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Die Rolle zirkadianer Rhythmik im Alter und bei ADHS – ein Überblick

Autor

A. Popa-Wagner

Institut

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Rostock

Schlüsselwörter

Zusammenfassung

Abstract

Die zirkadiane Rhythmik koordiniert die physiologischen Prozesse, um die homöostatische Kapazität eines Organismus zu erhöhen und ihm so zu einem Überlebensvorteil und einer Optimierung des Energiehaushalts zu verhelfen. Da es vielfach-oszillierende zirkadiane Mechanismen sind, die einen Einfluss auf Gesunderhaltung und ebenso auf den Alterungsprozess haben, gibt dieser Beitrag einen Überblick über das Zusammenspiel der zentralen Uhr im Hypothalamus und den peripheren Uhren sowie dessen Bedeutung für die psychische Gesundheit wie auch die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung und den Alterungsprozess.

The circadian rhythms coordinates the internal physiology to increase the homeostatic capacity thereby providing both a survival advantage to the system and an optimization of energy budgeting. Because multiple-oscillator circadian mechanisms are likely to play a role in regulating human health, and may contribute to the aging process, we give an overview of the relationship between the central clock in the hypothalamus and peripheral clocks for psychological health and aging.

●▶ Zirkadiane Rhythmik ●▶ Clock-Gene ●▶ Gesunderhaltung ●▶ Alterung ●▶ ADHS Key words

●▶ circadian rhythm ●▶ clock genes ●▶ health ●▶ aging ●▶ ADHD



Einleitung



Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0042-113959 Fortschr Neurol Psychiatr 2016; 84: S77–S79 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York · ISSN 0940-8584 Korrespondenzadresse Prof. Dr. rer. nat. Aurel Popa-Wagner Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Rostock Gehlsheimer Str. 20 18147 Rostock [email protected]

Die innere zeitliche Tagesrhythmik koordiniert physiologische Prozesse und hilft dem Organismus, sich optimal auf tägliche Veränderungen äußerer Bedingungen wie Licht, Temperatur sowie Luftfeuchtigkeit im Rahmen eines 24-stündigen TagNacht-Rhythmus einzustellen [1]. Des Weiteren koordiniert die zirkadiane Rhythmik physiologische Funktionen wie den Schlaf- und Wachzustand, den Blutdruck und die Körpertemperatur mittels biochemischer und metabolischer Prozesse, um so die homöostatische Kapazität des Organismus zu erhöhen und ihm zu einem Überlebensvorteil und einer Optimierung des Energiehaushalts zu verhelfen [2]. Genau genommen handelt es sich nicht um eine „innere Uhr“, sondern um eine Vielzahl oszillierender zirkadianer Mechanismen. Unser Verständnis von Physiologie und Verhalten hat sich durch die Entdeckung dieser molekularen Uhren verändert. Vollständig aufgeklärt sind die rhythmischen Mechanismen, über die transkriptionale Signale die physiologischen Vorgänge und Verhaltensprozesse koordinieren, allerdings noch nicht. Im folgenden



Abschnitt werden Forschungsbefunde zusammengefasst, die dazu beitragen, das Zusammenspiel von zentraler Uhr und den peripheren Uhren zu verstehen.

Zirkadianes System und Clock-Gene



Angefangen beim zentralen Nervensystem (ZNS) bis in die Peripherie ist unser gesamter Körper mit einem zirkadianen Uhrwerk ausgestattet, das in hierarchischen Kaskaden organisiert ist. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem zirkadianen Uhrwerk im Nucleus suprachiasmaticus (SCN) zu, auch als zentrale Uhr bezeichnet, das über rhythmische Ausgabesignale die peripheren Oszillatoren steuert [3]. Als wichtiger Zeitgeber für die Synchronisation dieses zirkadianen Uhrwerks im SCN gilt der Licht-Dunkel-Wechsel, wofür der Lichteinfall über die Photorezeptoren der Retina signalgebend ist. Angetrieben wird der zirkadiane Rhythmus dieses Uhrwerks über eine negative Feedbackschleife in Form eines Wechselspiels von Genaktivierung und

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The Role of Circadian Rhythms in Aging and ADHD

