Kasuistiken HNO 2013 DOI 10.1007/s00106-013-2769-1 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

A. Sandner1 · A. Lindner2 1 Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie,

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle/Saale 2 Institut für Pathologie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle

Redaktion

C. Matthias, Göttingen

Falldarstellung Anamnese Der zum Zeitpunkt der Diagnosestellung 60-jährige Patient stellte sich im Rahmen der Tumordispensaire-Sprechstunde mit monströsen Lymphödemen im Bereich der Unterlider beidseits vor. Diese bestanden ansatzweise seit einer Salvage-Neck-Dissection, welche 4 Jahre zurücklag, und waren im Zeitverlauf stark progredient. Die Kontrollintervalle wurden vom Patienten selbstständig prolongiert, sodass insgesamt im Zeitraum von 5 Jahren nach initialer Tumortherapie nur 10 spontane Arztkontakte aufgrund einer Beschwerdesymptomatik stattfanden. Im Jahr 2005 war bei dem Patienten ein ausgedehntes Zungengrundkarzinom (cT4 cN2c cM0) diagnostiziert worden. Die Histologie einer Gewebeprobe ergab ein gut differenziertes Plattenepithelkarzinom mit Verhornung (G1). Nach Tracheostomie und laparoskopischer PEGAnlage erfolgte im Oktober 2005 die primäre kombinierte Radiochemotherapie (RCT) bis 70,6 Gy, wobei sich an eine Hauptserie mit 30 Gy bei täglicher Einzeldosis von 2,0 Gy ein „concomitant boost“ mit täglicher Einzeldosis von 1,4 Gy (Planungszielvolumen, PTV) und 1,4 Gy („boost“) anschloss. Simultan erfolgte die Induktionsschemotherapie mit Cetuximab (400 mg/m2) einmalig und nachfolgend die Kombinationschemotherapie mit Cisplatin 20 mg/m2 KOF und Cetuximab 250 mg/m2 KOF.

Chirurgische Therapie sekundärer, elefantoider Lymphödeme der Lider Posttherapeutisch persistierte eine Lymphknotenschwellung beidseits, wobei in der Positronenemissionstomographie (PET) eine gesteigerte Glukoseutilisation in dieser Region nachweisbar war, sodass nach Kontroll-Panendoskopie und lokaler Tumorfreiheit eine Salvage-NeckDissection (März 2006) beidseits indiziert wurde. Die histologische Aufarbeitung des Neck-Präparats zeigte damals rechtsseitig einen Lymphknoten mit Infiltraten eines gut differenzierte Plattenepithelkarzinoms in Level II sowie linksseitig 4 tumorinfiltrierte Lymphknoten in Regio II/ III. Postoperativ kam es zur deutlichen Schwellung im Gesichtsbereich, die mit lokaler Lymphdrainage behandelt wurde und unter dieser Therapie zunächst rückläufig war. Im Oktober 2006 wurde der Verdacht auf ein Lokalrezidiv erhoben, der durch erneute Panendoskopie und Probeentnahme (PE) nicht bestätigt wurde. Bei den darauf folgenden, nur sporadischen Vorstellungen des Patienten wurde eine stetige Zunahme der chronischen Lymphödeme verzeichnet, die bei unzureichender Compliance des Patienten durch lokale Lymphdrainage und intermittierende Therapie mit Kortison nicht mehr zu beeinflussen war, sodass schließlich die Indikation zur chirurgischen Resektion gestellt wurde.

pung. Linksseitig fand sich eine annähernd tennisballgroße derbe, prall-elastische Raumforderung im Bereich des Unterlids, welche das linke Auge nahezu vollständig verdeckte, den Naseneingang links verlegte und bis auf Höhe der Unterlippe linksseitig reichte. Des Weiteren fand sich eine derbe Schwellung im Bereich des Oberlids links. Außerdem war eine erhebliche Zungenschwellung auffällig (. Abb. 1).

