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Kom petenzzentrum B urnout und Lebenskrise, P rivatklinik Hohenegg AG, M e ile n 1; A lterspsychiatrie2, B ildung und Standesfragen Psychologie3, Inte g rie rte Psychiatrie W in te rth u r - Zürcher U nterland, W in te rth u r 'Sebastian Haas, Jacqueline M inder, "Gregor Harbauer

Suizidalität im Alter - was kann der Hausarzt tun? Suicidality in th e Elderly - W h a t th e General Practitioner can do

Zusammenfassung Die Suizidraten der älteren Bevöl­ kerung sind in der Schweiz und den meisten anderen Ländern höher als in der gesamten Bevölkerung. Suizidalität im Alter kommt meistens im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen v.a. Depression vor. Ärzte in der medizinischen Grundver­ sorgung haben besondere Bedeutung im Erkennen und Erfassen suizidaler Zustände bei älteren Menschen wegen derer oft langjährigen, vertrauensvol­ len Beziehung und der Tatsache, dass Suizidalität sich oft hinter Somatisierung oder anderen medizinischen Be­ schwerden «verbirgt». Ein neuer praxisnaher Ansatz, das «PRISM-S Instrument», ermöglicht das Erfassen des Suizidalitätsausmasses in weniger als fünf Minuten mithilfe eines einfachen visuellen Verfahrens. Neben der Bedeutung öffentlicher Massnahmen im Bereich der psychi­ schen Gesundheit, bietet PRISM-S eine zeitsparende und einfach anzuwenden­ de Methode die von allen Gesundheits­ fachpersonen zum Erfassen von Suizi­ dalität bei Erwachsenen (18-65 Jahre) genutzt werden kann. Weitere noch ausstehende Untersuchungen werden den spezifischen Nutzen bei älteren Menschen (über 65 Jahren) untersu­ chen. Schlüsselwörter: Suizid - Psychische Gesundheit im Alter - Suizidalität bei älteren Patienten - Suizidprävention Erfassen von Suizidalität, PRISM-S

Hausärzte und Grundversorger sind im Umgang mit Suizidalität bei älteren Menschen in besonderer Weise gefor­ dert. Warum das so ist, welche Fragen sich der Grundversorger im Umgang mit älteren Menschen in Krisensituati­ onen stellen sollte und wie hilfreich ein neues klinisches Tool (PRISM-S) beim Erfassen kritischer Zustände sein kann, ist Gegenstand dieses Artikels.

Fakten und Hintergründe Laut WHO wird sich der Anteil der über 60-Jährigen in der Bevölkerung zwischen 2000-2050 von 11 auf 22% verdoppeln. Obschon das Alter an sich nicht mit einer höheren Rate an psychi­ schen Erkrankungen verbunden ist, gilt, dass die statistische Wahrscheinlichkeit, an einer psychischen Störung zu erkran­ ken, bei alten Menschen beinahe doppelt so hoch ist wie bei jungen Menschen [ 1]. Ältere Menschen sind dementsprechend einem höheren Suizidrisiko ausgesetzt als alle anderen Populationssegmen­ te. Wie in Abbildung 1 ersichtlich ist,

steigt die Suizidrate bei über 65-jährigen Menschen weltweit signifikant an. Vor diesem Hintergrund erklärte die WHO am 10. Oktober 2013, dem internatio­ nalen Tag der psychischen Gesundheit, «mental health and older adults» bzw. «Psychische Gesundheit im Alter» zum Jahresthema 2013. Insbesondere bei Männern im Alter zeigt sich auch in der Schweiz eine ex­ ponentielle Zunahme der Suizidrate ab dem 75. Lebensjahr. Bei über 85-jähri­ gen Männern ist sie sogar fünfmal höher als bei Adoleszenten [2]. Unter Berück­ sichtigung der assistierten Suizide steigt diese Rate sogar auf das Siebenfache an [2], Die Gesellschaft nimmt diese alar­ mierenden Fakten hin, ohne die gleichen kritischen Fragen zu stellen, mit denen die Suizidrate in der Adoleszenz disku­ tiert wird [3], Es gibt entgegen weitläufiger Meinungen keinen Beleg dafür, dass der Bilanzsuizid im Alter häufiger vollzogen wird als in jüngeren Jahren. Mehrere Hinweise ver­ dichten sich hingegen, dass ein negatives Bilanzieren durch ein «altersfeindliches» gesellschaftliches Klima gefördert wird.

