäule (Zervikal- und Lumbalsyndrome) und postoperativ nach orthopädischen Eingriffen zur Ergänzung einer Schmerztherapie angewendet [2]. Ein abruptes Absetzen von Tizanidin wird mit Reflextachykardien, hohem Blutdruck (Rebound-Hypertonie), Tremor, erhöhtem Muskeltonus und starker psychomotorischer Unruhe in Verbindung gebracht [6]. Tizanidin hat eine geringe therapeutische Breite. Die Dosierung sollte an den Bedarf des Patienten angepasst werden. Zeichen einer Überdosis von Tizanidin umfassen psychiatrische Auffälligkeiten, Bradykardie und

● Tizanidin ● Tizanidin-Absetzeffekte ● Broken-Heart-Syndrom ● Delir ● Stress-Kardiomyopathie ● Tako-Tsubo-Syndrom " " " " "

Key words

● tizanidine ● tizanidine withdrawal ● broken-heart-syndrome ● delirium ● stress cardiomyopathy ● Takotsubo syndrome " " " " " "

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Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1399167 Fortschr Neurol Psychiatr 2015; 83: 170–173 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York · ISSN 0720-4299 Korrespondenzadresse Dr. Sabrina Mörkl Universitätsklinik für Psychiatrie, LKH Universitätsklinikum Graz Auenbruggerplatz 31 8036 Graz [email protected]

Wir beschreiben den Fall einer 53-jährigen Patientin mit Stress-Kardiomyopathie, die nach abruptem Absetzen einer Tizanidin-Hochdosistherapie ein Absetzsyndrom mit anschließender deliranter Entwicklung erlitt. Tizanidin ist ein häufig verwendetes, alpha-2-Rezeptor-agonistisches, zentrales Muskelrelaxans und hat daher ähnliche Wirkungen wie Clonidin. Es wirkt über eine präsynaptische Hemmung der Neurotransmitterfreisetzung und reduziert dadurch die Synapsenaktivität in den Reflexbögen [1, 2]. Darüber hinaus fungiert Tizanidin als Agonist an Imidazolin-Rezeptoren (I-1-Rezeptor) und hat somit antihypertensive Effekte [3 – 5]. Laut Fachinformation wird es vor allem bei Spastizität

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Tizanidine Withdrawal Symptoms in Stress Cardiomyopathy

Hypotonie [7]. Bei hochdosierter Einnahme kommt es laut Fachinformation zu Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Blutdruckabfall, Verlängerung des QTc-Intervalls, Schwindel, Ruhelosigkeit, Miosis, Schläfrigkeit, respiratorische Insuffizienz und Koma. Die Patientin in diesem Fallbericht leidet an einer Stress-Kardiomyopathie (Morbus Tako-Tsubo). Diese betrifft 5 % aller Frauen und macht 2 % aller akuten Koronarsyndrome aus. Infolge von akuten emotionalen Stressoren kommt es zu einer Ballonierung des Apex des linken Ventrikels bei blanden Koronararterien. An Symptomen zeigt sich eine akute Angina-pectoris-Symptomatik mit Anstieg von Herzenzymen, die bis zum kardiogenen Schock gehen kann. Als diagnostische Kriterien für Stress-Kardiomyopathie gelten [8, 9]: Bewegungsstörung der linken Herzkammer, die nicht dem Versorgungsgebiet eines Herzkranzgefäßes entspricht, Ausschluss von höhergradigen Veränderungen der Koronargefäße, Ausschluss einer Myokarditis, neu auftretende EKG-Veränderungen und die zeitliche Nähe zu einer Stresssituation.

Kasuistik !

