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Die sogenannte Rübenzieherlähmung - eine heute seltene Differentialdiagnose C. Schröter. H.-J. Braune. G. Huffmann Neurologische Universitäts-Klinik und Poliklinik Marburg (Leiter: Prof. Dr. G. Huffmann)

This is areport on a student of biology of 25 years of age who presented with left-sided pareses in the innervated area of the n. peronaeus communis after having remained in a squatting position far several hours for withdrawing and processing water sampIes. Aspects of differential diagnosis are discussed with particular reference to the so-called turnip-harvester's pressure palsy syndrome, a neuropathy triggered by occupational stress caused by outdated plucking ar digup methods for beets and potatoes. This syndrome is now rare, and the authors deliberate on its etiology.

Einleitung Erstmals im Jahre 1883 erschien in der Berliner Klinischen Wochenschrift von W Zenker eine "Mittheilung über eine bisher nicht beschriebene Beschäftigungs-Neurose", weIche "als mehr oder weniger stark ausgesprochene Gefühls- oder Bewegungslähmung des unteren Theils einer oder auch zugleich beider unterer Extremitäten nicht selten bei Leuten (Kartoffeln-Feldarbeitern) vorkommt, weIche und nachdem sie längere Zeit in knieender oder knie hockender Stellung, am Boden mit den Händen arbeitend, zugebracht haben". Zenker nahm eine traumatische Ursache an, "entstanden durch den Insult langdauernder Knickung resp. Compression der beiden großen Unterschenkelnerven in der Beuge der längere Zeit forcirt-flectirt gehaltenen Kniee". In Symptomatik und Verlauf analoge Fälle wurden unter der Bezeichnung "Rübenzieher-" oder "Kartoffelbuddlerneuritis" von Kroll (1934) beschrieben. Soweit wir die Literatur erfassen konnten, wurde zuletzt im Jahre 1958 von D. Tönnis über die sog. "Rübenzieherlähmung" berichtet. Die Bezeichnung beruhte auf dem besonders typischen Auftreten des Syndroms bei landwirtschaftlichen Arbeitern, die auf Knien rutschend Rüben verzo-

Fortschr. Neurol. Psychiat. 58 (1990) 351- 353 @ Georg Thieme Verlag Stullgart· N ew York

Zusammenfassung Es wird über einen 25jährigen Biologiestudenten berichtet, bei dem nach stundenlanger hockender Haltung zur Entnahme und Verarbeitung von Gewässerproben Paresen im Versorgungsbereich des N. peronaeus communis links auftraten. Differentialdiagnostische Aspekte werden diskutiert unter besonderer Berücksichtigung der sog. "Rübenzieherlähmung". Überlegungen zur Ätiologie dieses heute seltenen Syndroms werden dargelegt.

gen. Es wurden hierbei Paresen der vom N. peronaeus communis versorgten Muskulatur beschrieben, meist beiderseits auftretend. Häufig wurden aber auch darüber hinausgehend Schwächen im Bereich des Oberschenkels und der Hüftmuskulatur beobachtet. Daß auch heute noch gelegentlich an das Syndrom differentialdiagnostisch gedacht werden muß, soll folgende Kasuistik belegen. Kasuistik Ein 25jähriger bis dahin völlig gesunder Biologiestudent berichtete, eine Woche vor der Untersuchung in unserer Poliklinik für ein Praktikum in einem Moor Wasserproben entnommen und untersucht zu haben. Dabei habe er wiederholt über einen Zeitraum von etwa 8 Stunden eine extrem tief hockende Haltung eingenommen (Abb. I). Bereits nach 2 bis 3 Stunden der Arbeit habe er ein Kribbeln im Bereich des linken Fußrückens wahrgenommen. Er sei von der Arbeit so gefesselt gewesen, daß er den Mißempfindungen keine Bedeutung beigemessen habe. Am Abend habe er den linken Fuß nicht mehr anheben können. Schmerzen habe er zu keinem Zeitpunkt gehabt. Der Patient war durch die Muskelschwächen nicht sehr beunruhigt, so daß er sich erst eine Woche später zur ärztlichen Untersuchung vorstellte. Eine Veränderung der Lähmung sei bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingetreten.