■ Männer ■ Frauen 60

ss

Abb. l: W e ltw e ite V e rte ilu n g d e r S uizidrate nach A lte r und G eschlecht im Jahr © 2014 V erlag Hans Huber, H ogrefe AG, Bern

2000 .

DOI 10.1024/1661-8157/a001775

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Abb. 2: R eduktion de r S uizid ra ten in N ü rn b e rg in verschiedenen A lte rsg ru p p e n vo r und nach der In te rv e n tio n du rch das B ündnis gegen Depression.

Risikokonstellationen sind das Vorhan­ densein psychischer Erkrankungen, Iso­ lation und Vereinsamung, körperliche Erkrankungen, die die Lebensführung stark beeinträchtigen und der Verlust von zwischenmenschlichen Beziehun­ gen z.B. bei Verwitwung [4]. Ärztliche Grundversorger haben bei der Früherkennung von Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen mit einhergehender Suizidalität eine heraus­ ragende Bedeutung. In verschiedenen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass etwa 70% der späteren Suizidopfer im Monat vorher ihren Hausarzt aufge­ sucht, dort jedoch off nicht von sich aus über ihre Suizidalität gesprochen hatten. Das «Bündnis gegen Depression» redu­ zierte u.a. durch intensive Sensibilisie­ rungsmassnahmen in der Öffentlichkeit und bei verschiedenen Fachpersonen die Suizidraten vor allem im Altersbereich erfreulicherweise deutlich [5] (Abb. 2).

W ie begegnen ältere M en ­ schen dem Grundversorger in Krisensituationen? Gerade bei älteren Menschen ist der Hausarzt meist die erste und häufig auch einzige Vertrauens- und Ansprechper­ son in einer suizidalen Krise.

Insbesondere in den Notfalldiensten oder bei der Betreuung von Heimbe­ wohnern ist der Grundversorger oft gefordert, in kurzer Zeit eine klinische Einschätzung vorzunehmen und geeig­ nete Massnahmen einzuleiten. Nicht immer kann er dabei auf die Unterstüt­ zung durch psychiatrische Fachkollegen zählen. Insbesondere bei älteren Menschen ma­ nifestieren sich psychische Probleme off kaschiert «hinter» somatischen Be­ schwerden und werden immer wieder erst spät erkannt. Ältere Menschen leiden off unter mehre­ ren Gesundheitsproblemen gleichzeitig: z.B. chronische Herz-/Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Diabetes. Diese und andere somatische Erkrankungen kön­ nen das Risiko für psychische Erkran­ kungen erhöhen. Psychische Erkran­ kungen im engeren Sinne können sich off hinter Somatisierungsstörungen, Dysphorie, Demenz oder einer Sucht­ problematikverstecken [3]. Gemäss psychologischen Autopsiestu­ dien wiesen 71-95% der Älteren, die Suizid begangen haben, prämortal eine psychische Krankheit auf [6]. Depressionen sind die häufigsten mit Suizidalität assoziierten Erkrankungen im Alter. Das Erkennen einer depressi­ ven Erkrankung ist anspruchsvoll und