Eine 53-jährige Patientin mit Stress-Kardiomyopathie wurde aufgrund eines depressiven Syndroms an der Universitätsklinik für Psychiatrie zur stationären Aufnahme vorgestellt. Kurz davor wurde sie wegen akut aufgetretener Übelkeit, Erbrechens, retrosternalen Druckgefühls sowie erhöhter Herzenzyme an der kardiologischen Abteilung abgeklärt, wobei die Diagnose einer Stress-Kardiomyopathie (Morbus Tako-Tsubo) mittels Herzultraschall, cardiac-MRT und Koronarangiografie neu gestellt und Differentialdiagnosen ausgeschlossen wurden. Die Patientin berichtete im Aufnahmegespräch über eine 2-jährige Einnahme von Tizanidin (30 – 40 Stück à 2 mg per die). Dies habe sie seit einem Diskusprolaps L4 / L5 verordnet bekommen, in Eigenregie bis zur angegebenen Dosis gesteigert und selbst komplikationslos vor einigen Tagen abgesetzt. Als Begründung für die hochdosierte Einnahme von Tizanidin gab die Patientin zunehmende Beschwerden der Wirbelsäule an, die sie zur angegebenen Dosissteigerung veranlasst hätten. An Vorerkrankungen waren ein Myokardinfarkt ohne ST-Elevation (NSTEMI), eine axiale Hiatushernie, Obstipationsneigung sowie eine Refluxösophagitis zu erheben. Zudem bestand ein Zustand nach Alkoholabhängigkeit. Die Patientin berichtete, vor 7 Jahren erfolgreich eine Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung absolviert zu haben und seither abstinent zu sein. Ein zusätzlicher Gebrauch von Schmerz- oder Beruhigungsmitteln seither wurde verneint. Die Patientin erhielt folgende Dauermedikation: Acetylsalicylsäure 100 mg, Pantoprazol 40 mg, Nicorandil 10 mg, Magnesium 600 mg und einen Vitamin-B-Komplex. Im psychopathologischen Aufnahmebefund fanden sich eine mittelgradig depressive Stimmungslage, ein verminderter Antrieb sowie Einschlafstörungen. Sowohl der neurologische als auch der somatische Status blieben zum Aufnahmezeitpunkt ohne weitere pathologische Befunde. Im Laufe des folgenden Nachmittags entwickelte die Patientin ungefähr 2 Stunden nach Aufnahme eine vegetative Entzugssymptomatik mit massiver Kaltschweißigkeit, Tremor, Tachykardie, Nausea und Emesis. In einer nochmaligen Exploration räumte die Patientin schließlich ein, regelmäßig bis zum Tag vor der stationären Aufnahme Tizanidin in einer Tagesgesamtdosis von 60 mg eingenommen zu haben. Am selben Tag habe sie bereits aufgrund von Unruhe eine Tablette Tizanidin 2 mg zu sich ge-

