Originalarbeit

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Das Schicksal der polnischen Psychiatrie unter deutscher Besatzung im Zweiten Weltkrieg

Autor

Friedrich Leidinger

Institut

LVR-Klinik Langenfeld

Schlüsselwörter

Zusammenfassung

" Polen ● " NS-„Euthanasie“ ● " Krankentötung mit Gas ● " Völkermord ● " Holocaust ●

Keywords

" Poland ● " Nazi-„Euthanasia“ ● " patient-killing by gas ● " genocide ● " holocaust ●

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1370066 Psychiat Prax 2014; 41, Supplement 1: S69–S75 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 1611-8332 Korrespondenzadresse Dr. med. Friedrich Leidinger LVR-Klinik Langenfeld Kölner Straße 82 40764 Langenfeld [email protected]

!

Nach dem deutschen Überfall auf Polen waren psychiatrische Anstalten das erste Ziel des Vernichtungskrieges. Unter Leitung deutscher Ärzte wurden die Patienten zu Massenexekutionen fortgeführt und tausende Kranke aus dem „Altreich“ hierher verschleppt und ermordet. Ab Ok-

tober 1939 wurde Gas als Mordwaffe gegen die Kranken eingesetzt. Der Artikel beschreibt die weitgehend unbekannten Fakten über den Zusammenhang zwischen dem medizinischen Programm zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ und dem rassistischen Vernichtungskrieg gegen Polen und Juden.

„Tag für Tag kamen Lastkraftwagen zur Anstalt gefahren. Auf einen wurden jeweils sechzig Kranke geladen. Es kamen mindestens zwei Fahrzeuge. Sie haben sie irgendwo in die Gegend von Jeżewo gebracht und dort im Wald erschossen. (...) Die Liquidation dauerte etwa fünf, sechs Tage. Die übrigen Kranken, es waren 350 bis 370, wurden nach Kocborowo transportiert, wo sie auch erschossen wurden. Aus dem Munde eines Deutschen, der ein gutes Verhältnis mit den Polen unterhielt und für ein Gläschen Wodka viel erzählte, habe ich vom Verlauf der Exekution erfahren, bei der dieser Deutsche anwesend war. Er erzählte, dass jeweils drei Kranke aus dem Fahrzeug geführt und in den Hinterkopf geschossen wurden. Danach wurde mit der Liquidation des Kinderpavillons begonnen. Die Kinder haben sich gefreut, dass sie mit einem Auto fahren, indessen wurden sie erschossen. Die Kinder wurden auf folgende

Weise ermordet. Erst wurden sie alle auf eine Wiese gelassen und anschließend wurde auf sie geschossen wie beim Scheibenschießen.“ 1 Die Episode, die der Krankenpfleger Aleksander Zielonka in dem Prozess vor dem Obersten Polnischen Nationalen Gerichtshof gegen den ehemaligen Gauleiter Albert Forster im Jahr 1946 schilderte, hatte sich in den ersten Tagen des Zweiten Weltkriegs in einem kleinen Ort an der Weichsel zwischen Warschau und Danzig2 ereignet: Männer des „SS-Wachsturmbanns Kurt Eimann“ drangen in das psychiatrische Krankenhaus in Schwetz (Świecie) ein3. Sie setzten den ärztlichen Direktor, Dr. Józef Bednarz4, gefangen und beauftragten zwei deutsche Ärzte mit der Leitung des Krankenhauses. Die Patienten wurden in drei Gruppen unterteilt: Juden, Arbeitsunfähige und Arbeitsfähige. Am 10. September 1939 begannen sie mit dem Abtransport der Patienten in die Wäl-

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Zeugenaussage Aleksander Zielonka 1946 im Prozess vor dem Obersten Polnischen Nationalen Gerichtshof gegen den ehemaligen Gauleiter Albert Forster [1].

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Bei polnischen Ortsnamen, für die vor 1939 eine deutsche Bezeichnung gebräuchlich war, wird im Text die deutsche Bezeichnung, ggf. mit der polnischen Bezeichnung in Klammern verwendet. Beispiel: Bromberg (Bydgoszcz). Bei polnischen Ortsnamen, die im Zuge der Besatzung 1939 – 1945 „germanisiert“ wurden, wird die deutsche Bezeichnung in Anführungszeichen – Beispiel Owińska („Treskau“) oder „Litzmannstadt“ – verwendet.

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Die Darstellung der Ereignisse in den einzelnen psychiatrischen Krankenhäusern Polens folgt soweit nicht anders angegeben Nasierowski, 2009 ([2], S. 65ff.).

Józef Bednarz (1879 – 1939): poln. Neurologe und Psychiater; Ausbildung in St. Petersburg; Freiheitskämpfer, Mitglied der Poln. Sozialistischen Partei (PPS); 1908 in der Warschauer Zitadelle inhaftiert; ärztliche Tätigkeit in Lemberg (Lwów) und St. Petersburg; ab 1914 Kriegsdienst in der russischen Armee, Spezialist für Verteidigung gegen Gasangriffe; 1921 Rückkehr nach Polen; Direktor des Krankenhauses Kulparkow (1927), der Abteilung für psychisch Kranke im Gefängnis in Grudziądz (Graudenz) (1931 – 32) und des Krankenhauses Świecie (1932) ([2], S. 65).

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The Fate of Polish Psychiatry under German Occupation During World War II

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Vernichtungskrieg von Anfang an !

Der Verlauf der deutschen Besatzung in Polen kann in vier Zeitabschnitte gegliedert werden: ▶ Septemberfeldzug vom 1.9. – 8.10.1939 und sowjetische Invasion Ostpolens ab dem 17.9.1939 bis zur deutsch-sowjetischen Demarkationslinie. 5

Waldemar Siemens (bis 1939 Schimansky) (1901 –); Oberarzt der Psych. Klinik der Med. Akademie Danzig, Leiter der Heilstätte Ferberhaus, ab 1939 Leiter des Krankenhauses „Conradstein“; nach 1945 verschollen [3].

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Rudolf Maria Spanner (1895 – 1960); dt. Arzt und Anatom; wissenschaftliche Tätigkeit in Frankfurt/M, Kiel und Jena; 1939 Lehrstuhl für Anatomie in Köln; 1939 – 45 Lehrstuhl für Anatomie in Danzig; 1946 – 1950 Professor in Köln [3].