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setzt neben dem klinisch sensibilisierten Blick des Arztes ein hohes Mass an Ver­ trauen des Patienten voraus. Im Unter­ schied zu jüngeren Menschen verlaufen Depressionen bei Älteren off subsyndromal und werden daher fälschlicherwei­ se immer wieder mit Altersbildern des «normalen» Rückzugs alter Menschen in Verbindung gebracht und daher häufig übersehen. Dazu kommt, dass die heute älteren Menschen in einer Zeit soziali­ siert wurden, in der über Gefühle wenig gesprochen wurde. Häufig ist gar kein Wortschatz dafür vorhanden «Gefühle» zu benennen. Es war im Gegensatz zu somatischen Erkrankungen früher auch sozial weniger akzeptiert, psychische Probleme «haben zu dürfen». Zwangs­ läufig lernten diese Menschen bestimm­ te Probleme über den Körper auszudrü­ cken. Schmerzsyndrome werden so zum häufigen Ausdruck depressiver Erkran­ kungen älterer Menschen. Eine differenzialdiagnostische Heraus­ forderung stellt die Demenz dar, denn eine chronische Depression kann in eine Demenz übergehen, und Demenz kann mit einer Depression einhergehen. Kog­ nitive Einbussen wie bei einer Demenz können bei einer Depression als Pseu­ dodemenz imponieren. Das klinische Bild kann sehr ähnlich aussehen, auch neuropsychologisch ist nicht immer mit eindeutiger Sicherheit die Demenz von einer Depression zu unterscheiden. Hierfür braucht es längere Beobach­ tungszeiträume, in denen erst der weite­ re Verlauf die Diagnose bestätigt [3],

Suizidalität verläuft auf einem Kontinuum Suizidalität wird heute als multifaktoriell verursachtes, multidimensionales Phä­ nomen verstanden. Suizidhandlungen können oft als Folge eines psychischen Unfalles verstanden werden, als Folge einer Handlung, die faktisch ausserhalb unserer bewussten kognitiven Kontrolle, d.h. in «dissoziiertem» Zustand, abläuft [7].

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Um ein klinisch-pragmatisches Ver­ ständnis der Suizidalität zu entwickeln, empfiehlt es sich, von einem Kontinui­ tätsmodell auszugehen, wie es Wolfers­ dorf [8] beschrieben hat. Nach seinem Modell entwickelt sich Suizidalität vom «passiv erlebten» Wunsch nach Ruhe oder einer Unterbrechung im Leben kontinuierlich weiter über die Erwä­ gung, sich zu töten bis zur Suizidabsicht und der finalen Durchführung der Sui­ zidhandlung. Die Betrachtung der Su­ izidalität als Kontinuum auf einer Ach­ se von nicht-suizidal bis hoch suizidal kommt den Erfahrungen im klinischen Alltag weitaus näher als eine kategoriale Betrachtung, in der eine Person als suizi­ dal gefährdet oder nicht suizidal gefähr­ det bezeichnet wird [9].

E in s c h ä tz u n g u n d B e h a n d lu n g d e r S u iz id a lit ä t d u rc h H a u s ä r z t e

Bei der Einschätzung der Suizidalität hat es sich bewährt, folgende Ausprägungs­ differenzierungen vorzunehmen: «kei­ ne» Suizidalität, «erhöhte», «akute» oder «unklare» Suizidalität. Bei Verdacht auf erhöhte Suizidalität ist das direkte und offene Ansprechen von Suizidgedanken, -wünschen, -phantasien oder gar hand­ lungsrelevanten Suizidplänen dringend indiziert. Suizidale Menschen stossen mit ihrer leider immer noch tabuisierten Suizidalität sehr häufig auf Ablehnung und fühlen sich weder ernst genommen noch verstanden. Gerade für Menschen im Alter kann eine Vertrauensperson wie der Hausarzt, der etwas Raum und Zeit bietet, sehr viel Gutes bewirken. Es bietet einem lebensgefährdeten Menschen die Gelegenheit, mit seinem Tabu-Problem nicht abgewiesen zu werden, sondern Gehör zu finden. Diese Gelegenheit, endlich seine seelische Not und seinen unerträglichen psychischen Schmerz ausdrücken zu dürfen, kann zu einer markanten Entlastung führen, damit nicht mehr alleine zu sein und das The­ ma vertrauensvoll «platzieren» zu kön­

