Originalien Orthopäde 2016 · 45:81–90 DOI 10.1007/s00132-015-3170-4 Online publiziert: 8. Oktober 2015 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

G. Spahn1 · M. Schiltenwolf2 · B. Hartmann3 · J. Grifka4 · G.O. Hofmann5 · H.-T. Klemm6 1 Praxisklinik für Unfallchirurgie und Orthopädie Eisenach und Universitätsklinium Jena,

Eisenach, Deutschland 2 Ambulanz und Tagesklinik für Schmerztherapie, Gutachtenambulanz, Klinik für

Orthopädie und Unfallchirurgie, Department Orthopädie, Unfallchirurgie und Paraplegiologie, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland 3 Hamburg, Deutschland 4 Asklepios Klinikum Bad Abbach GmbH, Bad Abbach, Deutschland 5 Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie, Berufsgenossenschaftlichen Klinik Bergmannstrost Halle/Saale, Universitätsklinikum Jena, Jena, Deutschland 6 Freies Institut für medizinische Begutachtungen Bayreuth/Erlangen, Bayreuth, Deutschland

Das zeitabhängige Arthroserisiko nach vorderer Kreuzbandverletzung Ergebnisse einer systematischen Literaturrecherche Die Gonarthrose ist eine der wichtigsten orthopädischen Erkrankungen weltweit. Die durchschnittliche jährliche Inzidenz behandlungsbedürftiger Gonarthrosen beträgt 160/100.000 Personenjahre [34]. Die Prävalenz der Erkrankung steigt ab dem 40. Lebensjahr signifikant an, wobei Frauen ab dem 60. Lebensjahr nahezu doppelt so häufig wie Männer betroffen sind [39]. Die Erkrankung ist gekennzeichnet durch initiale, aber pathophysiologisch entscheidende Veränderungen im hyalinen Gelenkknorpel mit Erweichung, Knorpelschaden, Defekt und einer sekundären Reaktion des subchondralen Knochens, die schließlich zu einem kompletten Versagen der Gelenkfunktion führen können. Diese Krankheitsprozesse sind in erster Linie auf eine altersphysiologische Degradation der Syntheseleistung innerhalb der Knorpelmatrix zurückzuführen und werden allgemein als „idiopathische“ oder primäre Arthrose bezeichnet. In Anlehnung an Hackenbroch [10] können verschiedene Faktoren (präarthrotische Deformität) dazu führen, dass Patienten außerhalb dieser „Altersnorm“ ein höheres Risiko haben, eine Gonarthrose

auszubilden. Diese Formen, bei denen ein Risikofaktor bekannt oder wahrscheinlich ist (berufliche Faktoren wie kniende Tätigkeit, Übergewicht, metabolische Fakto­ ren wie Gicht, Erkrankungen des rheuma­ tischen Formenkreises, bestimmte schwere Formen der Beinachsenfehlstellung), werden auch als sekundäre Arthrosen bezeichnet. Diese Arthroseformen finden ihren Niederschlag in der Klassifikation der Krankheiten (International Classification of Diseases, ICD 10), im Einzelfall ist jedoch oftmals eine klare Trennung zwischen beiden Formen der Arthrose kaum möglich [51]. Einen wesentlichen Risikofaktor für die der Altersnorm vorangehende Arthrose stellen Verletzungen des Kniegelenks dar. Gelber et al. [9] konnten in einer Längsschnittstudie über durchschnittlich 36 Jahre zeigen, dass neben dem Übergewicht erlittene Verletzungen das Risiko für die Ausbildung einer Gonarthrose um das mehr als Dreifache erhöhen. Allerdings stellt der Risikofaktor „Trauma“ einen ausgesprochen heterogenen Faktor dar. Die Heterogenität ist bedingt durch den jeweiligen Verletzungstyp (zum Bei-