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Durch Eintragung in die „Volksliste“ wurde „eindeutschungsfähigen“ Personen unter bestimmten Umständen die deutsche „Volkszugehörigkeit“ zuerkannt. Sie waren damit vor den Verfolgungsmaßnahmen gegen Polen geschützt. Die Eintragung erfolgte selten freiwillig, oft unter massivem Druck oder Zwang. In einigen Fällen wurden ganze Dörfer ohne ihr Wissen eingetragen.

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Die 2. Polnische Republik war durch den Versailler Vertrag verpflichtet, ethnischen Minderheiten Volksgruppenrechte einzuräumen. Nach der Volkszählung von 1921 lebten 27,2 Millionen Menschen in Polen, davon

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▶ 8.10.1939 – 22.6.1941: Aufteilung Polens unter deutscher Besatzung in „Danzig-Westpreußen“, „Wartheland“ und „Generalgouvernement“. Die polnischen Gebiete östlich der Demarkationslinie geraten unter sowjetische Besatzung. ▶ 22.6.1941 bis Frühjahr 1944: Nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion werden weitere polnische Gebiete in das „Generalgouvernement“ eingegliedert. ▶ Frühjahr 1944 bis Frühjahr 1945: Rückzug der deutschen Truppen und Besetzung des gesamten polnischen Territoriums durch sowjetische Truppen. Vom ersten Schuss an ging das deutsche Militär gegen zivile Objekte vor, bombardierte Krankenhäuser und erschoss Sanitätspersonal, Kranke und Verwundete. Schnell erfuhr die polnische Bevölkerung das Kriegsziel der Deutschen am eigenen Leibe: die vollständige und dauerhafte Vernichtung Polens. Polen galten in Hitlers Reden als „rassisch Fremde“, die „abgekapselt werden sollten“, um die „Zersetzung des deutschen Blutes“ zu verhindern. Er ordnete an, rücksichtslos jegliche patriotische Regung in Polen zu unterdrücken, die führenden Bevölkerungsschichten zu liquidieren und die polnische Bevölkerung im Sinne einer „rassischen Flurbereinigung“ aus einem „Sicherheitsstreifen“ von deutschen Siedlungen zu entfernen [5]. Nach der Niederlage der polnischen Armee wurden Danzig und die nördlichen Gebiete mit den Städten Bromberg und Thorn als „Reichsgau Danzig und Westpreußen“ und die westlichen Gebiete Polens mit den Städten Posen und Lodz als „Wartheland“ dem Reich eingegliedert. Durch Eintragung in die „Volksliste7“, Massenvertreibung und Massenmord sollten diese bisher mehrheitlich polnischen Gebiete8,9 vollständig „germanisiert“ werden; der Südosten wurde unter der Bezeichnung „Generalgouvernement“ mit dem Verwaltungssitz Krakau als eine Art Kolonie geführt und rücksichtslos für die militärischen und ökonomischen Interessen der Deutschen ausgebeutet. Die deutschen Besatzer installierten ein komplexes terroristisches Herrschaftssystem aus Drangsalierungen, Razzien, Deportationen, Hunger, Zwangsarbeit, Raub, Mord. Die ersten Opfer waren die Kranken in den psychiatrischen Anstalten. Es folgten Massenexekutionen von Kriegsgefangenen und Zivilisten, darunter die „Intelligenzaktion“, der allein bis Ende 1940 mehr als 80 000 Menschen (Beamte, Offiziere, Kleriker, Wissenschaftler, Lehrer, Intellektuelle) zum Opfer fielen, die mobile Gaskammer des „Sonderkommandos Lange“10, die verharmlosend als „Ghetto“ bezeichneten Hungerlager für Juden in großen wie in kleinen Städten, die Konzentrationslager, der „Generalplan Ost“11 oder

waren 18,8 Mio. Polen (69 %), 4,7 Mio. Ukrainer (17,3 %), 2,1 Mio. Juden (7,7 %) zuzüglich 700 000 (2,5 %) Menschen jüdischer Religion, die sich nicht der jüdischen Volksgruppe zurechneten, 1,6 Mio. Belorussen (5,9 %) und 1,6 Mio. (5,9 %) Deutsche (vgl. [6]). 9

Im „Wartheland“ lag der Bevölkerungsanteil der deutschen Minderheit vor dem Krieg bei unter 6 %; in „Danzig-Westpreußen“ bei höchstens 30 % [6].

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Das „SS-Sonderkommando Lange“ bestand aus 15 Angehörigen der Sicherheitspolizei (SiPo) und 60 Schutzpolizisten unter Führung des SS Obersturmführers Herbert Lange (1909 – 1945), das von 1939 – 1943 Massenexekutionen im „Wartheland“ durchführte. Zeitweilig gehörten auch polnische Funktionshäftlinge des „Konzentrationslagers Posen“ im Posener Fort VII, dessen Kommandant ebenfalls Lange war, zum Sonderkommando [3, 7].

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„Generalplan Ost“: Sammelbegriff für die Pläne der NS-Ostpolitik für die Vertreibung und Ermordung der slawischen Bevölkerung aus Osteuropa und Ansiedlung von Deutschen.