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nen [9]. Betroffene fühlen sich endlich nicht mehr alleine mit ihrer Suizidalität und schöpfen vertieftes Vertrauen in eine tragende professionelle Beziehung. Deshalb: Sprechen wir Betroffene aktiv auf möglicherweise vorhandene Suizi­ dalität an! Die Erfahrungen in der klinischen Praxis zeigen immer wieder, dass viele Patien­ ten daran scheitern, von sich aus ande­ ren ihre Suizidalität mitzuteilen. Dazu kommt, dass gerade ältere Menschen im Gegensatz zu jüngeren weniger über ihre fast schon «intimen» Schwierigkeiten sprechen (wollen). Unabdingbare Vor­ aussetzung dafür, jemanden auf Suizi­ dalität anzusprechen, ist ein vertrauens­ stiftendes Setting, das mehr Ruhe, Raum und Zeit bietet als andere Gespräche [9]. Gerade dieses vertrauensvolle Klima ist beim Hausarzt oft eher gegeben als bei einer noch fremden Fachperson. Dem vertrauten Hausarzt ist der Patient eher bereit, Einblick in seine Not zu gewäh­ ren, sofern er aktiv darauf angesprochen wird. Suizidale Menschen leiden häufig un­ ter depressiven Symptomen wie Hoff­ nungslosigkeit, Hilflosigkeit, Wertlo­

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sigkeit, Versagensgefühle, Resignation und häufig auch Schlafschwierigkeiten, innere Unruhe oder inneres Angetrie­ bensein. Mehrere Kriterien weisen auf eine aktuell erhöhte Suizidalität bei alten Menschen hin: Werden Äusserungen über Suizidideen, -pläne, -intentionen oder vorbereitende Suizidhandlungen gemacht, kann von höherer Suizidgefährdung ausgegangen werden, je konkreter die Äusserungen gemacht werden. Weitere relevante An­ zeichen sind soziale Rückzugstendenzen oder wenn sich Betroffene unerwartet von geschätzten oder geliebten Gegen­ ständen trennen. Wichtig ist, die Signa­ le, die eine suizidale Person aussendet, ernst zu nehmen, anzusprechen und nicht, wie es leider häufig geschieht, zu verharmlosen [9], Wenn der Patient aufgrund seiner Äus­ serungen oder seines Verhaltens als akut suizidgefährdet beurteilt wird, sind alle Massnahmen, die dazu geeignet sind, ihn vom Vollzug des Suizids zurückzu­ halten, prinzipiell gerechtfertigt [10], Anhand des Leidensdruckes, den der suizidale Wunsch beim Patienten gene­ riert, können massgeschneiderte Kri-

Tab. 1: In d ik a to re n f ü r e ine e rh ö h te suizida le G e fä h rd u n g bei ä lte re n M enschen (m od. nach [4]) Indikatoren fü r erhöhte Suizidalität im A lter A. Psychische Erkrankungen und Kom orbidität

D.

z.B.

• G eringes Soziales Netz

• D epression

• N ie d rig e K o n ta k td ic h te

• B ipolare S tö ru n g

• A lle in leben (U n z u frie d e n h e it d a m it)

• W ahn h a fte S tö ru n g

• M a n g e l an ve rtra u e n svo lle n Beziehungen

• B eginnende Dem enz

• Ö kon om isch schlechte Lage

Soziale Situation/Isolierung

• S u b s ta n z a b h ä n g ig ke it • S c hlafstörun ge n B. Suizidales Verhalten

E. Belastende Lebensereignisse

• V orgeschichte von Suizidversuchen

• V e rw itw u n g /S c h e id u n g

• F am ilien an am ne se

• P fle g e b e la stu n g

• Suizide im U m fe ld

• F am iliäre K o n flikte

• Z e itra u m nach K lin ike n tla ssu n g C. Körperliche Erkrankung und

F. Zugang zu Tötungsm itteln

Beeinträchtigung u.a.

