Originalarbeit

Der gute Arzt The Good Doctor

Autor

Klaus Dörner1, 2

Institute

1 2

Schlüsselwörter

" Ethik ● " Anthropologie ● " Beziehungsstörungen ● " Inklusion ●

Keywords

" ethics ● " anthropology ● " relationship disorders ● " inclusion ●

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1369941 Psychiat Prax 2014; 41, Supplement 1: S16–S18 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 1611-8332 Korrespondenzadresse Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner Nissenstraße 3 20251 Hamburg

Westfälische Klinik für Psychiatrie, Gütersloh Lehrstuhl für Psychiatrie, Universität Witten/Herdecke

Zusammenfassung Die Gründer der Psychiatrie um 1800 ordneten das neue Fach der Philosophie und Medizin zu. Nach einseitiger Medizinisierung mit fatalen Folgen hat die Psychiatriegeneration nach 1945 sich bemüht, diese Ambivalenz wiederherzustellen. Die Auswirkungen werden am Beispiel einiger

praktischer Situationen diskutiert: die Arzt-Patient-Angehörigen-Beziehung, psychische Störungen als Beziehungsstörungen, die normative Ambivalenz zwischen Selbstbestimmung und „Bedeutung für Andere“, Folgen für das postindustrielle Menschenbild, Ethik der Selbsthilfegruppen und die menschenrechtlich-ethische Herausforderung der Inklusion.

Der Titel meines gleichnamigen Buchs [1] lässt sich heute nicht mehr einfach auf die Psychiatrie übertragen; denn einmal steht der Arzt oder Psychiater heute gleichrangig neben dem psychologischen Psychotherapeuten, von den anderen psychiatrischen Berufen zu schweigen. Daher werde ich im Text öfters das Kürzel „Therapeut“ verwenden. Zum anderen – und das ist meine These – befinden wir uns gegenwärtig in einem Epochenumbruch – von der Industrieepoche zu einer anderen, natürlich noch nicht benennbaren Epoche, ein Umstand, der sich u. a. auch auf die Ethik auswirkt. Den Epochenumbruch setzte ich – aus vielen Gründen – mit der Zeit um 1980 hypothetisch fest. Entstanden ist die Psychiatrie als wissenschaftliche Disziplin mit Beginn der Industrieepoche um 1800. Ihre Pioniere stritten sich in den ersten Jahrzehnten um die Zugehörigkeit der Psychiatrie, nach den „Psychikern“ gehörte sie zur Philosophie, nach den „Somatikern“ zur Medizin. Am ehesten konnte man sich noch auf das Selbstverständnis der Psychiatrie als einer anthropologischen Disziplin einigen. Je mehr aber im Laufe des 19. Jh. die Medizin zur Leitwissenschaft der Industrieepoche wurde – mit dem Fortschrittsglauben an die technische Machbarkeit einer leidensfreien Gesellschaft –, bemühte man sich um die Anerkennung der Psychiatrie als rein medizinische Wissenschaft, wovon wir bis heute überwiegend geprägt sind: Der Arzt oder später Therapeut hatte am isolierbar ge-

dachten Individuum eine Krankheit oder Störung zu diagnostizieren, was ihn – bei Akzeptanz der Krankenkassen – zum Therapieren berechtigte. Man folgte damit dem anderweitig so erfolgreichen Defizitmodell der Medizin. Die Heilungsmittel wurden immer mehr zur Anwendung körperlicher, psychischer oder auch sozialer Techniken. Versorgungsmäßig hatte diese Medizinisierung des Helfens einerseits die Professionalisierung des Helfens und andererseits die „fabrik-analoge“ Institutionalisierung des Helfens zur Folge. Die insbesondere mit Letzterer unweigerlich verbundene Objektivierung und ethische Entwertung der Patienten lässt sich in ihren Auswirkungen bis hin zum systematischen Hungersterben im Ersten Weltkrieg und zum psychiatrischen Euthanasieprogramm im Zweiten Weltkrieg verfolgen. Es ist dann wohl kein Wunder, dass die 1. Psychiatergeneration nach dem Zweiten Weltkrieg (1945 – 1965) bestrebt war, das inzwischen fast abgestorbene philosophische Standbein der Psychiatrie wieder stark zu machen: ob man nun phänomenologisch, existenzphilosophisch, daseinsanalytisch oder anthropologisch dachte oder ob man sich auf Kant, Hegel, Schelling oder die DialogPhilosophen (Buber) bezog – die meisten deutschen, aber z. B. auch polnischen Psychiater bemühten sich um eine ethisch gute Psychiatrie durch Orientierung an einem anderen Menschenbild; denn bevor der Mensch als Individuum isolierbar ist und damit dem einseitig medizinischen Defizitmodell entspricht, ist er ein Beziehungswe-