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-inhibition [4]. Durch den Einfall von Tageslicht werden über die Aktivatorproteine BMLA1 / NPAS2 und CLOCK Cryptochrome (CRY)- und Period(PER)-Gene aktiviert, die ihrerseits wieder zu einer Zunahme an PER1 – 3- und CRY1 – 2-Repressoren über den Tag führen. Diese Zunahme von PER1 – 3- und CRY1 – 2-Repressoren blockiert den CLOCK:NPAS2 / BMAL1-Übertragungskomplex, sodass im Laufe der Nacht die Menge an CRY und PER in der Zelle absinkt und die Blockade aufgelöst wird, um eine erneute Aktivierung von CRY und PER zu ermöglichen. So entsteht über diesen Mechanismus eine sich selbst regulierende Schleife, die den Rhythmus der zirkadianen Uhr bestimmt. Als Beispiel für das Zusammenspiel von zentraler Uhr und peripheren Oszillatoren kann die Produktion des Stresshormons Kortisol, eines adrenergen Glukokortikoids, gesteuert über die sogenannte Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (im Englischen als HPA Axis bezeichnet), angeführt werden. Reguliert wird die Kortisolsekretion über Ausgangspfade des SCN und eine zusätzliche zirkadiane Uhr in der Nebenniere [4]. Die Forschungsergebnisse der Gruppe um Oster et al. am Tiermodell zeigten, dass beide Uhren miteinander synchron laufen müssen, um den Kortikoidrhythmus aufrechtzuerhalten [4]. Der Ausfall einer der beiden Uhren führt zu einer Störung der Kortisolausschüttung und kann negative gesundheitliche Auswirkungen mit sich bringen.

Der Alterungsprozess – ein systembiologischer Ansatz



Der Alterungsprozess geht sowohl beim Menschen als auch bei Versuchstieren mit einem Rückgang der motorischen, sensorischen und kognitiven Leistungsfähigkeit einher, teilweise aufgrund der zunehmenden Schädigung auf molekularer, zellulärer, geweblicher und organischer Ebene über die Lebensspanne. Es sind aber nicht diese zunehmenden Schädigungen allein, die für die systematische Verschlechterung und den Funktionsverlust im Alter verantwortlich gemacht werden können, sondern auch alterungsbedingte Veränderungen des zirkadianen Rhythmus [5].

Clock-Gene und Alterungsprozesse Alterungsprozesse können in einer punktuell reduzierten Genexpression der Gene zum Ausdruck kommen, die die wichtigsten Clock-Gene wie bspw. BMAL1 (im SCN, im Kortex, im Hippocampus und in der Caudatus-Putamen-Region) oder veränderte PER2Schwankungen im CA1, im DG, im dorsomedialen Hypothalamus und im piriformen Kortex kodieren [6]. Kondratow et al. konnten zeigen, dass Mäuse mit einer fehlerhaften BMAL1-Variante eine verkürzte Lebenserwartung und verschiedene Symptome von vorzeitiger Alterung wie beispielsweise Gewebeatrophie und kognitive Defizite aufweisen [7]. Auch geht die Genexpression von BMAL1, CRY1 und PER2 in der Zirbeldrüse im Zusammenhang mit einer Alzheimererkrankung verloren [8]. Ähnliche, aber keine signifikanten Veränderungen im Schlaf-Wach-Rhythmus wurden im Mausmodell für die Alzheimererkrankung der APPxPS1-Variante berichtet [6]. Am Tiermodell im fortgeschrittenen Lebensalter konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass eine Phasenverschiebung des LichtDunkel-Wechsels zu vorzeitiger Sterblichkeit führt [9] und umgekehrt genetisch veränderte Mäuse mit einem im Hinblick auf Nahrungsaufnahme und Körpertemperatur ausgerichteten zirkadianen Rhythmus eine längere Lebenserwartung haben [10]. Ebenfalls von einer zirkadianen Rhythmik bestimmt wird die Produktion von Melatonin, einem Metaboliten des Tryptophanstoffwechsels, in der Epiphyse. Melatonin gilt als wichtiger Bo-

tenstoff für das Signal des Tageszyklus. Eine Störung des Melatoninhaushalts hat einen gestörten Schlaf-Wach-Rhythmus zur Folge. Studien konnten zeigen, dass der Melatoninausstoß bei älteren Menschen vermindert ist und die Amplitude der zirkadianen Rhythmik abnimmt [11]. Das kann u. a. auf den verminderten Lichteinfall aufgrund von Verhaltensänderungen oder Erkrankungen der Netzhaut oder des Glaskörpers zurückgeführt werden. Durch eine Verbesserung der Beleuchtungssituation konnte bei älteren Menschen sowohl der Melatoninspiegel erhöht als auch eine Veränderung im zirkadianen Rhythmus erreicht werden, was eine Verbesserung des Schlaf-Wach-Rhythmus zur Folge hatte [11].