spiel unterschiedliche Formen der Fraktur), den Einfluss verschiedener Therapieverfahren, aber auch sonstiger Begleitumstände beim jeweiligen Individuum. Die Verletzung des vorderen Kreuzbandes ist eine der häufigsten Verletzungen des Kniegelenks und daher von allen Verletzungsformen am besten untersucht. Die Kreuzbandruptur ist keineswegs eine ausschließliche Sportverletzung, sondern auch in allen anderen Bereichen des Lebens in Beruf oder Freizeit ist diese Verletzungsart präsent [18, 26]. Im Vergleich zu den gelenknahen Frakturen mit einer großen Heterogenität handelt es sich bei den Kreuzbandverletzungen in den meisten Fällen entweder um Einzelverletzungen oder aber um Kombinationsverletzungen (begleitender Meniskusschaden, Knorpelschaden, Seitenbandschaden), die eine klare Klassifikation und eine relativ sichere Bewertung des Outcome zulassen [39]. Derzeit gibt es jedoch kaum Kenntnisse darüber, wie der zeitliche Verlauf nach einer durchgemachten Verletzung oder aber nach einer sonstigen risikobelasteten Exposition (zum Beispiel berufDer Orthopäde 1 · 2016 

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Originalien Tab. 1  Bewertung der unterschiedlichen radiologischen Arthrosescores Kellgren, Lawrence

IKDC

Jäger, Wirth

OARSI

Fairbank

0 Normalbefund

I Fragliche Arthrosezeichen

A Normalbefund

II Definitive Osteophyten, fragliche Verschmälerung des Gelenkspaltes C Deutliche Arthrosezeichen Mäßige Arthrose, Ausziehungen an der Tibia

III IV Multiple Osteophyten, deutliche GelenkdestrukVerschmälerung des Gelenkspal- tion tes, Sklerose

B D Annähernd NormalSchwere Arthrose befund Mit höhergradiger Arthrose mit GelenkdestrukNormalbefund Initiale Gonarthrose mit angedeuteter AusVerschmälerung des Gelenkspal- tion ziehung der Eminentia tes auf die Hälfte, Osteophyten Die Arthroseklassifikation der OARSI (Osteoarthritis Research Society International) basiert auf einem deskriptiven ausgerichteten Röntgenatlas, in dem typische Befunde dargestellt sind. Anhand dieser Bilder wird der Untersucher in die Lage versetzt, eine semiquantitative Einteilung von 0 (normal) bis IV (völlige Gelenkdestruktion) vorzunehmen. Auch hier gelten als wesentliche Kriterien die Minderung der Gelenkspaltweite, die Ausbildung von Osteophyten und der Grad der Sklerose Normalbefund Normale GelenkspaltLeichte Reduktion des Gelenkspaltproduktion um Gelenkdestrukmehr als die Hälfte, ausgeprägte tion weite, geringfügige Gelenkspaltes, beginnende OsteophytenOsteophyten Verschärfung der Ecken an den Gebildung lenkflächen, allenfalls geringfügige oder fragliche Sklerose oder Osteophytenformation

liche Belastung) in Bezug auf die Entstehung der Gonarthrose ist. Die Kenntnis dieses zeitlichen Verlaufs ist für die individuelle Risikoabschätzung beim Patienten, aber auch für gutachterliche Fragen von großer Bedeutung [33]. Bisher publi­ zierte systematische Reviews oder Metaanalysen beantworten diese Frage nicht [1, 6, 21, 22, 36, 47]. Das Anliegen der hier vorgelegten systematischen Literaturrecherche mit anschließender Metaanalyse war es, den zeitlichen Verlauf der Entstehung einer Gonarthrose nach vorderer Kreuzbandverletzung darzustellen und zu ermitteln.