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sen, leben die Menschen in Beziehungen. Die Psychiatrie ist daher eine – auch philosophische – Geisteswissenschaft, lange bevor sie eine – auch naturwissenschaftliche – Handlungswissenschaft ist. Selbst das Gehirn ist ein „Beziehungsorgan“ [2]. Fängt also jede psychiatrische Situation mit der dyadischen Arzt/ Therapeut-Patient-Beziehung an, so dauerte es noch bis in die 70er-Jahre, bis wir auch die Angehörigen als eigene Wesen entdeckten, die im Fall einer psychischen Erkrankung gleich viel leiden. Die ethisch vollständige und damit gute Beziehung ist also nicht nur zwei-, sondern dreidimensional, ist also eine trialogische Arzt/Therapeut-Patient-Angehörigen-Beziehung. Und zu den Angehörigen kommen schließlich auch noch im Fall der chronisch-psychisch Kranken und der zunehmenden Zahl der Singles die Bürger als Nachbarn hinzu. In Abwandlung eines Wortes von Karl Jaspers könnte man sagen: „Die Wahrheit beginnt zu Dritt“ – sie ist dann nicht mehr privat-unverbindlich, sondern sozial-verbindlich. Um nun das handlungsmächtige medizinische Bein und das beziehungsmächtige philosophische Bein der Psychiatrie zum Gleichschritt zu bringen, empfiehlt sich das Bild, dass in allen Beziehungen (auch in der Beziehung zu meiner geliebten Frau) 3 Dimensionen unterschieden werden können: 1. In der aktiv-asymmetrischen Subjekt-Objekt-Dimension erbringe ich Leistungen, indem ich den Anderen, das Objekt meines Tuns, durch Anwendung körperlicher, psychischer oder sozialer Techniken dazu bringe, sich zu ändern: Subjekt verändert Objekt, was freilich schon damit anfängt, dass ich behaupte „Ich verstehe dich“ (Subjekt versteht Objekt). Dank meines besseren Wissens, das der Patient vom Profi auch erwartet, darf ich sogar von oben herunterkommen und auch Geld dafür nehmen. 2. Dagegen steht die passiv-asymmetrische Objekt-Subjekt-Dimension: Denn damit ich mit meinem aktiven Leisten nicht der Gefahr erliege, dass ich den Anderen mir aneigne, ihn schädige oder töte, habe ich mein Leisten in eine tragfähige und vertrauensvolle Beziehung einzubetten. Zu einer solchen Beziehung komme ich aber nie und nimmer von oben, sondern nur von unten, durch mein Dienen, indem ich mich in den Dienst des Anderen stelle, wie es etwa der Rabbi-Lehrer und Philosoph Emmanuel Levinas [3] in unübertrefflichen Bildern beschrieben hat. 3. Nur in dem Maße, in dem diese beiden Dimensionen im Gleichgewicht sind, kommt die symmetrische Subjekt-Subjekt-Dimension zum Tragen, die Begegnung auf Augenhöhe, zwar von allen gewünscht, aber eben doch nur indirekt erreichbar und meist auch nur befristet auszuhalten. Und wenn die neue postindustrielle Epoche, in die wir hineinwachsen, unter dem Aspekt des Arbeitsmarktes (neue Arbeitsplätze fast nur noch für das Arbeiten mit Menschen) gern als „Dienstleistungsgesellschaft“ bezeichnet wird, ist dieser zunächst fatale Begriff vielleicht doch nicht so dumm, da er das Wechselspiel von „Leisten“ und „Dienen“ zum Ausdruck bringt. Ich habe mich bei dem Beispiel der Beziehungsdimensionen auch deshalb länger aufgehalten, weil es ein weiteres Problem ethischer Normensysteme gerade auch für die Psychiatrie beleuchtet. So kann man entweder von einem Menschenbild ausgehen, indem es eine oberste Norm gibt, während alle anderen Normen nachgeordnet sind – etwa wie wir uns in der Industrieepoche am Ideal des selbstbestimmten, isolierten und endlos leistungssteigerungsfähigen Individuums und des Herrn über Leben und Tod orientiert haben. Dann aber besteht erwiesenermaßen die Gefahr, dass eine solche oberste Norm sich verabsolutiert und