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der der Umgebung. Dort wurden sie von Freischärlern des „Volksdeutschen Selbstschutzes“ unter ihrem Anführer, dem Brauereibesitzer Rost aus Bromberg (Bydgoszcz) erschossen. Auch Bednarz wurde erschossen, als sich herausstellte, dass er Angehörige der Kranken benachrichtigt hatte. Die Aktion dauerte bis zum 17. September. Dann transportierten sie die noch lebenden 157 Frauen und 130 Männer mit der Bahn nach Kocborowo bei Danzig. Später wurde Schwetz als Altenheim für zwangsumgesiedelte Baltendeutsche genutzt. Die Anstalt Kocborowo, umbenannt in „Conradstein“, wurde in den ersten Septembertagen von der SS besetzt. Am 22. September begann die SS mit dem Abtransport der Kranken, angeblich in ein anderes Krankenhaus. In Wirklichkeit wurden die Patienten von der SS in den Wald von Spengawsken (Las Spęgawski) eskortiert. Dort waren Gräben ausgehoben, die Kranken wurden an den Rand der Grube geführt und mit Genickschuss exekutiert. Zwischen den Transporten feierten die SS-Männer wüste Gelage. Da sie fast ständig betrunken waren, gelang einigen Kranken die Flucht. Im Spätherbst wurden 130 Kinder aus der Teilanstalt Gniewo nach „Conradstein“ verlegt. Die jüngeren Kinder wurden in den Folgetagen mit Phenol-Injektionen getötet, die älteren mit den Erwachsenen erschossen. Unter dem neuen Direktor Waldemar Schimansky5, der sich fortan „Siemens“ nannte, nahm „Conradstein“ weiter Patienten auf ([2], S. 69ff.). In allen Räumen hingen Schilder: „Hier darf nur deutsch gesprochen werden.“ Der Gebrauch der polnischen Sprache war strikt verboten. Eine Ärztin, die den Sprachtest bei Schimansky/Siemens nicht bestanden hatte, beging Suizid. Angehörige hatten keinen Zutritt. Hunger, Typhus, Tuberkulose und andere Mangelerkrankungen ließen die Sterblichkeit gewaltig steigen. Schimansky verkaufte die Leichen der in der Anstalt Verstorbenen an den Danziger Anatomen Rudolf Maria Spanner6, der mit Rezepturen zur Herstellung von Seife und anderen Gebrauchsgegenständen aus Leichen experimentierte. Unter den mehr als 7000 Leichen ermordeter Zivilisten, die in den Massengräbern im Wald von Spengawsken ruhen, sind auch die 1692 Patienten der Anstalt Kocborowo, die von September 1939 bis zum 21. Januar 1940 erschossen wurden [4].

das „SS-Sonderlaboratorium Himmlerstadt“12. Polen hatten nur ein Lebensrecht, soweit sie den Deutschen nützlich sein könnten.

Vom Erschießen zur mobilen Gaskammer – Krankenmorde in Pommern, Westpreußen und „Wartheland“ !

Für die Krankenmorde im „Wartheland“ ist eine zentrale Planung und Organisation anzunehmen. Neben den großen psychiatrischen Krankenhäusern waren auch kleinere Krankenhäuser und Pflegeheime betroffen. Männer des „SS-Sonderkommandos Lange“ fuhren die Kranken mit Lastwagen in einen nahegelegenen Wald, wo sie für ein Kopfgeld von 10 Reichsmark erschossen wurden. Kranke, die nicht transportfähig waren, wurden in ihren Betten erschossen. Ab Dezember 1939 setzte das „Sonderkommando Lange“ eine mobile Gaskammer ein ([2], S. 76ff.). Das war ein Lastwagen mit der Aufschrift „Kaisers Kaffee-Geschäft“13, dessen Abgase in den luftdicht verschlossenen Aufbau eingeleitet wurden. Alternativ bestand die Möglichkeit, Gas aus Gasflaschen in den Laderaum einzuleiten. An der Entwicklung dieses Mordinstruments wirkten die Chemiker Dr. Albert Widmann14 und August Becker15 mit. Sie waren bereits seit August 1939 an der Vorbereitung der Aktion „T4“16 beteiligt. Die erste Tötung mit Kohlenmonoxidgas fand wahrscheinlich schon im Oktober 1939 in einem Bunker des Forts VII in Posen statt17. Becker nutzte die Gelegenheit, noch vor der „Probevergasung“ der „T4“-Aktion in Brandenburg im Januar 1940 die Umsetzung seiner Idee zu beobachten. Die ersten Opfer des Gasmordes waren 50 Patienten der Anstalt Owińska („Treskau“). Ihre Leichen wurden in den Wald nach Obornik gebracht. Bis November wurden etwa 400 Patienten aus Owińska im Fort VII mit Giftgas ermordet, danach fuhren die LKW direkt in den Wald. Dort wurden die Patienten in den Vergasungswagen umgeladen. Viele leisteten Widerstand und wurden mit brutaler Gewalt in den Vergasungswagen gesetzt. Oft wurde vor der „Verlegung“ eine medikamentöse Sedierung angeordnet. Insgesamt wurden 1000 Patienten aus Owińska auf diese Weise mit Gas ermordet. Ab 1940 nutzte die SS Owińska als Lazarett.

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„SS-Sonderlaboratorium Himmlerstadt“: Tarnname für ein Siedlungsprojekt der SS im Distrikt Zamość in Südostpolen. Ab November 1942 wurden 110 000 Polen in Konzentrationslager deportiert, mindestens 4500 „rassisch wertvolle“ Kleinkinder wurden ihren Eltern weggenommen und über „Lebensborn“ an deutsche Familien zur Adoption vermittelt. Anstelle der Vertriebenen wurden 8000 deutsche Siedler – vorwiegend aus Bessarabien – angesiedelt. Die Aktion musste im Sommer 1943 wegen des wachsenden Erfolgs der bewaffneten Aktionen des polnischen Untergrundes eingestellt werden [8, 9]. Der Kolonialwarenhändler Jacob Kaiser aus Viersen (Niederrhein) entwickelte um 1885 eine Methode zur gleichmäßigen Röstung von Kaffeebohnen. Das Unternehmen expandierte rasch mit dem Verkauf von Kaffee und Kakao; Ende der 1930er-Jahre waren annähernd 1900 Filialen mit dem bekannten Logo über das ganze Reich verteilt. Die von zahlreichen Zeugen bestätigte Verwendung des Firmenlogos ist vermutlich aus Tarnungsgründen erfolgt. Albert Widmann (1912 – 1986); dt. Chemiker; seit 1938 beim Kriminaltechnischen Institut (KTI) im Reichssicherheitshauptamt (RSHA). Berater von „T4“ für die Verwendung von CO-Gas für die Krankenmorde. 1941 Beratung von SS-Gruppenführer Arthur Nebe bei den Krankenmorden in Minsk und Mogilew; 1944 Ermordung sowjet. Gefangener mit Giftmunition. 1962 Urteil LG Düsseldorf für die Gefangenenmorde 3½ Jahre Haft. 1967 Urteil LG Stuttgart für die Morde in Minsk 7 Jahre Haft. Strafe gegen Zahlung von 4000 DM an eine Behinderteneinrichtung ausgesetzt [3].