Zirkadiane Rhythmen und Gesundheit



Das Vorliegen einer Störung der zirkadianen Rhythmik kann ungünstige Auswirkungen auf unseren Gesundheitszustand haben. Während Störungen der zirkadianen Rhythmik mit einer erhöhten Erkrankungs- und Sterberate assoziiert sind [12], wird die stabile zirkadiane Rhythmik mit einem guten Gesundheitszustand und verbesserter Lebensqualität in Verbindung gebracht [13]. Gelänge es, den Lebensstil mit der zirkadianen Uhr in Einklang zu bringen, könnte dies einen positiven Einfluss auf den Gesundheitszustand haben. Aufgrund der Rahmenbedingungen im Alltag (z. B. Arbeit, Schule) gelingt das in den seltensten Fällen, was langfristig zur Entstehung unterschiedlicher Krankheitsbilder und auch psychischer Störungen führen kann.

Zirkadiane Dysfunktion bei AufmerksamkeitsdefizitHyperaktivitätsstörung (ADHS) Auch im Zusammenhang mit der Entstehung und Persistenz der Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung scheint der zirkadiane Rhythmus eine bedeutende Rolle zu spielen, wie der folgende Überblick zeigt. Seit einigen Jahren werden Veränderungen im zirkadianen Rhythmus v. a. im Zusammenhang mit Schlafproblemen bei ADHS mit dem Ziel untersucht, Empfehlungen für eine evidenzbasierte Behandlung von Schlafstörungen bei dieser Personengruppe geben zu können. Unterschiede in der Rhythmik können sich sowohl in einer Präferenz für bestimmte Tages- bzw. Nachtzeiten äußern als auch zu Schlafstörungen führen. Studien zeigen, dass ca. 10,8 % der Bevölkerung dem späten Chronotyp angehören und daher eher am Abend bis in die Nacht hinein aktiv sind und es vorziehen, morgens später aufzustehen [14]. 40,2 % der Bevölkerung hingegen weisen eine Präferenz für die Morgenstunden auf und ziehen das zeitige Zubettgehen und das frühe Aufstehen vor. Studien mit ADHS-Patienten zeigen hingegen, dass es sich bei dieser Personengruppe genau umgekehrt verhält [15, 16]. ADHS im Erwachsenenalter ist mit der Präferenz für die späten Abendstunden assoziiert (40 %) und nur ca. 18,5 % beschreiben sich als frühen Chronotyp. Die Vorliebe für die späten Abendstunden korreliert mit erhöhten Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, und einem vermehrt impulsiven Verhalten. Damit im Zusammenhang stehen kann ein Schlafdefizit, da der späte Chronotyp auch mit einer verkürzten Schlafzeit assoziiert ist [14]. Weiss et al. halten in einem Studienüberblick fest, dass eine Zufuhr von Melatonin zu einem Rückgang von Schlafstörungen bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS führt und mittlerweile auch manualisierte, evidenzbasierte Interventionen zu einer Verbesserung der Schlafqualität zur Verfügung stehen [17]. Wichtig

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sind solche Erkenntnisse v. a. im Hinblick darauf, dass Schlafstörungen zu kognitiven und damit auch schulischen Problemen sowie zu Einschränkungen der exekutiven Funktionen bei allen Altersgruppen führen. Eine Verbesserung der Schlafqualität kann nicht nur diese Problematik verbessern, sondern führt auch ganz allgemein zu positiven Auswirkungen auf das Verhalten und zu mehr Lebensqualität bei den Betroffenen.

Fazit



Dieser Überblick zeigt, dass eine Veränderung der zirkadianen Rhythmik während des Alterns auftritt und grundsätzlich eine Desynchronisation während der gesamten Lebensspanne zu Beeinträchtigungen des Gesundheitszustands führen kann. Ebenso wurde angedeutet, an welchen Stellen für die Anpassung täglicher Aktivitäten oder für die Entwicklung von breit angelegten Interventionen zur Gesunderhaltung angeknüpft werden kann. Da noch nicht für alle Bereiche evidenzbasierte Empfehlungen für eine Synchronisation der zirkadianen Rhythmik gegeben werden können, ist weitere Forschung auf diesem Gebiet nötig. Interessenkonflikt: Der Autor erklärt, dass keine wirtschaftlichen oder persönlichen Verbindungen bestehen.

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[The Role of Circadian Rhythms in Aging and ADHD].

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