dann auch mörderisch werden kann. Daher erscheint es menschengemäßer, wenn wir von einem Spannungsfeld zwischen zwei Normen im Menschen (also etwa zwischen Selbstbestimmung und „Bedeutung für Andere“) ausgehen, weil dann die Chance besteht, dass diese Normen sich gegenseitig kontrollieren und somit im Gleichgewicht halten, also von einer normativen Ambivalenz des Menschen ausgehen. Insofern wirkt die anthropologische Annahme von Helmuth Plessner [4] plausibel, wonach der Mensch zur Hälfte „zentrisch“ wie das Tier lebt, also selbstbestimmt und sich seine Umwelt unterwerfend, zur anderen Hälfte jedoch „exzentrisch“, von einem ihm Äußeren, Anderen bestimmt. Für solche Denkmodelle finden wir in den letzten 30 Jahren zunehmend empirische Belege, sei es die seither zunehmende Bereitschaft der Bürger im Allgemeinen, sich neben der Wertschätzung ihrer Selbstbestimmung auch wieder den Nöten und dem Hilfebedarf fremder anderer Menschen auszusetzen, insbesondere alten und dementen Mitbürgern, aber auch – wie in Gütersloh [5] sich als Nachbarn hinreichend in den Dienst der Integration der über 400 chronisch psychisch Kranken zu stellen. Und bei den psychisch Kranken selbst steht nicht mehr nur – wie früher – die Autonomie an 1. Stelle der Wunschliste, sondern auch das andere Grundbedürfnis, durch Arbeit oder auf anderen Wegen auf seine „Tagesdosis an Bedeutung für Andere“ zu kommen. Auch die ethische Durchdringung der neuen Kultur der Selbsthilfegruppen steht für uns Profis noch weitgehend aus, muss doch z. B. jeder Teilnehmer sich zunächst für einen Anderen engagieren, bevor er selbst profitieren kann, weil sonst die Gruppendynamik nicht wirksam werden würde. All dies sind aber wohl nur Vorübungen für die nächste ethische Herausforderung, die die UN-Behindertenmenschenrechtskonvention mit sich bringen wird, wenn wir deren Inklusionskern erstmal verstanden haben. Denn jetzt geht es nicht mehr nur um die Förderung von psychisch Kranken und Behinderten, sondern nur noch um die Kultivierung der Beziehungen aller Bürger mit und ohne Hilfebedarf, gesondert für jeden einzelnen Sozialraum. Dies im Verein mit der Zunahme der Regionen mit „integrierter Versorgung oder Sozialraumbudget“ wird dazu führen, dass immer mehr nicht nur chronisch, sondern auch akut psychisch Kranke gemeinsam mit allen anderen Bürgern wohnen, arbeiten und leben, was z. B. eine Ethik des home treatment verlangt. Insgesamt bedeutet das, dass das Helfen wieder mehr zu einem Teil der Alltagskultur aller Menschen wird, also eine weitere Entmedizinisierung, Deinstitutionalisierung und Deprofessionalisierung des Helfens. Für uns Profis hat das zur Folge, dass es das isolierte „Psychische“ immer weniger gibt, weil es sich nur körperlich und/oder sozial zum Ausdruck bringen kann, weshalb sich unsere Spezialisierung auf das Psychische auf das Somatische und/oder Soziale ausweiten muss. Die Sichtweise unseres Fachs wird wieder mehr eine anthropologische sein, wie die Entwicklung der Psychiatrie um 1800 begonnen hat. Für uns Profis heißt das konkret, dass wir ethisch gute psychiatrisch Tätige sind, wenn wir lernen, die narzisstische Kränkung auszuhalten und die alte Handwerksregel der Praktiker zu beherzigen, dass niemand integriert ist, solange er von Profis umzingelt ist und dass nur Bürger als Nachbarn andere Bürger integrieren können. Dadurch würde unsere Bedeutung als Profis keineswegs geringer, jedoch hätten wir uns eine neue Professionalität zu erarbeiten, wenn diese teilweise auch nur aus der Wiederbelebung der anthropologischen Perspektive unserer Gründerzeit bestünde.

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Originalarbeit

Originalarbeit

Konsequenzen für Klinik und Praxis Die einseitige Medizinisierung der Psychiatrie vernachlässigte die notwendige Beschäftigung mit ethischen Fragestellungen. Die psychische Erkrankung ist unter Berücksichtigung der individuellen Lebensgeschichte und der sozialen Beziehungen zu sehen. Um einen psychisch Kranken auf Augenhöhe behandeln zu können, ist es wichtig, ihm Bedeutung für Andere zu geben.

Interessenkonflikt !

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Abstract

The Good Doctor !

When founded about 1800, psychiatry was liable to both, philosophy and medicine, at least its liability to anthropological philosophy was accepted. After 150 years of increasingly unilateral medicalization with its fatal consequences for many patients the post war generation of psychiatrists were the first to re-establish the primary ambivalence. The ethical consequences of the anthropological renewal are being discussed respective to some practical situations: 1. The doctor – patient – relatives relationship embedding the activity of the interested parties; 2. mental disorders as relationship disorders; 3. ethical orientation towards the normative ambiguity of self-determination and “being meaningful for others”; 4. the consequences for the post-industrial concept of man; 5. the ethics of self-help groups; and 6. the challenge of inclusion for ethics and human rights.

Literatur 1 Dörner K. Der gute Arzt. Stuttgart: Schattauer; 2003 2 Fuchs T. Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Stuttgart: Kohlhammer; 2010 3 Levinas E. Humanismus des anderen Menschen. Hamburg: Meiner; 1989 4 Plessner H. Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin: de Gruyter; 1975 5 Dörner K, Hrsg. Ende der Veranstaltung. Neumünster: Paranus; 2001

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[The good doctor].

When founded about 1800, psychiatry was liable to both, philosophy and medicine, at least its liability to anthropological philosophy was accepted. Af...
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