Material und Methode Das systematische Literaturreview und die anschließende Metaanalyse hielten die PRISMA-(Preferred Reporting Items for Systematic Reviews and Meta-Analyses-)Checklisten ein [52]. Zum Stichtag 01.12.2014 wurde eine systematische Recherche in den Datenbanken PubMed, Medline, Cochrane, EMBASE und Web-of-Science durchgeführt. Außerdem sah man die Referenzen aus bisher publizierten Reviews nach relevanten Arbeiten durch. Dabei wurde in „all fields“ nach den Stichworten [ACL] AND [osteoarthritis] gesucht. Zwei unab­ hängige Untersucher sonderten Duplika-

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Referenz [17]

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te und Arbeiten mit anderen Limits (keine deutsche oder englische Sprache, Fallkontrollstudien) aus. Danach erfolgte zunächst ein „title-review“ und anschließend nochmals ein „title-abstract-review“. Zur Ermittlung der Interobserver-Reliabilität wurde der Kappaindex berechnet. Die Untersuchung bezog nur Arbeiten in deutscher oder englischer Sprache und radiologische Untersuchungen ein, die eindeutig die Ermittlung der Arthroserate ermöglichten. Weiterhin war Voraussetzung, dass die jeweiligen Patientenkollektive dezidiert beschrieben waren.

software (comprehensive meta-analysis V2, Biostat, Englewood, NJ, USA). Alle Berechnungen erfolgten im RandomEffects-Modell [31]. Für alle berechneten Risiken ist das 95 %-Konfidenzintervall (95 % KI) ermittelt worden. Alle wesentlichen Ergebnisse wurden grafisch in Forest-Plots dargestellt. Der mögliche Publikationsbias wurde in Funnel-Plots aufgezeigt. Die Heterogenität der Studien er‑ mittelte man durch den I2-Wert nach Hig‑ gins [11].

Einschlusskriterien.  Publikationen mit einem klar definierten Zeitpunkt des Follow-up; Durchschnittsalter der Patienten unter 40 Jahre, sofern nicht auf das Lebensalter adjustiert wurde; klar definierte Kriterien zur Bestimmung von Arthrose (. Tab. 1); Abwesenheit von Arthrosezeichen zur Indexerfassung (oder getrennte Auswertung von positiven oder negativen Patienten).

Ergebnisse der Recherche und Auswahl der Publikationen

Ausschlusskriterien.  Revisionseingriffe; Durchschnittsalter der Patienten über 40 Jahre ohne Altersadjustierung bezüglich der Arthroseraten. Die statistische Auswertung zur Bestimmung des relativen Risikos (RR) erfolgte mit einer speziellen Metaanalyse-

Ergebnisse

Zum Stichtag 01.12.2014 identifizierte man bei der systematischen Recherche insgesamt 1656 Arbeiten. Übereinstimmend schlossen beide Observer 1406 Arbeiten nach der Durchsicht der Titel und Zusammenfassungen von der weiteren Untersuchung aus und sahen 101 Arbeiten primär als relevant an. Zudem wurden von Observer I n = 62 und von Observer II n = 87 Arbeiten identifiziert. Der InterobserverKappaindex betrug damit 0,91 (p = 0,810). Nach einer Konsensuskonferenz wählte man n = 140 Publikationen für die Volltextlesung aus. In die endgültige Auswer-

Zusammenfassung · Abstract Orthopäde 2016 · 45:81–90  DOI 10.1007/s00132-015-3170-4 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 G. Spahn · M. Schiltenwolf · B. Hartmann · J. Grifka · G.O. Hofmann · H.-T. Klemm

Das zeitabhängige Arthroserisiko nach vorderer Kreuzbandverletzung. Ergebnisse einer systematischen Literaturrecherche Zusammenfassung Zielstellung.  Anliegen der hier vorgelegten systematischen Literaturrecherche mit anschließender Metaanalyse war es, den zeitlichen Verlauf der Entstehung einer Gonarthrose nach vorderer Kreuzbandverletzung darzustellen und zu ermitteln. Methode.  Mit Stichtag 01.12.2014 wurde auf mehreren Datenbanken nach der Suchstrategie [ACL] AND [osteoarthritis] recherchiert. Von den primär gefundenen 1656 infrage kommenden Arbeiten wählten zwei Gutachter 140 Publikationen zur Volltextlesung aus. Schließlich wurden insgesamt 21 relevante Arbeiten identifiziert. Ergebnisse.  Die Arthroserate nach Kreuzbandverletzung nimmt mit dem Zeitintervall signifikant zu. Nach zwei Jahren beträgt

