Pro und Kontra Nervenarzt 2015 DOI 10.1007/s00115-015-4281-1 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

J.B. Kuramatsu · H.B. Huttner Neurologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen, Erlangen

Operation bei intrazerebraler Blutung? Kontra Grundsätzlich erscheint die Überlegung, eine Hirnblutung zu operieren, um damit die Läsion, ihren raumfordernden Charakter und somit den erhöhten Hirndruck zu behandeln, zweckmäßig. Ein hierdurch motivierter „Aktionismus“ anstelle eines konservativen „Nichtstuns“ hat aber möglicherweise dazu geführt, dass über Jahrzehnte hinweg die offene Kraniotomie mit Hämatomevakuation bei Patienten mit intrazerebraler Blutung (ICB) großzügig indiziert wurde, gerade bei schwerer betroffenen Patienten mit größeren Blutungsvolumina. Stützen konnten sich die Befürworter auf viele Fallserien, Beobachtungsstudien und kleinere randomisierte Studien, die aber den methodischen Standards der heutigen Zeit nicht gerecht wurden. Die erste große Studie mit akzeptablem und stärkerem Design war die weltweit durchgeführte prospektive, randomisierte, kontrollierte Multicenterstudie STICH. Deren Ergebnisse glichen einem Weckruf gegen die unreflektierte Indikation einer offenen Kraniotomie mit Hämatomevakuation [1]. An 83 Zentren in 27 Ländern wurden über 8 Jahre hinweg über 1000 Patienten mit einer supratentoriellen ICB eingeschlossen. Die Studie basierte auf dem Unsicherheitsprinzip („principle of uncertainty“), d. h., weder der Neurologe noch der Neurochirurg wusste, ob der Patient eventuell von einer Operation profitieren würde. Untersucht wurden die Effekte einer frühzeitigen Hämatomevakuation innerhalb von 24 h nach Randomisierung im Vergleich zu einem konservativen Vorgehen („best medical treatment“) hinsichtlich des Überlebens und funktionell-neurologischen Status nach 6 Mona-

ten. Unabhängig davon, ob Patienten konservativ oder operativ behandelt wurden, waren die Endpunkte identisch (operativ: 26% mit einem günstigen Outcome; konservativ: 24%). Eine Subgruppenanalyse zeigte, dass eventuell Patienten mit lobären ICB und minimaler Entfernung vom Kortex ≤1 cm doch von einer offenen Kraniotomie mit Hämatomevakuation profitieren könnten, möglicherweise, da bei ihnen durch die Intervention weniger gesundes Hirngewebe beeinträchtigt wird. Die Folgestudie STICH-2 übernahm das Unsicherheitsprinzip ihrer Vorläuferstudie und untersuchte mehr als 600 Patienten mit lobären Blutungen ohne Ventrikeleinbruch mit einem Hämatomvolumen von 10 bis 100 ml [2]. Erneut zeigte sich, dass auch hier eine offene Kraniotomie mit Hämatomevakuation generell nicht empfohlen werden kann. So ließ sich im klinischen Outcome der Patienten kein Unterschied zugunsten der Operation nachweisen. Allerdings ist zu erwähnen, dass eine a priori definierte Subgruppenanalyse (Patienten mit einer guten vs. einer schlechten Prognose, berechnet anhand des initialen Werts auf der Glasgow Coma Scale, des Patientenalters und Hämatomvolumens) geringe positive Überlebenseffekte bei operierten Patienten mit einer initial schlechten Prognose aufzeigte. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass in beiden Studien überwiegend die offene Kraniotomie mit Hämatomevakuation (STICH: 77%; STICH-II: 98%) untersucht wurde. Diese Operationsform sollte basierend auf der Datenlage von STICH und STICH-2 eigentlich nur noch auf individueller Basis

indiziert werden. Eine solche „individuelle Basis“ könnte gegeben sein, wenn ein Patient wenige Komorbiditäten hat, weder komatös noch voll kontaktfähig ist und eine kortexnahe größere ICB aufweist (Volumen >30–35 ml).