Klinischer Befund

Computertomographie

Rechtsseitig fand sich im Bereich des Unterlids eine etwa 5 cm große, schmerzlose, weich tastbare „sackartige“ Ausstül-

Diagnostik Ophthalmologische Untersuchungen

Die augenärztlichen Untersuchungen ergaben einen Visus von 1,0 rechts und von 0,8 links. Die Tensio war beidseits normoton seitengleich. Rechtsseitig fand sich durch den etwa 5 cm großen Unterlidtumor ein leichtes Entropium und hyperämische Bindehaut. Linksseitig fand sich durch den etwa 10 cm großen Unterlidtumor ein massives Unterlidektropium, eine Trichiasis am Oberlid, eine Oberlidschwellung und eine Expositionskeratopathie (Hornhaut positiv gestippt mit Fluoreszein). Im Abstrich der Bindehaut war nur in Anreicherung die Stapyloccocus-epidermidis-Gruppe nachweisbar. Die Computertomographie (CT) des Halses wurde zum Ausschluss eines Lokalrezidivs durchgeführt. Die ehemalige Tumorregion im Bereich des Zungengrunds HNO 2013 

| 1

Kasuistiken

Abb. 1 8 Präoperativer Zustand des Patienten mit sekundären, elefantoiden Lymphödemen im Bereich der Unterlider beidseits; links ausgeprägter als rechts, links ebenfalls Oberlid mitbetroffen. (Ansicht von vorn und seitlich)

Abb. 2 8 Postoperativer Zustand des Patienten. Kein Anhalt für ein Rezidivödem 1,5 Jahre nach Resektion der elefantoiden Lymphödeme im Lidbereich, unauffällige Narbenverhältnisse

Abb. 3 8 Histologisches Präparat. (HE, Vergr. 4:1) Subepidermal findet sich a teils aufgelockertes, b teils fibrosiertes Bindegewebe mit zahlreichen Gefäßstrukturen. Einzelne Lymphatisationsherde, zusätzlich diffus verteilte atypische Stromazellen

2 | 

HNO 2013

Zusammenfassung · Abstract erwies sich als asymmetrisch, aber ohne Anhalt für Rezidivtumor. Das Lymphabstromgebiet wies ebenfalls keine pathologisch vergrößerten Lymphknoten auf. Auffällig war ein massives Lymphödem des Gesichts mit Punctum maximum im Bereich der Lider mit Flüssigkeitseinlagerung und Verdickung der angrenzenden Faszien. Außerdem fand sich ein weniger stark ausgebildetes Lymphödem im Halsbereich, welches bildmorphologisch eher Hinweise auf ein chronisches Vorliegen bot.

Diagnose Die vorliegenden Befunde wurden als chronifiziertes, elefantoides Lymphödem der Unterlider beidseits interpretiert.

Therapie und Verlauf Therapeutisch erfolgte die chirurgische Resektion der Lymphödeme. Bei Hautinzision kam es zum deutlichen Austritt von Lymphflüssigkeit. Um eine Wundheilungsstörung bzw. ein rezidivierendes Lymphödem im Resektionsbereich zu vermeiden, wurde Kollagenvlies (Tachosil®) auf das Resektionsareal aufgebracht und anschließend explizit darauf geachtet, dass die Wunde ohne Spannung verschlossen wurde. Unmittelbar postoperativ wurde zur Rezidivprophylaxe einmal täglich eine manuelle Lymphdrainage durchgeführt. Des Weiteren erfolgte die lokale Kompressionsbehandlung mit Pflasterzügeln (Kinesiotape®). Unter dieser Behandlung kam es zum reizlosen Abheilen der Inzisionen. Anderthalb Jahre postoperativ gab es keinen Anhalt für ein Rezidiv der Lymphödeme (. Abb. 2). Die histologische Aufarbeitung der 28 g (rechts) und 109 g schweren (links) Op.-Präparate zeigte subepidermal teils aufgelockertes, teils fibrosiertes Bindegewebe mit zahlreichen Lymphgefäßstrukturen und einzelnen Lymphatisationsherden ohne Anhalt für einen floriden oder chronischen Entzündungsprozess (. Abb. 3). Es wurde die histologische Diagnose eines chronifizierten Lymphödems gestellt.