• W affe n

• Krebs

• M e d ik a m e n te

• N euro log ische E rkrankungen

• Pestizide

• C hronische Lu ng en erkran kun gen • Sensorische D e fizite • E inschränkung de r A k tiv itä te n des tä g li­ chen Lebens • S ub je ktive K ra n kh e it

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seninterventions-Strategien eingeleitet werden. Hierzu gehören: Pharmakologische Krisenintervention mit der akuten Bekämpfung von Span­ nung, Angst und Schlaflosigkeit, bis hin zur Sedierung bei akuter Suizidalität. Bei ausgeprägtem, depressivem Syndrom sollte schon in der Akutphase mit einer antidepressiven Behandlung begonnen werden, wobei die Wirklatenz zwischen einer bis drei Wochen liegt [10]. Viele ältere Menschen mit Depressionen sind grundsätzlich positiv gegenüber Inter­ ventionen eingestellt, ziehen aber Bera­ tung gegenüber Medikamenten vor [11]. Wenn immer möglich, sollten jedoch Antidepressiva und Psychotherapie kombiniert werden.

A s s e s s m e n t d e r S u iz id a li­ t ä t - w a s h a t sich k lin is c h b e w ä h r t?

Suizidalität patientengerecht und in nützlicher Zeit zuverlässig einzuschätzen ist immer noch eine grosse Herausforde­ rung in der klinischen Praxis. Gerade der Hausarzt sieht sich regelhaft vor die Auf­ gabe gestellt, innerhalb von kurzer Zeit eine zuverlässige Aussage über den ak­ tuellen und sogar zukünftigen Gefähr­ dungsgrad machen zu müssen. Zahlreiche Messinstrumente bieten eine wissenschaftlich evaluierte Un­ terstützung beim Assessment der Sui­ zidalität, wie z.B. die Geriatrie Suicide Ideation Scale GSIS [12], doch ist der Einsatz von solchen Fragebogen in ei­ ner suizidalen Krise bei den Betroffe­ nen wie auch bei Fachpersonen nicht immer hoch willkommen. Gerade im Altersbereich gibt es heute noch re­ lativ wenige Erfahrungen m it dem praktischen Einsatz von SuizidalitätsAssessmentinstrumenten. Einen etwas anderen und praxisnäheren Ansatz gegenüber traditionellen Fragebogen bietet das neu entwickelte Visualisie­ rungs-Instrum ent PRISM-S (Pictorial Representation of Illness and Self Mea­ sure - Suicidality) [13].

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Wie in der Pilotstudie mit Erwachsenen bis 65 Jahren gezeigt werden konnte, lässt sich mit PRISM-S die aktuelle Suizidge­ fährdung in weniger als fünf Minuten zuverlässig messen. Das standardisierte Instrument besteht aus einer weissen A4Metallplatte mit einem gelben Punkt von sieben Zentimetern Durchmesser in der rechten unteren Ecke und einer schwar­ zen Kunststoffscheibe. Entsprechend der «Haltung eines Schulterschlusses» setzt man sich idealerweise neben den Patien­ ten oder, wie in Hausarztpraxen off üb­ lich, im rechten Winkel zueinander an einen Tisch. Dem Patienten wird erklärt, dass die Platte sein «Leben» und der gel­ be Kreis «er selbst» darstelle (Wording: Der gelbe Punkt repräsentiert «Sie»), Dann wird die schwarze, magnetische Scheibe von fünf Zentimetern Durch­ messer gezeigt, die als Repräsentanz für den «Drang, sich das Leben zu nehmen» eingeführt wird. Schliesslich wird der Patient mit der Frage: «Welchen Platz in Ihrem Leben nimmt zurzeit der Drang, sich das Leben zu nehmen, ein?» auf­ gefordert, die «Suizidalitätsscheibe» zu platzieren. Die Distanz zwischen dem gelben Punkt (Patient) und der «Sui­ zidalitätsscheibe» ist das quantitative Mass, das mit «Gefährdungsausmass, sich zu suizidieren» beschrieben werden kann. Der Patient wird anschliessend gefragt: «Was bedeutet dies für Sie» (... wenn Sie den Drang, sich das Leben zu nehmen, an diesen Platz setzen)? Die spontan folgenden, konkreten Detail­ äusserungen werden qualitativ ausge­ wertet und bieten einen sofortigen und