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The So-CaUed Turnip-Harvester's (Pressure) Palsy - An Occupational Disease ofManual Agricultural Labourers Harvesting Beets or Potatoes by Outdated Plucking or Digup Methods

Fortschr. Neuro/. Psychiat. 58 (/990)

C Schröter, H.-l. Braune, G. Huffmllnn

Bei einer klinischen Verlaufsuntersuchung 14 Tage später betrug der Paresegrad des M. tibialis anterior und des M. extensor digitorum longus links 4/5 sowie der Mm. peronaei 2/5. Es war also bereits zu einer geringen Rückhildung der Paresen gekommen. Diskussion

Abb.1 Hockstellung des 25jährigen Patienten während der Untersuchungen im Moor, nach denen die Paresen auftraten.

Bei der neurologischen Untersuchung stellten sich am linken Unterschenkel eine Paralyse der Mm. peronaei, Paresen des M. tibialis anterior vom Kraftgrad 2/5 und des M. extensor digitorum longus vom Kraftgrad 4/5 dar. Überraschenderweise waren die Oberflächen- und Tiefensensibilität intakt, insbesondere ergab sich keine Hypästhesie im Peronäusgebiet. Reflexanomalien lagen nicht vor. Im übrigen war der neurologische Befund regelrecht. Nebenbefundlich zeigten sich Hohlfüße beiderseits, eine Syndaktylie der 2. und 3. Zehen beider Füße sowie ein leichter Beckenschiefstand. Die elektroneurographische Untersuchung ergab für den N. peronaeus communis links eine distale motorische Latenz von 3,9 ms bei einem biphasischen Muskelaktionspotential von 6 mV. Die maximale motorische Nervenleitgeschwindigkeit betrug am Unterschenkel 43 m/s, im Fibulakopfbereich 55 m/s. Die F-Wellenlatenz wurde mit 50,0 ms gemessen. Die entsprechenden Werte für den N. peronaeus communis rechts waren: distale motorische Latenz 3,5 ms bei einem biphasischen Muskelaktionspotential von 6 mV, die maximale motorische Nervenleitgeschwindigkeit betrug am Unterschenkel 44 m/s und im Fibulakopfbereich 60 m/s. Die F-Wellenlatenz betrug 47,9 ms. Auch bei der Untersuchung des N. tibialis beiderseits ergaben sich für die obengenannten Parameter Normalbcfunde. Elektromyographisch fand sich 18 Tage nach Beginn der Symptomatik Denervationsaktivität im M. tibialis anterior links in Form von positiven Wellen und im M. peronaeus longus links in Form von Fibrillationspotentialen und positiven Wellen. Während sich im M. peronaeus longus keine Willkürpotentiale darstellten, zeigten sich im M. tibialis anterior überwiegend physiologische Potentiale motorischer Einheiten. Der M. gastrocnemius, der M. quadriceps femoris und der M. glutaeus medius links wiesen elektromyographisch Normalbefunde auf. Eine Röntgenaufnahme des Beckens a. p. war bis auf einen unvollständigen Bogenschluß des ersten Sakralwirbels unauffällig.