Der Gaswagen des „Sonderkommandos Lange“ kam danach in zahlreichen weiteren Anstalten zum Einsatz: ▶ Dziekanka („Tiegenhof“) bei Gnesen ([2], S. 87ff.)18; 7. – 19. November 1939 und 8. – 12. Januar 1940: 1043 Kranke; im Juni/ Juli 1941: 158 Kranke. Ab 1940 trafen Transporte mit deutschen Kranken aus Litauen, Lettland und dem Rheinland ein. Aktenfunde belegen die Deportation von volksdeutschen Patienten nach Hadamar19. Neben weiteren Selektionen im Sommer 1941 kam es auch zu einzelnen Tötungen mit Phenobarbital- oder Scopolamin-Injektionen durch das deutsche Personal. „Tiegenhof“ spielte auch eine Rolle in einem perfiden Verwirrspiel der „T4“-Organisation. Sie führte ein fiktives Sterberegister, um Angehörige der Kranken, die in Wahrheit woanders ermordet worden waren, zu täuschen und stellte Rechnungen für die Grabpflege für fiktive Gräber auf dem städtischen Friedhof aus [10]. ▶ Kościan („Kosten“); 15. – 22. Januar 1940: 297 Frauen und 237 Männer. Danach wurden die Gebäude bis auf 2 Pavillons als Feldlazarett der Wehrmacht genutzt. Ab Februar 1940 wurden zahlreiche Transporte von psychisch Kranken aus Lauenburg (Pommern), Treptow, Ueckermünde und Stettin aufgenommen ([2], S. 92f.). ▶ Kochanówka bei Lodz („Litzmannstadt“); März 1940 – Sommer 1941: ungefähr 2200 Patienten; der Gesundheitsdezernent der Bezirksregierung, Herbert Grohmann20, ordnete sogar die Rückholung von entlassenen Patienten an. Danach wurden die Krankengebäude für die Versorgung deutscher Umsiedler genutzt ([2], S. 94ff.). ▶ Warta („Wartha“) bei Sieradz; 1. – 4. April 1940: 201 Männer und 298 Frauen. Die Kosten für die „Evakuierung“ der Kranken in Höhe von 14 700 Reichsmark stellte die SS dem Krankenhaus in Rechnung ([2], S. 96ff.). Ständig trafen Krankentransporte aus West- und Norddeutschland und dem „Wartheland“ ein, täglich starben zwischen 3 und 10 Kranke. Die Gesamtzahl der nach Warta deportierten Kranken ist nicht bekannt. Neben der konsequenten Anwendung der Grundsätze der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik führte der im März 1940 berufene Direktor Hans Renfranz21 auch die Elektrokrampf-

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August Becker (1900 – 1967); dt. Gasspezialist; ab 1938 RSHA; Berater „T4“; „Probevergasung“ im Fort VII in Posen Oktober/November 1939; Januar 1940 – Oktober 1941 zu „T4“ abgeordnet; nach 1945 Vertreter; 1960 „dauerhaft verhandlungsunfähig“ [3].

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Aktion „T4“: Tarnname der Organisation des systematischen Krankenmordes in den deutschen Heilanstalten, deren Verwaltungszentrale an der Tiergartenstraße 4 in Berlin eingerichtet war.

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Für das genaue Datum der ersten Tötung von Menschen mit Giftgas liegen verschiedene Angaben vor. Jaroszewski, der Augenzeuge des Abtransports der Patienten aus Owińska war, nannte in wiederholten mündlichen Mitteilungen gegenüber dem Autor den 15.10.1939 mit „Gewissheit“. Nasierowski ([2], S. 79) geht dagegen aufgrund verschiedener Quellen von einem Zeitpunkt nicht vor November 1939 aus.

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eigene Recherche d. Verf.

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Eigene Recherche d. Verf. Die Akten wurden 1988 dem damaligen Direktor des Wojewodschaftskrankenhauses für psychisch und nervlich Kranke, Dziekanka, Gniezno, Dr. Marian Jaska, zurückgegeben.

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Herbert Grohmann (1908 –); dt. Arzt und Erbbiologe; verschiedene Funktionen innerhalb des SS-Rasse- und Siedlungshauptamts; Selektion polnischer Kinder zur Eindeutschung. Nach 1945 Medizinaldirektor der Landesversicherungsanstalt Lübeck [3].

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Hans Hermann Renfranz (1912 – 1979); dt. Arzt, T4-Mitarbeiter. 1940 – 1945 Direktor der Anstalt Warta. Nach 1945 praktischer Arzt in Rendsburg. Verfahren wegen der Ermordung von mehreren Tausend Patienten 1973 wegen Mangels an Beweisen eingestellt [11].

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therapie ein, die er und seine (polnische) Assistenzärztin nach deren Angaben mehr als 10 000-mal anwendeten22. ▶ Übergangslager „Soldau“ (Działdowo); 21. Mai – 8. Juni 1940: 1550 psychisch Kranke aus verschiedenen kleineren ostpreußischen Anstalten. Um die Bezahlung der Prämie für diese Aktion in Höhe von 15 500 Reichsmark kam es zu einem längeren Behördenstreit, bis schließlich der ostpreußische Gauleiter Erich Koch die Summe auszahlte ([2], S. 120).

Die Ausweitung der Vergasungspraxis !

Nach den „Erfolgen“ des „Sonderkommandos Lange“ und der seit Januar 1940 angelaufenen „T4”-Aktion wurde Widmann im Sommer 1941 vom Leiter der SS-Einsatzgruppe B in Weißrussland (Belarus), Arthur Nebe23, zur Unterstützung bei den Massenexekutionen vor allem von sowjetischen Kriegsgefangenen, Führungskräften („Kommissare“) und Juden angefordert [12]. Unter Widmanns technischer Anleitung ermordeten Nebes Männer Ende September/Anfang Oktober 1941 mehrere hundert Patienten der psychiatrischen Anstalten Nowinki und Mogilew mit Kohlenmonoxid. Das Giftgas lieferte ein ausgebauter LKW-Motor. Nebe beauftragte daraufhin den SS-Obersturmbannführer Walter Rauff mit der Beschaffung geeigneter Vergasungswagen. Auch die NS-Zivilverwaltung des „Warthelandes“ erkannte die Möglichkeiten der Gaswagen der SS und ließ im November 1941 – noch vor der „Wannsee-Konferenz“24 – in einem Wald bei Chełmno („Kulmhof“) ein Vernichtungslager einrichten ([2], S. 119ff.). Das „Sonderkommando Lange“ ermordete in drei hier stationierten Gaswagen bis zum April 1943 mindestens 160 000 Menschen, Polen und Juden aus dem „Wartheland“, viele Juden aus dem „Ghetto Litzmannstadt“ und zahlreiche Patienten aus der Anstalt Kochanówka und aus anderen Anstalten. Im Frühjahr 1942 wurden 92 „T4”-Mitarbeiter dem Kommando des SS- und Polizeiführers im Distrikt Lublin, Odilo Globocnik25, dem Koordinator der „Aktion Reinhard“26, der Ermordung der noch lebenden jüdischen Bevölkerung des „Generalgouvernements“ unterstellt. Für die Vernichtungslager Bełżec27, Treblinka28 und Sobibór29 übernahm Globocnik nicht nur das Leitungspersonal von „T4”, sondern auch die Tötungstechnologie.