nommen. Die Einnahme von anderen zusätzlichen Medikamenten wurde glaubhaft negiert. Aus dem Gespräch ging des Weiteren hervor, dass es der Patientin bislang nicht gelungen sei, Tizanidin selbstständig abzusetzen. Bei Absetzversuchen sei es unmittelbar zu starker Unruhe gekommen, woraufhin die Patientin die regelmäßige Einnahme unverzüglich fortgesetzt habe. Sie berichtete, dass es ihr persönlich sehr unangenehm gewesen sei, ihre tatsächlich eingenommene Dosis zu nennen, welche je nach Tagesverfassung eine Stückzahl von 40 Tabletten à 2 mg durchaus überschritten habe. Bezüglich des weiteren Verlaufs ist zu berichten, dass es sukzessive zu einer Verschlechterung der Symptomatik in Form von Desorientierung, Verwirrtheit und psychomotorischer Unruhe kam. Im kardialen Status sowie im durchgeführten EKG zeigten sich abgesehen von einer Tachykardie keine Veränderungen im Vergleich zum Aufnahmebefund. Die Patientin wurde im Verlauf jedoch psychomotorisch immer unruhiger und entwickelte erhöhten Blutdruck mit Höchstwerten von 170/90 mmHg. Im Akutlabor fanden sich folgende Auffälligkeiten: eine gering ausgeprägte Leukozytose (14,19 g/l) bei normalem CRP, eine geringe Hypokaliämie (3,3 mmol/l), ein Kreatinin von 1,1 mg/dl bei einer GFR von 57,45 ml/min/1, erhöhtes CK-MB (25 U/l) bei normalem Gesamt-CK sowie ein Troponin T von 62 pg/ml. Die übrigen Werte (Blutzucker, TSH, Urinscreening auf Benzodiazepine/Drogen, Blutalkohol, CDT) wiesen keine Auffälligkeiten auf, die Körpertemperatur war im Normbereich. Ein EEG wurde während des stationären Aufenthalts nicht durchgeführt, ein veranlasstes CT des Gehirnschädels zeigte einen altersentsprechenden Normalbefund. Es erfolgte schließlich sofort eine Kupierung der Entzugssymptome (massive Kaltschweißigkeit, Tremor, Unruhe, Übelkeit, Emesis) durch Benzodiazepine, indem initial per os Oxazepam verabreicht wurde. Aufgrund einer persistierenden Übelkeit und unstillbarer Emesis wurde bei fraglicher Wirkstoffresorption auf eine intravenöse Therapie mit Lorazepam umgestellt. Im Verlauf zeigte die Patientin schließlich hypertensive Blutdruckwerte (190/100 mmHg), weshalb nach internistischem Konsil die laufende Medikation durch den Beta-Blocker Bisoprolol ergänzt wurde. Da die Patientin jedoch in der Folge hypotensive RR-Werte (80/60 mmHg) entwickelte, mussten potenziell kreislaufdestabilisierende Medikamente abgesetzt werden. Symptomatisch wurde eine Steigerung der bereits eingeleiteten Flüssigkeitssubstitution vorgenommen, zudem erfolgte die Gabe von Etilefrin in Tropfenform. Lorazepam wurde aufgrund der hypotensiven RRWerte abgesetzt. Tizanidin wurde schließlich entsprechend der Fachinformation, die das langsame Ausschleichen empfiehlt, in einer Dosierung von 80 mg/die fortgesetzt, woraufhin es im Verlauf gänzlich zum Sistieren der zuvor beschriebenen Symptomatik kam. In der Folge wurde ein langsames Ausschleichen im niedergelassenen Bereich empfohlen. Im weiteren Behandlungsverlauf kam es zu keinen kardialen Beschwerden hinsichtlich des Wiederbeginns von Tizanidin. Allerdings kam es zum Auftreten von symptomlosen Bradykardien in enger zeitlicher Korrelation mit der Tizanidineinnahme, die laut Fachinformation neben AV-Blockierungen und Hypotension mit der hochdosierten Einnahme von Tizanidin direkt in Zusammenhang stehen. Bei depressivem Zustandsbild wurde am zweiten Behandlungstag eine SSRI-Therapie mit Sertralin in einer Tagesdosis von 50 mg eingeleitet, die von der Patientin gut toleriert wurde. Eine Vorbehandlung mit Trazodon ret. 75 mg wurde wegen einer laut

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Fachinformation bestehenden Kontraindikation bei Zustand nach NSTEMI abrupt abgesetzt. Aufgrund des Zustands nach NSTEMI und Stress-Kardiomyopathie erfolgten mehrmals internistische Vorstellungen an der Kardiologie-Ambulanz. Ergänzend wurden laufende Kontrollen der Herzenzyme veranlasst, wobei diese einen sukzessiven Anstieg von Troponin T (bis 301 pg/ml) aufwiesen. Vor diesem Hintergrund erfolgte schließlich eine Übernahme in die Bettenstation der Universitätsklinik für Kardiologie, wo die Patientin nach Stabilisierung und mit einer gleichbleibenden Dosierung von Tizanidin nach 2 Wochen auf dringenden eigenen Wunsch nach Hause entlassen wurde. Bezüglich des weiteren ambulanten Behandlungsverlaufs liegen keine Informationen vor.

Schlussfolgerungen: !