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In Metaanalysen postulierte positive Effekte einer Operation sind mit Vorsicht zu betrachten Somit kann nach aktueller Evidenzlage eine offene Kraniotomie mit Hämatomevakuation bei supratentoriellen Blutungen nicht generell empfohlen werden. Vermeintlich positive Effekte einer Operation bei ICB, die auf der Basis von Metaanalysen postuliert wurden, sollten mit Vorsicht betrachtet werden, da hier ein gewisser Publikations- bzw. Selektionsbias vorliegen könnte [2, 3]. Die Evidenzlage einer Operation bei infratentoriellen ICB ist deutlich schlechter; die Empfehlungen basieren im Wesentlichen auf kleineren Fallserien bzw. retrospektiven Observationsstudien, in denen ein möglicher Vorteil einer subokzipitalen Dekompression bei zerebellären ICB mit größerem Durchmesser (>3 cm), Hirnstammkompression, Liquorzirkulationsstörung und neurologischer Verschlechterung beschrieben wurde. Eine randomisierte, kontrollierte Studie zu diesem Thema existiert nicht. Dieser Beitrag ist Teil einer Pro-und-KontraDebatte. Den zugehörigen Pro-Standpunkt finden Sie unter http://dx.doi.org/10.1007/s00115015-4295-8. Der Nervenarzt 2015 

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Pro und Kontra Ganz grundsätzlich erscheint es wichtig, dass die konservative neurointensivmedizinische Versorgung über die Jahre durchaus Fortschritte gemacht hat und ein „best medical treatment“ inzwischen sowohl die Mortalität als auch das funktionelle Outcome beeinflusst [4]. Insofern wird es vermutlich künftig noch schwieriger, einen klinischen Vorteil einer offenen Operation nachzuweisen. Das bisher Gesagte soll keineswegs bedeuten, dass ein neurochirurgisches Vorgehen bei der Behandlung der ICB grundsätzlich abzulehnen ist. Ganz im Gegenteil – es muss nur weiterentwickelt werden und moderneren Ansätzen folgen. Die Anlage einer Ventrikeldrainage ist höchstwahrscheinlich oft lebensrettend und innovative Verfahren werden aktuell im Rahmen der großen internationalen Studie CLEARIVH untersucht, z. B. die intraventrikuläre Fibrinolyse, d. h. die Injektion von rekombinantem Gewebeplasminogenaktivator (rtPA) über Ventrikelkatheter zur beschleunigten Resorption der intraventrikulären Blutanteile. Das Absaugen des Hämatoms über ein kleines Bohrloch im Rahmen einer minimal-invasiven Operation hat vielversprechende Ergebnisse erbracht, ist jedoch als Routineverfahren noch nicht ausreichend etabliert. Als weitere Alternative wird derzeit die Entlastungskraniotomie im Rahmen der SWITCH-Studie untersucht. Um nicht die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, sollten diese neuen Verfahren erst in Studien verifiziert werden, deren Studiendesign wir nach heutigen Maßstäben als ausreichend stark betrachten. Es wäre mehr als wünschenswert, hier neue evidenzbasierte Therapieoptionen zu erhalten. Bis dahin jedoch sollte in der klinischen Routine der Grundsatz gelten, dass eine offene Hämatomevakuation nicht generell, sondern nur auf individueller Basis und mit entsprechender Begründung indiziert wird und innovative Strategien, z. B. minimal-invasive Ansätze, zügig im Rahmen kontrollierter Studien untersucht werden – erste Studien wurden bereits initiiert.

Fazit für die Praxis Momentan kann keine generelle Empfehlung für eine offene Hämatomeva-

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kuation bei ICB abgegeben werden. Auf individueller Basis kann diese jedoch erwogen werden. Neuere Verfahren wie die minimal-invasive Absaugung der ICB werden derzeit erprobt.

Korrespondenzadresse Prof. Dr. H.B. Huttner Neurologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen Schwabachanlage 6, 91054 Erlangen [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  J.B. Kuramatsu und H.B. Huttner geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

Literatur 1. Mendelow AD, Gregson BA, Fernandes HM et al (2005) Early surgery versus initial conservative treatment in patients with spontaneous supratentorial intracerebral haematomas in the International Surgical Trial in Intracerebral Haemorrhage (STICH): a randomised trial. Lancet 365(9457):387– 397 2. Mendelow AD, Gregson BA, Rowan EN et al (2013) Early surgery versus initial conservative treatment in patients with spontaneous supratentorial lobar intracerebral haematomas (STICH II): a randomised trial. Lancet 382(9890):397–408 3. Prasad K, Mendelow AD, Gregson B (2008) Surgery for primary supratentorial intracerebral haemorrhage. Cochrane Database Syst Rev 4:CD000200 4. Diringer MN, Edwards DF (2001) Admission to a neurologic/neurosurgical intensive care unit is associated with reduced mortality rate after intracerebral hemorrhage. Crit Care Med 29(3):635–640

[Surgery for intracerebral hemorrhage? Contra].

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