In Anbetracht der Paresen der vom N. pemnaeus communis versorgten Muskeln am linken Unterschenkel war zunächst an einen N. peronaeus-Druck.l'd/llden am Fibulaköpfchen, insbesondere im Rahmen einer hereditären Neuropathie mit Neigung zu Druckliihmunxen ("tomakulöse Neuropathie"), zu denken (Behse U. Mitarb. 1972, Madrid U. Bradley 1975, Meier U. Moll 1982). Bei dieser Erkrankung kommt es rezidivierend zu multiplen Mononeuropathien, ausgelöst durch minimale Traumen. Typisch sind Veränderungen der Nervenleitgeschwindigkeit vor allem an den betroffenen, aber auch an klinisch unauffälligen Nerven, betont in den distalen Segmenten. Charakteristisch für die Neuropathie sind "wurstförmige" (Behse u. Mitarb. 1972) Verdickungen der Myelinscheiden. Bei unserem Patienten ergab sich kein Hinweis auf ein familiäres Leiden. Auch waren die durchgeführten Nervenleitgeschwindigkeitsmessungen im Normbereich, und bei der elektromyographischen Untersuchung fanden sich keine chronisch neurogen veränderten Potentiale motorischer Einheiten, wie sie bei der genannten hereditären Neuropathie - bedingt durch eine axonale Degeneration -- vorkommen. Allgemein sprachen gegen das Vorliegen eines N. peronaeus-Druckschadens das Fehlen von sensiblen Ausfällen, von Verzögerungen der Nervenleitgeschwindigkeit im Bereich des Fibulaköpfchens sowie eindeutige anamnestische Hinweise auf eine Druckläsion. Des weiteren mußte an ein Tihiali.l'-anteriorSyndrom gedacht werden. Diesbezüglich fehlten jedoch eine Angabe von Schmerzen, eine Hypästhesie im Versorgungsgebiet des N. peronaeus profundus und die als typisch angesehene "elektrische Stille" im EMG. Auch wäre die Parese der Mm. peronaei hierdurch nicht zu erklären gewesen. Ferner war eine Läsion der Nerven wurzel L5 in Erwägung zu ziehen. Hierfür fehlten die entsprechenden anamnestischen Angaben, insbesondere in bezug auf ein lumhales Schmerzsyndrom mit radikulärer Ausstrahlung und eine entsprechende Hypästhesie. Das Zeichen nach Trendelenhurf{ war negativ, auch elektrophysiologisch ergab sich im M. glutaeus medius ein Normalbefund. Weitere Differentialdiagnosen für Fuß- und Zehenheberparesen, wie eine Polyneuropathie vom Multiplextyp, etwa nach einer Borrelien-Infektion (Garin-BujadouxBannwarth-Syndrom), ließen sich dureh die Anamnese sowie durch die klinischen und laborchemischen Befunde ausschließen. Die klinischen und elektrophysiologischen Befunde sprachen für eine periphere Nervenschädigung proximal des Fibulaköpfchens. Unter Berücksichtigung der anatomischen Gegebenheiten kamen als Ort der Läsion einerseits das Foramen infrapiriforme und der M. piriformis in Frage, andererseits die Linea terminalis. Wie verschiedene Untersucher gezeigt haben, zieht der N. ischiadicus in 0,8'% bis 2,6'X, ganz und in 6% his

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Die sogenannte Rühenzieherlähmung - eine heuteseltene D(fferentialdiagnose

Im Bereich der Linea terminalis des Beckens besteht die Möglichkeit einer Druck- und Dehnungsschädigung des N. ischiadicus. Hier ist auf den besonderen Verlauf der zum N. peronaeus gehörigen Fasern hinzuweisen, die aus dem Plexus lumbosacralis kommend über die Knochenkante der Linea terminalis vom großen ins kleine Becken gelangen. Demgegenüber verlassen die Fasern für den N. tibialis das Becken ohne wesentliche Knickbildung. Die exponierte anatomische Lage der Fasern des N. peronaeus im Bereich der Linea terminalis und der periphere Verlauf um das Wadenbein herum sind mögliche Ursachen der besonderen Empfindlichkeit gegenüber einer Dehnungsbeanspruchung des N. ischiadicus, z. B. bei langandauerndem Hocken. Untersuchungen an anatomischen Präparaten durch D. Tönnis zeigten, daß es bei starker Beugung im Hüftgelenk zu einer erheblichen Dehnung des um den M. obturatorius und die Mm. gemelli herumziehenden N. ischiadicus kommt. Gleichzeitig kann es zu einer Zerrung des Plexus lumhosacralis kommen. Diese Zugwirkung setzt sich schließlich bis an die Foramina intervertebralia fort und preßt hier die Wurzeln gegen die Ränder der Foramina. Tönnis nahm einen solchen Mechanismus als Ursache der sog. "Rübenzieherlähmung" an. In der zitierten Literatur wurden unter dem Bild der "Rübenzieherneuritis" Paresen der vom N. ischiadicus, insbesondere vom N. peronaeus communis innervierten Muskulatur in unterschiedlichem Ausmaß beschrieben, meist von Sensibilitätsstörungen begleitet. Darüber hinaus wurde in einzelnen Fällen auch eine Beteiligung des N. femoralis und der Nn.