Diese Kasuistik berichtet über akute Absetzphänomene nach jahrelanger, hochdosierter Tizanidin-Einnahme mit anschließender deliranter Entwicklung. Über die Jahre steigerte die Patientin sukzessive ihre Tizanidin-Dosierung bis auf eine Gesamtdosis von 80 mg/Tag, mehr als das Doppelte der zugelassenen Tageshöchstdosis von 36 mg. Am Tag der Aufnahme nahm die Patientin nur 2,5 % ihrer gewohnten Tagesdosis ein und entwickelte rasch schwere Absetzerscheinungen. In der Literatur gibt es bislang keine sicheren Hinweise bezüglich eines delirogenen Risikos beim Absetzen von Tizanidin. Die einzige Übersichtsarbeit zum Thema von Karol et al. [6] beschreibt die Entwicklung eines Delirs, allerdings nach Absetzen einer Kombination aus dem Muskelrelaxantien Tizanidin und Baclofen, wobei die Autoren im konkreten Fall primär von Absetzerscheinungen in Zusammenhang mit Baclofen ausgehen. Die Autoren erklären sich dies durch das rasche Sistieren der Delirsymptomatik nach Wiederaufnahme von Baclofen, während Hypertonie und Tachykardie mit dem Absetzen von Tizanidin in Verbindung gebracht werden. Baclofen, ein spezifischer Agonist an GABA-B-Rezeptoren, senkt die synaptische Transmission in den Reflexbögen [1]. Tatsächlich werden in der Fachinformation von Baclofen Delirsymptome nach plötzlichem Absetzen einer mehrmonatigen, hochdosierten Einnahme beschrieben, während in der Fachinformation von Tizanidin lediglich von einem Absetzsyndrom gesprochen wird, das mit Rebound-Hypertonie und Tachykardie einhergeht, wenn Tizanidin chronisch, in hohen Tagesdosen oder gleichzeitig mit Blutdrucksenkern angewendet wurde. Über Clonidin, das ähnlich wie Tizanidin über einen Alpha-2Agonismus und über einen Imidazolin-Rezeptor-Agonismus wirkt [1], finden sich in der Literatur neben Beschreibungen von potenziell lebensbedrohlichen Absetzeffekten wie extreme Hypertension und ventrikuläre Tachykardien [10, 11] nur vereinzelt Fallberichte über Clonidin-induzierte Delirien [12]. Interessanterweise kam es auch in dem von uns geschilderten Fallbericht zu einem Sistieren der Delirsymptomatik nach Wiederaufnahme von Tizanidin, allerdings mit begleitender Gabe von Benzodiazepinen. Bezüglich der delirogenen Potenz von Imidazolin-Agonisten konnten keine Studien ausfindig gemacht werden. Es bleibt offen, ob Tizanidin im vorliegenden Fall allein für die Entstehung eines deliranten Syndroms ursächlich war. Gewiss können auch die kardiale Grunderkrankung oder der Entzug von anderen, von der Patientin nicht angegebenen Medikamenten (Benzodiazepine, benzodiazepinartige Medikamente) als potenzielle Differentialdiagnosen für die Entstehung eines Delirs gesehen werden. An weiteren Differentialdiagnosen wären ein Sero-