Diskussion Sekundäre Lymphödeme sind nach therapeutischen Eingriffen im Kopf-HalsBereich infolge einer malignen Tumorerkrankung häufig [5]. Sie entstehen, wenn die anfallende Lymphlast infolge der Zerstörung der Lymphgefäße die Transportkapazität des lymphatischen Systems übersteigt. Nach Deng [3] sind etwa 75% der Tumorpatienten in unterschiedlichem Ausmaß entweder von endolaryngealen oder externen Lymphödemen des Halses oder des Gesichts bzw. kombinierten Ödemen betroffen. Am häufigsten treten Lymphödeme nach kombinierter Therapie (Chirurgie + adjuvante RCT, Induktionschemotherapie + definitive RCT) fortgeschrittener Tumorstadien auf. Besonders häufig waren Patienten mit Oropharynxtumoren betroffen, wobei die Lymphödeme in diesen Fällen häufig extern am Hals im submentalen Bereich lokalisiert sind. Durch die Überlastung des interstitiellen Gewebes mit proteinreicher lymphatischer Flüssigkeit und chronischer Lymphostase kommt es zur Gewebsentzündung, die zur Proliferation von Fibroblasten und Bindegewebe führt. Zunächst können sich die Gewebsveränderungen nur in einer „Verhärtung“ oder einem „Spannungsgefühl“ äußern, höhergradige Veränderungen zeigen sich in sichtbaren Schwellungen mit oder ohne funktionelle Beeinträchtigungen. Lymphödeme des Gesichts, des Mundes und des Halses können zu beträchtlichen Einschränkungen bei der Ernährung, der Kommunikation und Respiration führen, geschwollene Lider zur Behinderung des Gesichtsfelds [9, 10]. Eine entstellende Elefantiasis ist im Gesichtsbereich eher selten, führt aber zwangsläufig zur schweren Beeinträchtigung der Lebensqualität [9, 10]. Die Gradeinteilung von Lymphödemen folgt verschiedenen deskriptiven Klassifikationen [5, 7, 8]. Zur Therapie chronischer Lymphödeme wird i. d. R. die manuelle Lymphdrainage (MLD) eingesetzt [4]. Eine sanfte, oberflächliche, zirkuläre Massage unterstützt den Lymphabtransport in benachbarte Areale mit intakter Lymphdrainage. Die sog. komplexe dekongestive Therapie (KDT) kombiniert zusätzlich physika-

HNO 2013 · [jvn]:[afp]–[alp] DOI 10.1007/s00106-013-2769-1 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 A. Sandner · A. Lindner

Chirurgische Therapie sekundärer, elefantoider Lymphödeme der Lider Zusammenfassung Ausgeprägte Lymphödeme im Gesichtsbereich stellen eine extreme Belastung für die betroffenen Patienten dar, deren Lebensqualität oft durch Folgen der primären Therapie eines malignen Grundleidens erheblich eingeschränkt ist. Die therapeutischen Möglichkeiten sind häufig begrenzt, sie bestehen im Wesentlichen aus physikalischen Maßnahmen bzw. Pharmakotherapie. Chirurgische Maßnahmen kommen nur im Ausnahmefall zum Einsatz. Wir berichten im Folgenden über die erfolgreiche Resektion elefantoider Lymphödeme im Lidbereich bei einem Patienten mit primär radiochemotherapiertem Zungengrundkarzinom. Schlüsselwörter Lymphödem · Periorbital · Kopf-Hals-Malignome · Radiochemotherapie · Lebensqualität

Surgical therapy of secondary elephantoid lymphedema of the eyelids Abstract Because of the disfiguring changes they cause, prominent secondary lymphedemas of the face represent an extreme burden for afflicted patients. Many of these patients already have considerable restrictions imposed upon their quality of life as a consequence of the primary cancer therapy. Therapeutic options are often limited, mainly comprising physical therapy and pharmacological interventions. Only in exceptional cases is surgical therapy a treatment facility. We report the successful surgical treatment of a patient with secondary elephantoid lymphedema following primary radiochemotherapy for squamous cell cancer of the base of the tongue. Keywords Lymphedema · Periorbital · Head and neck neoplasms · Radiochemotherapy · Quality of life