sie 6,9 %, nach fünf Jahren 32,2 %, nach sieben Jahren 36,3 % und nach zehn Jahren 79,6 %. Gleichzeitig steigt mit zunehmendem Zeitintervall nach der Verletzung auch der Schweregrad der radiologischen Gonarthrose. Das relative Arthroserisiko nach Kreuzbandverletzung erhöht sich bereits nach zwei Jahren um etwa das Doppelte. Nach sieben Jahren erhöht es sich auf etwa das 5-fache und verglichen mit dem Arthrosestatus zum Zeitpunkt der Verletzung nach zehn Jahren nochmals signifikant. Schlussfolgerungen.  Die Verletzung des vorderen Kreuzbandes stellt einen erwiesenen Risikofaktor für eine spätere, dem Altersdurchschnitt vorangehende Arthroseent-

wicklung dar. Bereits innerhalb der ersten fünf Jahre nach der Verletzung lassen sich in den bildgebenden Verfahren (Röntgen, Kernspintomografie) Zeichen einer zunehmenden Arthroseentwicklung nachweisen. Allerdings haben diese Veränderungen in der Regel für die Betroffenen Patienten noch keinen direkten Krankheitswert. Erst ab dem achten Jahr nach Verletzung kommt es zu einem deutlichen Anstieg der Arthroseraten höherer Schweregrade und damit zur Behandlungsbedürftigkeit der Gonarthrose. Schlüsselwörter Kniegelenk · Arthrose · Risiko · Kreuzband · Auftreten

The time-related risk for knee osteoarthritis after ACL injury. Results from a systematic review Abstract Aim.  The aim of this review was to evaluate the time-related risk for knee osteoarthritis in patients after ACL injury. Materials and methods.  The primary search was carried out in different medical databases with the deadline 12.01.2014. The search strategy for the evaluation was [ACL] AND [osteoarthritis] including “all fields”. All 1656 title/abstracts were reviewed by two independent researchers who selected 140 papers for full text review. Finally, a total of 21 relevant publications were identified for inclusion in this current paper.

tung wurden schließlich 21 Arbeiten einbezogen (. Abb. 1; . Tab. 2). Gründe für den Ausschluss waren in den jeweiligen Arbeiten angegebene Altersspannen (14–71 Jahre ohne Adjustierung), fehlender Bezug zum Arthrosegrad zum Zeitpunkt der Verletzung, Duplikate, Heterogenität im Follow-up (fehlen‑ der Zeitpunkt), Einschluss von Knieluxationen, aus dem Abstract nicht erkennba­ re Publikationstypen (Vorwort, Leserbrie­ fe), ungenaue Bestimmung der Arthroseraten, Einschluss von Patienten, die sich einer Revisionschirurgie unterzogen. Insgesamt 19 Arbeiten ließen erst nach Lesung der Volltexte erkennen, dass sie für

Results.  The incidence of knee osteoarthritis rises significantly over time. Two years after injury it was 6.9 %, after 5 years 32.2 %, after 7 years 36.3 %, and after 10 years 79.6 %. At the same time, the crude relative risk of OA rises as the time interval since injury increases. The relative risk of OA has already doubled by 2 years after ACL injury). By 7 years it has increased fivefold and compared with OA status at the time of injury it is still increasing significantly after 10 years.

die Beantwortung der Fragestellung nicht infrage kamen.

Relatives Arthroserisiko nach Kreuzbandruptur Keiner Arbeit stellte die Arthroseraten nach einem Jahr dar. Die Arthroserate nach Kreuzbandverletzung nimmt mit dem Zeitintervall signifikant zu (p 

[The time-related risk for knee osteoarthritis after ACL injury. Results from a systematic review].

The aim of this review was to evaluate the time-related risk for knee osteoarthritis in patients after ACL injury...
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