tonin-Syndrom, Elektrolytstörungen, Infektionen sowie eine Hypoxie in Betracht zu ziehen. Die Patientin wies jedoch ein negatives Urinscreening bezüglich Benzodiazepinen auf, die Laborwerte schlossen eine akute Infektion aus, zudem hatte die Patientin kein Fieber. In Anbetracht sowohl der Symptome als auch der Dosierung der verordneten Medikation erscheint die Diagnose eines Serotoninsyndroms als eher unwahrscheinlich. Der neurologische Status blieb bis auf einen ausgeprägten Tremor unauffällig. Darüber hinaus kam es nach erneuter Einnahme von Tizanidin zu einem gänzlichen Sistieren der beschriebenen Symptome, sodass diagnostisch in erster Linie ein Tizanidin-Entzugssyndrom in Betracht gezogen wurde. Bezüglich der Stress-Kardiomyopathie gibt es in der Literatur bislang keine Hinweise auf einen ursächlichen Zusammenhang mit der Langzeiteinnahme von Tizanidin. Aus Einzelfallberichten ergeben sich Hinweise auf Störungen der atrioventrikulären Erregungsüberleitung bei dessen Anwendung [13]. Bei unserer Patientin kam es im Behandlungsverlauf zu ausgeprägten Schwankungen des Blutdrucks. Diese könnten von der StressKardiomyopathie selbst, einer Arzneimittelinteraktion mit Bisoprolol oder durch Tizanidin verursacht worden sein. Die Pathophysiologie der Stress-Kardiomyopathie ist noch nicht hinreichend erforscht. Hinsichtlich der Pathogenese wurden mehrere Theorien aufgestellt, wobei die Theorien einer mikrovaskulären Dysfunktion und einer katecholamininduzierten Kardiotoxizität am meisten unterstützt werden. Wittstein et al. beschrieben eine zweibis dreifach erhöhte Serumkatecholaminkonzentration bei Patienten mit Stress-Kardiomyopathie im Vergleich zu Patienten mit Herzinfarkt im Zusammenhang mit akuten psychischen Stressoren [14]. Weiters kommt es auch bei externer Applikation von Katecholaminen zu Symptomen einer Stress-Kardiomyopathie [15]. Außerdem mediiert Tizanidin die katecholamininduzierte Inhibition der Adenylat-Cyclase und wirkt dadurch ergänzend zum Imidazolin-1-Agonismus antihypertensiv. Zusätzlich zur Wiedereinleitung von Tizanidin wurde im Therapieverlauf aufgrund hypertoner Phasen laut internistischem Konsil die Gabe des BetaBlockers Bisoprolol empfohlen. Da Tizanidin über die Leber (CYP 1A2) verstoffwechselt wird, birgt dessen Anwendung zahlreiche Arzneimittelinteraktionsmöglichkeiten. Aus der gemeinsamen Anwendung von Tizanidin mit Blutdrucksenkern wie Bisoprolol entsteht pharmakodynamisch ein hypotoniefördernder Synergismus. Somit könnten die kardiodepressiven Effekte nicht nur im Rahmen der Grunderkrankung, sondern auch aufgrund einer Kombination von Tizanidin und Bisoprolol iatrogen verursacht worden sein. Um weitere Arzneimittelinteraktionen als Ursache auszuschließen, wurde eine Interaktionsüberprüfung mittels MEDIS KH (Krankenhaus-Arzneimittelinteraktionssystem) durchgeführt. Bei Kombination von Tizanidin mit Trazodon oder Tizanidin mit Sertralin kommt es zu keinen relevanten Arzneimittelinteraktionen, die für das Auftreten der genannten Symptomatik verantwortlich sein könnten. In vorliegendem Fallbericht wurde seitens der Patientin berichtet, Tizanidin aufgrund von Schmerzen und Unruhegefühlen eingenommen zu haben. Da sie mit der verordneten Dosis jedoch auf Dauer nicht auskommen konnte, wurde diese von ihr selbstständig gesteigert. Eine hochdosierte Einnahme von Tizanidin über Jahre mit Dosissteigerung findet sich sehr selten, obwohl die Literatur ein Missbrauchsrisiko und Entzugserscheinungen beschreibt [16]. Tizanidin führt zu einer Muskelentspannung und wird deswegen auch häufig als Prophylaxe für Spannungskopfschmerz eingesetzt. Hinweise für abhängigkeitsfördernde, psychotrope Wirkungen sind bislang in der Literatur nicht be-

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schrieben worden. Bislang finden sich auch keine Fälle von Tizanidin-Abusus im Frühwarnsystem des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) [17]. Unsere Patientin zeigte trotz allem jedoch eine über die Jahre hochdosierte Einnahme mit kontinuierlicher Dosissteigerung. Nach Absetzen kam es wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Grunderkrankung zu schweren Absetzsymptomen mit deliranter Entwicklung.

Take Home Message Ein Einfluss von zentralen Muskelrelaxantien wie Tizanidin auf die Entwicklung eines akuten Delirs kann nicht ausgeschlossen werden. Tizanidin-Absetzsymptome sollten bei Patienten mit Entzugserscheinungen in Erwägung gezogen werden. Das Medikament sollte langsam unter psychiatrischer Observanz reduziert werden. Bei Herzerkrankungen sollte Tizanidin nur mit Vorsicht zur Anwendung kommen. Pharmakologische Interaktionsmechanismen sollten unbedingt beachtet werden.

Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Literatur 01 Freissmuth M, Offermanns S. Pharmakologie und Toxikologie: Von den molekularen Grundlagen zur Pharmakotherapie. Heidelberg: Springer Science & Business Media; 2012 02 Lüllmann H, Mohr K, Hein L. Pharmakologie und Toxikologie: Arzneimittelwirkungen verstehen – Medikamente gezielt einsetzen; ein Lehrbuch für Studierende der Medizin, der Pharmazie und der Biowissenschaften, eine Informationsquelle für Ärzte, Apotheker und Gesundheitspolitiker. Stuttgart: Thieme Verlag; 2010 03 Head GA, Mayorov DN. Imidazoline receptors, novel agents and therapeutic potential. Cardiovasc Hematol Agents Med Chem 2006; 4: 17 – 32

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[Tizanidine withdrawal symptoms in stress cardiomyopathy].

An acute discontinuation of tizanidine, an alpha-2-agonistic muscle relaxant, is associated with reflex tachycardia, hypertension, tremor, hypertonici...
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