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direkten Zugang zu den Hintergründen der Suizidalität. Das visuelle Instrument PRISM-S misst vergleichbar zuverlässig wie andere standardisierte Skalen, z.B. die Suicidal Ideation Scale von Beck [ 14], wie in einer ersten Validierungsstu­ die und einer RCT-Studie (Publikation in Vorbereitung) gezeigt werden konnte [ 13], setzt jedoch nicht das übliche (und oft unbeliebte) «Paper & Pencil-Handling» ein. Meistens gewinnt man mittels PRISM-S in zwei bis drei Minuten einen sehr gu­ ten Eindruck vom aktuellen Gefähr­ dungsgrad des Patienten. Konkret visualisiert der Patient auf der Tafel die eigene Beziehung zu seinem Drang, sich zu suizidieren. Die schwarze Scheibe wird von den Patienten - entsprechend der Annahme der Autoren — an dem Punkt positioniert, an dem das uner­ trägliche Leidensausmass einerseits und ihre verfügbare Resilienz andererseits aufeinander treffen. Er drückt sozusa­ gen das gegenwärtige Gleichgewicht der beiden Tendenzen für oder wider die Suizidhandlung aus, was sich im Dia­ log mit dem Patienten konkret thema­ tisieren lässt [15]. PRISM-S vermittelt in einfacher Art und Weise einen visu­ ellen Eindruck, in welchem Ausmass sich die Suizidgefährdeten selbst «be­ droht» fühlen, oder in anderen Worten, von wie viel «Widerstandsvermögen» oder Ressourcen sie noch getragen werden. Die Verwendung des Instru­ mentes PRISM-S ersetzt selbstverständ­ lich nicht das ärztlich-psychologische Gespräch, in das die Erfahrungen der

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Abb. 3: Suizidalitätseinschätzung von PRISM-S gemeinsam m it dem Patienten.

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■ Fachpersonen und ihr «Bauchgefühl» mit einfhessen. In der klinischen Pra­ xis hat sich der Einsatz von PRISM-S bei Erwachsenen (18-65 Jahre) u. a. am Kriseninterventionszentrum Winter­ thur sehr bewährt [9]. Ob sich das In­ strument auch bei der Altersgruppe der über 65-Jährigen bewährt, wird derzeit näher untersucht.

W as a u f g esellsch aftlic h er Ebene zu tu n ist

Bei Verhinderung aller schweren depres­ siven Episoden im späteren Leben würde die Suizidrate in dieser Altersgruppe um bis zu 75% sinken [16]. Zur Verhütung von Suiziden können neben der Sensi­ bilisierung von Hausärzten und anderen Grundversorgern die Bereitstellung von hilfreichen Tools für die Praxis sowie der Einsatz spezifischer, d.h. verhält­ nisbezogener Präventionsmassnahmen für Risikogruppen beitragen. Im Rah­ men eines gerade anlaufenden Schwer­ punktprogramms Suizidprävention im Kanton Zürich [17] werden mehrere direkt suizidpräventive Massnahmen geplant, die Menschen im Alter zugute kommen sollen, wie beispielsweise regi­ onale «Suizidrapporte» unter Einbezug alters-spezifischer Fachpersonen, Rück­ rufaktionen und gezielte Rückführung von Medikamenten oder spezifische Suizidverhiitungs-Konzepte an Alters- und Pflegeheimen.

