Originalien Orthopäde 2014 DOI 10.1007/s00132-014-2316-0 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

J. Schröder · K.-M. Braumann · R. Reer Bewegungswissenschaft, Abteilung Sport- und Bewegungsmedizin, Universität Hamburg

Wirbelsäulenform- und Funktionsprofile Referenzwerte für die klinische Nutzung bei Rückenschmerzsyndromen

Zusatzmaterial online Die Originaldaten zu den Wirbelsäulen­formund Funktionsreferenzwerten stehen online zur Verfügung. Sie finden das Supplemental unter dx.doi.org/10.1007/s00132-014-2316-0.

Hintergrund Auffälligkeiten der Achsenskelettform und der Rumpfmuskulaturfunktion kön­ nen als biomechanische Parameter zur Beurteilung von Patienten mit chroni­ schen, unspezifischen Rückenbeschwer­ den („chronic low back pain“, CLBP) zur diagnostischen Ergänzung oder thera­ piebegleitend zur Qualitätssicherung berücksichtigt werden. So wurden be­ schwerdeassoziierte Muskelfunktions­ defizite schon in den 1980er Jahren be­ schrieben [19]. In den 1990er Jahren wur­ de ein erweitertes funktionsdiagnosti­ sches Konzept evaluiert und klinisch eta­ bliert, um individuell befundbasierte be­ wegungstherapeutische Interventionen zu legitimieren: das muskuläre Profil der Wirbelsäule [5]. Neben der Muskelkraft sollte auch die Mobilität als sensitiver Kennwert zur Beschreibung von Dysfunktionen oder funktionellen Defiziten des paraverte­ bralen ligamentär-neuromuskulären Sta­ bilisierungssystems in Erwägung gezogen werden [24, 26]. Einschränkungen der Extension oder Flexion können mit defi­ nierten Rückenschmerzsyndromen kor­ respondieren [12, 20, 34]. Kulig et al. [14]

konnten im dynamischen MRT beobach­ ten, dass sowohl eine Hypo- als auch eine Hypermobilität lumbaler Segmente mit CLBP assoziiert war. Sogar die Haltung im freien bipeda­ len Stand kann als Ausdruck funktionel­ ler Fähigkeiten bzw. bei CLBP-Patienten als Ausdruck eines defizitären Funktions­ status interpretiert werden [33, 37]. Eine deutlicher von der sagittalen Neutralposi­ tion abweichende thorakolumbosakrale Wirbelsäulenkurvatur wurde photome­ trisch als Hinweis auf LBP identifiziert [32]. Radiologische Befunde sprechen für eine tendenziell abgeflachte Lordose bei CLBP-Patienten [11]. Metaanalytisch konnten aber auch Asymmetrien in der Frontalebene als Indiz für chronisch un­ spezifische Rückenbeschwerden identifi­ ziert werden [1]. Diese Befunde wurden jüngst videorasterstereographisch bestä­ tigt [31]. Diesem Verfahren konnte eine hohe klinische Nützlichkeit und Prakti­ kabilität attestiert werden [2, 6]. In den vorangehenden Absätzen wur­ den Referenzen herausgestellt, die einen möglichen Zusammenhang zwischen Rückenbeschwerden und biomechani­ schen Funktionskennwerten in Quer­ schnitt- und Korrelationsanalysen unter­ sucht haben. Kausalitäten sind aus die­ sen Befunden nicht direkt abzuleiten. Es darf nicht übersehen werden, dass kei­ ne unmittelbaren Zusammenhänge zwi­ schen Kraftkennziffern und Beschwerden bzw. zwischen einer trainingsinduzier­ ten Schmerzreduktion und verbesserten Kraftkennziffern gefunden werden konn­

ten; Verbesserungen im Funktionsniveau bei LBP-Patienten wurden überwiegend auf modulierende psychologische Fakto­ ren wie ein „verbessertes Selbstbewusst­ sein“ und „mehr Zutrauen zu den eige­ nen Fähigkeiten“ zurückgeführt [16, 17]. Zusammenhänge zwischen Rückenbe­ schwerden und Wirbelsäulenformmerk­ malen waren darüber hinaus weniger ausgeprägt als bei Kraftkennwerten [31], aber funktionelle Zusammenhänge zwi­ schen Schmerzreduktion, Kraftniveau und Haltungskennwerten konnten bei Patienten in der Rehabilitation nach Dis­ kusprolaps gefunden werden [4]. Andererseits wurde der hohe Anteil unspezifischer Rückenbeschwerden am Gesamtaufkommen schon darauf zu­ rückgeführt, dass die diagnostischen Möglichkeiten nicht weit genug ausge­ schöpft wurden [18]. Vor diesem Hintergrund war es das Ziel der vorliegenden Arbeit, einen Refe­ renzrahmen beschwerdefreier und mög­ lichst wenig durch Reifung oder Alte­ rung beeinflusster Personen für Wirbel­ säulenform- und -funktionskennziffern zu erarbeiten, der im klinischen Alltag zur Einordnung individueller Patienten­ daten nützlich sein kann, wenn der prak­ tizierende Orthopäde objektivierbare Parameter im diagnostischen Screening und therapiebegleitenden Monitoring bei Rückenschmerzpatienten zu Rate ziehen möchte.