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eigene Recherche d. Verf.

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Arthur Nebe (1894 – 1945); Polizei-Offizier, SS-Gruppenführer; als Chef der SS-Einsatzgruppe B verantwortlich für Massenmorde an psychisch Kranken, Juden und anderen. Wegen seiner Beziehungen zum Widerstandskreis um Stauffenberg hingerichtet [3].

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Konferenz von 15 hochrangigen Offizieren und Beamten der SS und Reichsregierung unter Leitung des RSHA-Chefs Reinhard Heydrich in einer Villa am Wannsee bei Berlin zur Koordination der Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten am 20.1.42. Odilo Globocnik (1904 – 1945), österr. Bauunternehmer und SS-Offizier; ab 9.11.1939 SS- und Polizeiführer im Distrikt Lublin, verantwortlich für die Vernichtungslager Treblinka, Bełżec und Sobibór; 1943 Höherer SSund Polizeiführer Adriatisches Küstenland; Suizid nach Verhaftung [3]. „Aktion Reinhard“ (auch „Reinhardt“): Zu Ehren des bei einem Attentat am 4.6.42 getöteten Chefs des RSHA, Reinhard Heydrich, erfundener Tarnname der SS für die Ermordung der noch lebenden jüdischen Bevölkerung des „Generalgouvernements“ ab Sommer 1942. Bełżec: Erstes von drei Vernichtungslagern der „Aktion Reinhard“, in dem von März 1942 – Dezember 1942 nach Zählung der SS 434 508 Menschen

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Das besondere Schicksal der jüdischen Kranken !

Im „Ghetto“ Lodz („Litzmannstadt“) plante Verwaltungsleiter Hans Biebow die Arbeitskraft der hier lebenden 160 000 Menschen mit äußerster Konsequenz auszunutzen. Wiederholt appellierte er an die Einwohner, ihre Kranken in eines der zahlreichen im „Ghetto“ neu eingerichteten Krankenhäuser einzuliefern. Insgesamt verfügte das „Ghetto“ über 2600 Krankenhausbetten. In einem Gebäude am jüdischen Friedhof im Ghetto wurde ein psychiatrisches Spital mit 50 Plätzen eingerichtet. Ab März 1940 ordneten die Deutschen in rascher Folge „Evakuierungsaktionen“ an. Wenn die Kranken sich wehrten, wurde ihnen zuvor Scopolamin gespritzt. Auch in den anderen Krankenhäusern wurden in kurzen Abständen Selektionen durchgeführt und die Kranken in das Vernichtungslager nach „Kulmhof“ transportiert. Jüdische Patienten aus verschiedenen Anstalten des „Generalgouvernements“ wurden in der jüdischen Heilanstalt Zofiówka im „Ghetto“ von Otwock bei Warschau zusammengeführt, wo sie aufgrund der elenden Lebensbedingungen innerhalb kurzer Zeit verstarben. Im Sommer 1942, in Zusammenhang mit der Liquidierung des „Ghettos“ in Otwock, wurde Zofiówka von der SS liquidiert, die meisten Kranken wurden erschossen, eine unbekannte Zahl wurde nach Treblinka verbracht und dort vergast. Gemeinsam mit den Kranken wurde das gesamte jüdische Personal ermordet ([2], S. 200ff.).

Hunger als Mordwaffe – Der Kampf gegen „unnütze Esser“ !

Im „Generalgouvernement“ waren 13 Millionen Einwohner den Deutschen ausgeliefert. 1940 – 1942 übertrafen die ins Deutsche Reich ausgeführten Lebensmittellieferungen alle Erwartungen der Deutschen ([2], S. 137ff.). Die polnische Bevölkerung erhielt dagegen nach Feststellung des Leiters der Gesundheitsverwaltung des „Generalgouvernements“, Jost Walbaum30, im September 1941 „nur noch 600 Kalorien“, weshalb sie anfällig für Seuchen würde. 40 % der Bevölkerung litten an Typhus. Walbaum sah hierin eine ernste Gefahr für die Wehrmacht und das Deutsche Reich. Noch schlimmer hungerten die Juden in den „Ghettos“ und die als „nutzlose Esser“ bezeichneten Anstaltspatienten. Nach Auffassung des Seuchenexperten Robert Kudicke31 war die Einrichtung der „Ghettos“ – selbst als Zwischenlösung – ein Fehermordet wurden. Erster Kommandant SS-Hauptsturmführer und „T4“Funktionär Christian Wirth (1885 – 1944). Zahlreiche weitere ehemalige „T4“-Mitarbeiter in der Lagerverwaltung. 28

Treblinka: Vernichtungslager der SS im Nordosten von Warschau (Juli 1942 – August 1943). Erster Kommandant Irmfried Eberl (1910 – 1948), davor „Tötungsarzt“ der „T4“-Anstalt Bernburg; Nachfolger E.’s Franz Stangl (1908 – 1971), zuvor Büroleiter der „T4“-Anstalt Hartheim. Vermutlich über 1,3 Millionen Ermordete.

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Sobibór: Vernichtungslager der SS in Südostpolen (März 1942 – Oktober 1943). Kommandant ab April 1942 Franz Stangl. Circa 20 – 30 ehemalige „T4“-Mitarbeiter. Vermutlich 150 000 – 250 000 Ermordete.