A bstract Suicide rates in Switzerland and most other countries are higher among the elderly than among the popula­ tion as a whole. Suicidality in the old age is commonly associated with the presence of a mental disorder, espe­ cially depression. Medical doctors in primary healthcare have outstanding prominence in detecting suicidal states within elderly patients, because of their

Key messages • Suizidalität ist in den meisten Fällen das Symptom einer psychiatrischen Er­ krankung, die behandlungsbedürftig und in der Regel auch gut behandelbar ist. • Die Haltung und Einstellung der Menschen in unserer westlichen Welt gegenüber älteren Menschen ist aktuell eher suizidbegünstigend bzw. sogar suizidfördernd. • Suizidalität ist auch bei älteren Menschen häufig das Symptom einer Depres­ sion. • Sie stellt eine diagnostische Herausforderung dar, weil sie sich häufig hin­ ter Somatisierung, Dysphorie, Pseudodemenz oder einer Suchtproblematik verstecken kann. • Nicht der Wunsch nach dem Tod steht bei Suizidalen im Vordergrund, son­ dern der Wunsch nach Ruhe, Abstand und Erlösung vom nicht mehr ertrag­ baren Leid (sog. «Psychache»). • Suizidalität lässt sich nie mit hundertprozentiger Sicherheit erfassen. Die weitere Entwicklung von praxisnahen Assessment-Tools insbesondere auch für Menschen im höheren Alter wäre dennoch hilfreich.

common long-standing and confiden­ tial relationship and the fact that suici­ dality is often concealed behind somatisation or other medical complaints. A new practical approach called PRISM-S task enables an assessment of the degree of suicidality in less than five minutes with a simple, visual instru­ ment. Besides the importance of public mental health measures PRISM-S of­ fers a brief, easy-to-administer method for all healthcare professionals to as­ sess suicidality in adult patients (18-65 years). Further investigation will ex­ plore its specific usefulness for elderly patients (over 65 years). Key words: Suicide - Suicide Preven­ tion - Mental health and older adults - Suicidality assessment - PRISM-S

Resume Le taux de suicide en Suisse et dans la plupart des autres pays est plus eleve chez les personnes ägees que dans la population generale. Chez les per­ sonnes ägees le suicide est communement associe ä un desordre mental, la depression en particulier. Les medecins de premier recours jouent un role tres

important dans la detection des ten­ dances suicidaires chez les personnes ägees, ceci gräce ä leur relation souvent prolongee et confidentielle avec ces dernieres et du fait que le risque de suicide se cache souvent derriere des troubles somatiques ou d'autres plaintes medicales. Une nouvelle approche pratique (PRISM-S task) permet d'evaluer en moins de 5 minutes le degre de risque de suicide gräce ä un instrument simple et visuel. En plus de l'importance sur le plan de la sante mentale, l'approche PRISM-S represente pour tous les professionnels de la sante une methode rapide et facilement realisable pour evaluer le risque suicidaires chez les adultes de 18 ä 65 ans. Des investiga­ tions supplementaires seront effectuees pour tester 1'utilite de cette approche selectivement chez les personnes ägees de plus de 65 ans. Mots-cles: suicide - personnes ägees PRISM-S task - medecine de premier recours

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Mini-Review

Korrespondenzadresse

Bibliographie

Dr. med. Sebastian Haas M.H.A. Stv. Ärztlicher Direktor Leiter Kompetenzzentrum Burnout und Lebenskrise Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie Privatklinik Hohenegg AG Hohenegg 1 8706 Meilen

1.

Sebastian. haas@hohenegg. ch

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[Suicidality in the elderly - what the general practitioner can do].

Le taux de suicide en Suisse et dans la plupart des autres pays est plus élevé chez les personnes âgées que dans la population générale. Chez les pers...
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