HNO 2013 

| 3

Kasuistiken lische Maßnahmen wie die Applikation von Kompressionsverbänden. Für den HNO-Bereich existieren keine Literaturangaben bezüglich einer Kompressionstherapie [5]. Piso [5] hat in einer Pilotstudie das nächtliche Tragen von Gesichtsmasken, wie man sie von der Verbrennungsbehandlung kennt, vorgeschlagen. Diese sind allerdings ungeeignet zur Therapie von Lidödemen. In den letzten Jahren hat sich mit gutem Erfolg die Anwendung von Pflasterzügelverbänden (Kinesiotape®) in der Praxis etabliert. Trotzdem gestaltet sich die Behandlung des chronischen Geschehens oftmals schwierig, da sie eine entsprechend hohe Compliance des Patienten erfordert, welche wie im gezeigten Beispiel nicht zwangsläufig vorhanden sein muss. Nur durch die regelmäßige Durchführung der Therapiemaßnahmen können irreversible Gewebeschäden vermieden werden. Diskutiert wird auch die ergänzende Verabreichung verschiedener Medikamente zur Therapie von Lymphödemen. Hierbei zu nennen sind u. a. Kortikosteroide und Diuretika, die beide jedoch nur einen vorübergehenden abschwellenden Effekt haben. Im dargestellten Fall blieb die initiale intermittierende Therapie mit Kortikosteroiden wirkungslos und konnte das massive Fortschreiten des Lymphödems nicht aufhalten. Es gibt einzelne Arbeiten, in denen über einen positiven Einsatz von Selen in Kombination mit Octreotid im HNO-Bereich berichtet wird [5]. Nur in seltenen Fällen sind chirurgische Eingriffe indiziert. Im Bereich der Extremitäten sind operative Verfahren zur Rekonstruktion des Lymphabflusses in Erprobung, die die Effektivität der KDT im Sinne einer ergänzenden Maßnahme steigern sollen [6]. DebulkingOperationen können theoretisch zu einer Reihe von Problemen, wie Ulzerationen, Hautnekrosen, Fistelbildungen oder weiteren Exazerbationen des vorbestehenden Lymphödems führen. Unsere Erfahrungen decken sich in diesem Fall mit denen anderer Autoren [1, 2], die ein chirurgisches Debulking chronischer Lidödeme mit sehr zufriedenstellendem kosmetischem und funktionellem Ergebnis durchgeführt haben.

4 | 

HNO 2013

Fazit für die Praxis Die intensivierte, multimodale Therapie von Plattenepithelkarzinomen des KopfHals-Bereichs kann verstärkt zu posttherapeutischen Toxizitäten, wie z. B. zu ausgeprägten Lymphödemen, führen. Das Risiko ist erhöht, wenn nach einer aggressiven First-Line-Radiochemotherapie eine Salvage-Operation erfolgt. Für irreversible Gewebsveränderungen, z. B. im Lidbereich, gibt es keine konservativen Therapieoptionen. Funktion und Lebensqualität können durch erfolgreiche Debulking-Operationen erheblich verbessert werden.

Korrespondenzadresse Dr. A. Sandner Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde Kopf- und Halschirurgie Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Magdeburger Str. 12, 06097 Halle/Saale [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  A. Sandner und A. Lindner geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Alle Patienten, die über Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts zu identifizieren sind, haben hierzu ihre schriftliche Einwilligung gegeben. Im Falle von nicht mündigen Patienten liegt die Einwilligung eines Erziehungsberechtigen oder des gesetzlich bestellten Betreuers vor.

Literatur   1. Bernadini FP, Kersten RC, Khouri LM, Moin M et al (2000) Chronic eyelid lymphedema and acne rosacea. Ophthalmology 107:2220–2223   2. Chalasani R, McNab A (2010) Chronic lymphedema of the eyelid: case series. Orbit 29:222–226   3. Deng J, Ridner SH, Dietrich MS, Wells N et al (2012) Prevalence of secondary lymphedema in patients with head and neck cancer. J Pain Symptom Manage 43:244–252   4. Einfeldt H, Henkel M, Schmidt-Auffurth T, Lange G (1986) Therapeutic and palliative lymph drainage in therapy of edema in the face and neck. HNO 34:365–367   5. Hammerl B, Döller W (2008) Das sekundäre maligne Lymphödem bei fortgeschrittenen HNO-Tumoren. Wien Med Wochenschr 158:695–701

  6. Lee BB, Laredo J, Neville R (2011) Reconstructive surgery for chronic lymphedema: a viable option, but. Vascular 19:195–205   7. Marsch WC (2005) Lymphgefäßsystem der Haut. Orthologie, Klinik und Pathologie. Hautarzt 56:277–295   8. Miller AJ, Bruna J, Beninson JA (1999) Universally applicable clinical classification of lymphedema. Angiology 50:189–192   9. Piso DU, Eckardt A, Liebermann A, Gutenbrunner C et al (2001) Early rehabilitation of head-neck edema after curative surgery for orofacial tumors. Am J Phys Med Rehabil 80:261–269 10. Smith BG, Lewin JS (2010) Lymphedema management in head and neck cancer. Curr Opin Otolaryngol Head Neck Surg 18:153–158

[Surgical therapy of secondary elephantoid lymphedema of the eyelids].

Because of the disfiguring changes they cause, prominent secondary lymphedemas of the face represent an extreme burden for afflicted patients. Many of...
404KB Sizes 0 Downloads 0 Views