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Jost Walbaum (1889 –); 1930 NSDAP/SA; Leiter des Gesundheitsamts Berlin-Tiergarten; Dezember 1939 „Gesundheitsführer“ im GG, in der Funktion eines Gesundheitsministers verantwortlich für die Ghettos in Warschau und Lublin; ab Mai 1943 Stadtarzt und Leiter des Gesundheitsamts Münster; nach 1945 homöopathischer Arzt in Hannover-Vinnhorst [3].

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Robert Kudicke (1876 – 1961); Mitarbeiter Robert Kochs, Stabsarzt der Schutztruppe in Deutsch-Ostafrika; Chemotherapeutisches Forschungsinstitut Frankfurt/M. 1940 Professor und Leiter des Staatlichen Instituts für Hygiene Warschau. Fleckfieberversuche an Gefangenen. 1946 Honorarprofessor in Frankfurt [3].

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Alexander Kroll; dt. Verwaltungsangestellter, ab 1940 Direktor der Anstalt Kobierzyn, direkt verantwortlich für die Unterernährung der Kranken und den Abtransport von 535 Kranken nach Auschwitz-Birkenau am 23.6.1942. In Polen wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zur Fahndung ausgeschrieben. Ermittlungsverfahren (112 Js 9 – 10 /69) durch das Landgericht München 1971 wegen nicht ausreichender Beweise eingestellt [13]. Max Rohde (1904 –) geb. in Dorsten, Vater Kupferschmied, 5 Jahre Bergmann, Kupferschmied u. a., Abitur 1928, Medizinstudium bis 1933 /35, seit 1933 Mitglied der Studenten SA, 1936 – 38 Assistenzarzt in Grafenberg (Düsseldorf), 1937 Eintritt in die NSDAP, seit 1938 in Galkhausen (Langenfeld). Abordnung Aug 1943 bis Mai 1944 als ltd. Arzt an die Heilu. Pflegeanstalt Kulparkow bei Lemberg [14].

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Ernst Buchalik (1905 –); dt. Psychiater; 1939 – 1945 Leiter der Anstalt Lublinitz („Loben“; poln. Lubliniec); September 1945 Nervenarztpraxis in Thüringen, ab 1957 Leitender Arzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie Niedermarsberg. Verfahren wegen der Tötung behinderter Kinder in „Loben“ 1962 eingestellt [3].

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Elisabeth Hecker (1895 – 1986); dt. Psychiaterin; 1942 Leitende Medizinalrätin der Abteilung A der Jugendpsychiatrie in „Loben“; 1945 Landärztin in Bayern; 1947 Nervenärztin in Siegen; 1952 – 1960 Leiterin der von

Nothilfe und Widerstand !

Das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder (St. Johannes von Gott; Św. Jana Bożego) am Rande der Warschauer Altstadt stand nach der Kapitulation unter der Aufsicht eines deutschen Amtsarztes ([2], S. 168ff.). Der alltäglichen Bedrohung durch die Okkupanten und dem Hunger zum Trotz versah das polnische Personal seinen Dienst an den Kranken und machte das Krankenhaus zu einem Stützpunkt des Untergrundstaates36. Sogar heimliche Vorlesungen für Medizinstudenten wurden abgehalten. Aus dem unmittelbar benachbarten „Ghetto“ kamen bis zu seiner Zerstörung immer wieder Personen mit akuten psychischen Krisen zur Aufnahme. Aus Sicherheitsgründen wurden sie nach kurzer Zeit in Einrichtungen außerhalb der Stadt verlegt. Mit dem Ausbruch des Warschauer Aufstandes ab 1. August 1944 diente das Krankenhaus den Aufständischen als Lazarett. Ab dem 14. August lag das Krankenhaus unter dem Beschuss von Panzern und Flugzeugbomben. Besonderen Mut bewiesen dabei Frau Dr. Halina Jankowska37 und Dr. Kazimierz Dąbrowski38. Unter Patienten und Personal kam es zu hohen Verlusten. Am 2. September stürmte die SS das Krankenhaus und führte ungefähr 50 noch gehfähige Menschen (Patienten und Personal) ab, erschoss die bettlägerigen Verwundeten und steckte die Ruinen des Krankenhauses in Brand. Während dieser Aktion gelang es der Sanitätseinheit des nahegelegenen Priesterseminars einen großen Teil der Kranken, darunter 150 psychiatrische Patienten, in Sicherheit zu bringen. Von August bis Oktober 1944 wurden 600 000 Einwohner Warschaus durch das Lager Pruszków nach Auschwitz oder zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschleust. Darunter waren zahlreiche psychisch Kranke.

Fazit !

Von den polnischen Psychiatern hat fast die Hälfte – über hundert – den Krieg nicht überlebt [15]. Ärzte jüdischer Abstammung hatten keine Chance, aber auch nichtjüdische Psychiater wurden gezielt umgebracht, als Opfer der Intelligenzaktion oder gemeinsam mit ihren Kranken bei den Sonderaktionen in den Anstalten. Nicht wenige sind unter der sowjetischen Besatzung verschollen oder umgekommen, fanden den Tod bei den Deportationen in die sowjetischen Gulags oder bei Exekutionen des NKWD („Katyn“) [16]. Trotz der Gefahr sind viele Angestellte der

ihr gegründeten Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Gütersloh (seit 1965 Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie Hamm); 1960 Bundesverdienstkreuz. Verfahren wegen der Tötung behinderter Kinder in „Loben“ 1962 eingestellt [3]. 36

Noch im September 1939 gingen wichtige militärische und zivile Stellen des polnischen Staates in den Untergrund und hielten Kontakt zu der ab Sommer 1940 in London ansässigen Exilregierung der Polnischen Republik. Die wichtigsten Aufgaben des Untergrundstaates waren die Information der Exilregierung über die Lage im besetzten Land, der Schutz für besonders verfolgte und bedrohte Personen sowie die Organisation von Widerstandsaktionen.

37

Dr. Halina Jankowska (1890 – 1944); poln. Ärztin (Psychiatrie; Chirurgie), ab 1935 Leiterin der Frauenabteilung im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Warschau. Zusammen mit den Krankenschwestern ihrer Abteilung weigerte sie sich, die Kranken im Stich zu lassen und kam am 23.8.1944 bei der Bombardierung des Krankenhauses durch die Deutschen ums Leben ([2], S. 173).