glutaei beobachtet. Diese diffusen Muskelausfälle wurden auf eine Druck- und Traktionsschädigung mehrerer Wurzeln zurückgeführt. Vermutlich wurde ein Teil der in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts beschriebenen Fälle durch die hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Drucklähmungen bedingt. In den detaillierten Anamnesen und Untersuchungsbefunden wurden aber nie bereits zuvor aufgetretene oder Restzustände von Paresen auch an den Armen erwähnt. Auch ergab sich kein Hinweis auf das Vorliegen einer Heredität. Die sog. "Rübenzieherlähmung" wurde am häufigsten zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr beschrieben. Die Prognose ist gut, die Ausfälle bilden sich in der Regel je nach dem Ausmaß der Schädigung in Wochen oder Monaten zurück. Bei dem hier geschilderten Patienten beschränkte sich die neurologische Symptomatik auf das Versorgungsgebiet des N. peronaeus communis. In Anbetracht der anamnestisch geschilderten, über mehrere Stunden eingenommenen hockenden Haltung wurde eine Druck- und Dehnungsschädigung des peronäalen Anteils des N. ischiadicus analog der sog. "Rübenzieherlähmung" angenommen. Literatur Behse. F, F Buchthai. F Carlsen. G. G. Knappeis: Hereditary neuropathy with liability to pressure palsies. Electrophysiological and histopathological aspects. Brain 95 (1972) 777 -794 Brown, 1. A .. M. A. Braun. T. C Namey: Pyriformis Syndrome in a 10Year-old Boy as a Complication of Operation with the Patient in the SittingPosition. Neurosurgery 23 (1988) 117-119 Kroll, F W: Zum Krankheitsbild der Rübenzieherneuritis. Dtsch. med. Wschr. 60(\ 934)669-671 Madrid, R .. W G. Bradley: The Pathology ofNeuropathies with Focal Thickening of the Myelin Sheath (Tomaculous Neuropathy). J. Neurol. Sei. 25 (\ 975)415-448 Meier, C, C Moll: Hereditary Neuropathy with liability to pressure palsies. Report of two families and review ofthe literature. J. Neurol. 228(\ 982)73-93 Reiche!, G., 1. Gaerisch: Das Piriformis-Syndrom. Zbl. Neurochir. 49 (1988)178-184 Synek. V. M.: The Pyriformis Syndrome: Review and Case Presentation. Clin. Exp. Neurol. 23 (1987) 31-37 Tönnis. D.: Zur Entstehung von Drucklähmungen an den unteren Extremitäten. Fortsehr. Neurol. Psychiat. 26 (\ 958)483 -494 Zenker, W: Mittheilung über eine bisher nicht beschriebene Beschäftigungs-Neurose. Ber\. Klin. Wschr. 41 (1883) 628-631 Dr. med. C Schröter

Neurologische Universitäts-Klinik und Poliklinik Rudolf-Bultmann-Str. 8 D- 3550 Marburg/Lahn

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32,9'% teilweise durch den M. piriformis (Reichel u. Gaerisch 1988). Synek (1987) berichtete, daß in 7,1'1., der personäale Anteil des N. ischiadicus allein durch den genannten Muskel zieht, so daß Muskelschwellungen zu einem Engpaßsyndrom führen können. Irritationen von Fasern des N. ischiadicus treten bei dem sog. Pirijbrmissyndrom auf. Es ist durch Schmerzen im Gesäß gekennzeichnet, die in das Steißbein und den Unterschenkel ausstrahlen. Die Schmerzen werden bei passiver forcierter Innenrotation und bei aktiver Außenrotation im Hüftgelenk verstärkt. Gelegentlich findet sich ein Taubheitsgefühl im Bereich des N. cutaneus femoris posterior. Brown et al. (1988) sowie Reichel u. Gaerisch (1988) beschreiben bei dem Syndrom im Hüftgelenk eine leichte Außenrotationsschwäche. Synek (1987) berichtet demgegenüber über eine unterschiedlich ausgeprägte Schwäche und elektromyographische Veränderungen in der vom N. peronaeus innervierten Muskulatur sowie im M. glutaeus maximus. Das Leitsymptom des Piriformissyndroms, die Schmerzen im Gesäßbereich, wurden von dem von uns beschriebenen Patienten nicht angegeben, auch bestanden keine Schmerzen bei Rotationsbewegungen im Hüftgelenk. Somit ist auch das Piriformissyndrom als Ursache der Paresen unwahrscheinlich.

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[The so-called turnip-harvester palsy--a rare differential diagnosis today].

This is a report on a student of biology of 25 years of age who presented with left-sided pareses in the innervated area of the n. peronaeus communis ...
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