38

Dr. Kazimierz Dąbrowski (1902 – 1980); poln. Psychiater, Neurologe, Psychologe und Psychotherapeut; Begründer der Theorie der positiven Desintegration und des Instituts für Psychohygiene in Zagórze.

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ler, da sich hier Seuchen besonders schnell ausbreiteten. Walbaum überlegte, welche Lösung vorzuziehen sei, Erschießen oder langsames Aushungern, wobei Erschießen nach seiner Auffassung einen abschreckenden Effekt hätte. Zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit erhielt jedes psychiatrische Krankenhaus einen deutschen Wirtschaftsdirektor. Die Ernährung wurde durch Richtlinien aus Walbaums Behörde zusätzlich reduziert. In einzelnen Fällen wurde nicht abgewartet, bis alle Patienten verhungert waren. 1940 starben in der Anstalt Kobierzyn bei Krakau 501 Patienten ([13], [2] S. 153ff.). Im September 1941 wurden die letzten 91 Patienten jüdischer Herkunft nach Zofiówka deportiert. Am 23. Juni 1942 luden SS-Männer die noch verbliebenen 535 polnischen Kranken in einen Zug. Direktor Alex Kroll32 erklärte dem Personal, sie würden in die Anstalt Drewnica verlegt. 30 bettlägerige Kranke wurden vergiftet und auf dem Anstaltsfriedhof begraben. In seinem Bemühen um Geheimhaltung übersah Kroll eine Lücke. Im Herbst 1942 ging in Kobierzyn – mittlerweile ein Erholungsheim der Hitlerjugend – eine Rechnung der „Ostbahn“ über den Transport der Patienten nach Auschwitz-Birkenau ein. Die deutsche Kassiererin wusste nichts damit anzufangen und zog einen ehemaligen polnischen Verwaltungsangestellten hinzu. Dieser riet ihr, die Rechnung an Kroll weiterzuleiten. Auf diese Weise wurde das tatsächliche Ziel des Transports bekannt. Im psychiatrischen Krankenhaus Kulparkow bei Lemberg (Lwów) kam es ab Juni 1942 unter deutscher Leitung zu einem Massensterben unter den etwa 2000 Patienten ([2], S. 159f.). Auf dem Anstaltsgelände wurde im Sommer 1941 ein Wehrmachtslazarett eingerichtet. Im August 1943 wurde Dr. Max Rohde33 aus Galkhausen (Rheinprovinz) nach Kulparkow abgeordnet. Er blieb nach eigenen Angaben bis zum Frühjahr 1944. In diesem Zeitraum trafen zahlreiche Krankentransporte aus dem Rheinland dort ein. Wie viele rheinische Patienten dort verhungerten, ist nicht bekannt. In der Anstalt Lubliniec (Lublinitz, „Loben“) gründeten Dr. Ernst Buchalik34 und Dr. Elisabeth Hecker35 1941 eine „Kinderfachabteilung“, in der Kinder bis zu 7 Jahren auf ihre „soziale Brauchbarkeit“ untersucht und bei negativer Prognose mit wiederholten Gaben von Barbituraten getötet wurden. Von 256 „behandelten“ Kindern starben 194. Auch unter den erwachsenen Patienten der Anstalt herrschte wegen der Mangelernährung eine hohe Sterblichkeit ([2], S. 160ff.).

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Originalarbeit

psychiatrischen Anstalten bei den Kranken geblieben und haben versucht, wenigstens einige von ihnen zu retten. Viele gingen in den Untergrund und leisteten aktiven Widerstand. Mindestens 20 000, wahrscheinlich sogar 30 000 Psychiatriepatienten wurden während des Krieges in Polen ermordet ([2], S. 227). Das ist gemessen an der Gesamtheit von ungefähr 6 Millionen polnischen Opfern – davon allein annähernd 3 Millionen polnischen Juden – keine große Zahl. Dennoch wurden die ermordeten Kranken in Polen nach dem Krieg als besondere Opfergruppe wahrgenommen. Der Science-Fiction-Autor Stanisław Lem schrieb seine eigenen Kriegserlebnisse als Arzt in dem Roman „Krankenhaus der Verklärung“ (erschienen 1948) nieder. Bereits im November 1945 berichtete Jaroszewski beim ersten Nachkriegskongress der Polnischen Psychiatrischen Gesellschaft über die Anstaltsmorde [17]. In den 60er- und 70er-Jahren forschten die Brüder Jerzy und Józef Radzicki über die Ereignisse im ehemals brandenburgischen Meseritz und veröffentlichten hierüber mehrere Artikel sowie eine Monografie [18]. Die erste Publikation über die Krankenmorde in Polen in deutscher Sprache 1982 stammt ebenfalls von Jaroszewski [19]. 1993 verfasste Jaroszewski eine Übersichtsarbeit in polnischer und in deutscher Sprache [20]. Den aktuellen Forschungsstand in Polen gibt die Monografie von Tadeusz Nasierowski aus dem Jahre 2009 wieder. Die deutsche Ignoranz bezüglich der Verbrechen in Osteuropa hat – begünstigt durch die politische Spaltung Europas bis 1989 – eine umfassende Aufklärung bis in die Gegenwart behindert. Tatsächlich haben die Ereignisse in Polen die im Deutschen Reich von Ärzten, Beamten und Technokraten vorbereitete Mordaktion wesentlich katalysiert. Zwischen den für die Euthanasieaktion verantwortlichen Experten und dem militärischen Apparat kam es zu einem signifikanten Transfer von Wissen, Technologie und Personal. Der 1. September 1939 markiert daher den wirklichen Zivilisationsbruch, insbesondere den Zusammenbruch der hippokratischen Ethik. Erschreckend ist die Erkenntnis, dass ganz normale Menschen mit unauffälliger Biografie sich ohne Anzeichen von Widerstand als Massenmörder einsetzen lassen. Die Überwindung der Amnesie bezüglich der Psychiatrieverbrechen war in den 1980er-Jahren eine wichtige Voraussetzung für die Überwindung des fachlichen, materiellen und moralischen Elends der Nachkriegspsychiatrie. Die Kenntnis der Vorgänge in den europäischen Nachbarländern ermöglicht die Aufnahme und Gestaltung internationaler Beziehungen [21].

Epilog !

Am 15. Oktober 1989 – anlässlich der Enthüllung einer Bronzetafel vor dem Bunker des Forts VII in Poznań – beschwor Jaroszewski die „Schatten der lieben Verstorbenen“, die 50 Jahre zuvor wegen ihrer Krankheit an diesem Ort ermordet worden waren. Die Erinnerung an ihr Schicksal bleibt ein Vermächtnis für jeden psychiatrisch tätigen Menschen. Denn ohne die bewusste Annäherung an sie wird jeder ethischen Reflexion auf dem Gebiet der Psychiatrie der Bezugspunkt fehlen.

Interessenkonflikt !

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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Konsequenzen für Klinik und Praxis Die historischen Fakten gehören zum wissenschaftlichen Erbe der Psychiatrie. Ihre genauere Kenntnis könnte für die besondere Verletzlichkeit psychisch Kranker und die strukturimmanenten moralischen Risiken der Tätigkeit in psychiatrischen Institutionen sensibilisieren. Sie bilden den Ausgangspunkt für jede posthippokratische Ethik.

Abstract

The Fate of Polish Psychiatry under German Occupation During World War II !

Polish psychiatry was since its origin deeply influenced by German (Austrian) and Russian psychiatry. After the German assault Polish psychiatric patients were the first victims of mass executions, and the first to be killed by new developed “gassing” technology. Especially cruel was the fate of Jewish patients. German “health policy” in occupied Poland was only “starvation or shooting”. Some hospitals continued working under German rule and received patients from Germany in the framework of Nazi-“euthanasia”. The article describes the mostly ignored facts of the close link between the medical programme of annihilation of the “unfit” and the genocide of Poles and Jews.

Literatur 1 Podgóreczny M. Albert Forster – Gauleiter i oskarzony. Gdańsk: Wydawnictwo Morskie; 1977: 306 – 309 2 Nasierowski T. Zagłada Osób z Zaburzeniami Psychicznymi w Okupowanej Polsce. Początek Ludobójstwa. Warszawa: Wydawnictwo Neriton; 2009 3 Klee E. Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. 3. Auflage. Frankfurt a. M.: Fischer TB; 2011 4 Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Massengräber polnischer Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen. Im Internet: www.memorialmuseums.org/denkmaeler/view/923/Massengr%C3% A4ber-polnischer-Opfer-der-nationalsozialistischen-Verbrechen (Stand: 5.1.2013) 5 Broszat M. Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik. 2. Aufl. Berlin: Suhrkamp TB; 1973: 277 6 Owczarek L. Die Situation der nationalen Minderheiten in Polen während der Systemtransformation. UTOPIE kreativ 2002; 141/142: 710 – 719 7 Gut A. Eutanazja – ukryte ludobójstwo pacjentów szpitali psychiatrycznych w Kraju Warty i na Pomorzu w latach 1939 – 1945. Im Internet: 2009: www.ipn.gov.pl/portal/pl/2/730/Eutanazja_8211_ukryte_ ludobojstwo_pacjentow_szpitali_psychiatrycznych_w_Kraju_Wa. html (Stand: 25.11.2012) 8 Halbersztadt J. 1994: The Nazi Crimes in the Zamosc Region. Im Internet: http://h-net.msu.edu/cgi-bin/logbrowse.pl?trx=vx&list=h-holo caust&month=9409&week=b&msg=ApqbBP3yPYXJ7TlmmKgJ1g&user =&pw= (Stand: 5.1.2013) 9 Madajczyk C, Hrsg. Zamojszczyzna – Sonderlaboratorium SS. Zbiór dokumentów polskich i niemieckich z okresu okupacji hitlerowskiej. 2 Bde. Warszawa: Ludowa Spółdzielnia Wydawnictwo; 1977 10 Klee E. „Euthanasie“ im NS-Staat: die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Frankfurt a. M.: Fischer TB; 1983: 410 11 Renfranz HP. Weil der Vater das Sagen hatte als Herr über Leben und Tod: die Auseinandersetzung von Hans Peter Renfranz mit seinem Vater. Mainz: Landeszentrale für Politische Bildung Rheinland-Pfalz; 1990 12 vgl. Beer, in: Morsch G, Perz B, Hrsg. Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas. Historische Bedeutung, technische Entwicklung, revisionistische Leugnung. Band 29. Unter Mitarbeit

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Originalarbeit

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17 Jaroszewski Z. Los Szpitala Psychiatrycznego w Owińskach w czasie wojny. Rocznik Psychiatryczny 1949; Nr 1: 117 – 121 18 Radzicki J, Radzicki J. Zbrodnie hitlerowskiej służby sanitarnej w Zakładzie dla Obłąkanych w Obrzycach. Zielona Góra: Lubuskie Towarzystwo Naukowe; 1975 19 Jaroszewski Z. Die Vernichtung psychisch Kranker unter deutscher Besatzung. Sozialpsychiatrische Informationen 1982; 4: 6 – 17 20 Jaroszewski Z. Die Ermordung der Geisteskranken in Polen. (zweisprachig dt-pl). Polskie Towarzystwo Psychiatryczne. Komisja Naukowa Historii Psychiatrii Polskiej. Warszawa: Wydawnictwo Naukowe PWN; 1993 21 Gebhardt R-P, Schmidt-Michel P-O. Sollen sich Deutsche in die rumänische Psychiatrie einmischen? Psychiat Prax 2008; 35: 47 – 48

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von Astrid Ley. Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Berlin: Metropol; 2011: 153 Szpytma M. Verbrechen an den Patienten der staatlichen Einrichtung für psychisch und nervlich Kranke in Kobierzyn. Dialog Nr. 12. Bielefeld/Kraków: Organ der Deutsch-Polnischen Gesellschaft für Seelische Gesundheit e. V.; 2003: 49 – 53 ALVR 16968: Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland Ilnicki S. Straty wśród psychiatrów polskich podczas drugiej wojny światowej 1939–1945. In: Nasierowski T, Herczyńska G, Myszka DM, Hrsg. Zagłada osób chorych psychicznie podczas II wojny światowej – pamięć i historia. Warszawa: Eneteia; 2012: 173 – 214 Kaiser G. Katyn. Das Staatsverbrechen – das Staatsgeheimnis. Berlin: Aufbau-Verlag; 2002

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[The fate of Polish psychiatry under German occupation during World War II].

Polish psychiatry was since its origin deeply influenced by German (Austrian) and Russian psychiatry. After the German assault Polish psychiatric pati...
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