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Originalien

Abb. 1 8 Rumpfmuskelkrafttestung. Rumpfmuskelkrafttestgerät mit Standardisierungs­ elementen (Oberschenkel-, Becken- und Schulterfixierung), höhenverstellbarer Schultergürteleinheit und Fußwiderlagerrollen (oben) und exemplarischen Testergebnissen für die Rückenstreckkraft (Extension) und die Rumpfbeugekraft (Flexion) mit Angaben zu Körperhöhe und ­-masse des jeweiligen Probanden (unten)

te) einen Wert von 0,3±0,7 Punkten auf und im Funktionsfragebogen Oswestry Disability Index (ODI, Range 0–100%) einen Wert von 3,3±3,7% (. Tab. 1). Darüber hinaus wurden 5 sehr unter­ schiedliche Rückenschmerzpatienten im gleichen Altersspektrum wie die Refe­ renzgruppen mit spezifischen oder un­ spezifischen Beschwerdebildern unter­ sucht, deren Problematik zuvor ortho­ pädisch-fachärztlich diagnostiziert wur­ de, um assoziierte Auffälligleiten in de­ ren muskuloskelettalen Funktionsprofi­ len exemplarisch herauszustellen: F Patient 1: weiblich, 39 Jahre, Body Mass Index (BMI) 22,0 kg/m2, CLBP, Oswestry Disability Index (ODI) 61%, massive klinische Beschwerden im Stehen, Sitzen und Liegen. F Patient 2: weiblich, 22 Jahre, BMI 25,4 kg/m2, Spondylodiszitis L3/L4, ODI 16%, massive Klinik insbesonde­ re bei Oberkörperanteflexionsaufga­ ben. F Patient 3: weiblich, 21 Jahre, BMI 20,1 kg/m2, Skoliose, ODI 2%, kaum Beschwerden im Alltag. F Patient 4: männlich, 40 Jahre, BMI 27,0 kg/m2, CLBP, ODI 40%, Klinik im Sitzen und Liegen. F Patient 5: männlich, 30 Jahre, BMI 29,6 kg/m2, Diskusprolaps, ODI 8%, kaum Beschwerden im Alltag.

Methoden

Im Einklang mit der Deklaration von Helsinki wurden die Probanden über den nichtinvasiven Untersuchungsgang infor­ miert und die Daten anonymisiert [27].

Stichprobe

Messsysteme

Insgesamt wurden 103 Personen ohne Rückenbeschwerden (52 Frauen, 51 Män­ ner) als Probanden zur Erstellung eines orientierunggebenden Referenzwertrah­ mens akquiriert, die älter als 18 Jahre sein mussten und nicht älter als 40 Jahre sein sollten (Mitarbeiter und Studierende der Universität Hamburg: Alter 27,2±7,2 Jah­ re, BMI 23,0±2,5 kg/m2). Eine ernsthafte Rückenschmerzvorgeschichte, eine dia­ gnostizierte Störung (ICD-10: M) oder aktuelle Beschwerden galten als Aus­ schlusskriterium. Die Probanden wie­ sen zum Zeitpunkt der Untersuchung im CR10-Schmerzscore (Range 0–10 Punk­

Krafttestung

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Die Rumpfmuskelkraft in der komple­ xen Rückenstreckung und der komple­ xen Rumpfbeugung – jeweils unter Ein­ beziehung aller Synergisten – wurde im Sitzen unter standardisierten Bedingun­ gen mithilfe des Messsystems Myoline® (Fa. Diers, Schlangenbad, Deutschland) als isometrische Maximalkraft getes­ tet (DMS-Kraftmessdose: 100 Hz, Filter: gleitendes Mittel über 0,3 s). Die interin­ dividuell standardisierte Positionierung und Fixierung (Begrenzungsflächen, hö­ henverstellbares Schulterelement sowie Hüft- und Oberschenkelgurte) erlaubten

eine zuverlässige Ermittlung der Kräfte in Extension und Flexion (ICC >0,95), zu­ mal vor jeder Testung maximale Übungs­ kontraktionen durchgeführt wurden (. Abb. 1). Nach Müller [21] sollte bei Rückenschmerzsyndromen ergänzend zur Strukturdiagnostik auch eine Funk­ tionsdiagnostik durchgeführt werden. Isometrische Krafttestungen wurden als angemessener Kompromiss für eine zu­ verlässige und valide Testung der Rumpf­ muskelkraft qualifiziert [22]. Die Kräf­ te (N) und der Quotient (%) aus Exten­ sion/Flexion (Ex/Flex) wurden der statis­ tischen Analyse zugeführt.

Wirbelsäulenformanalyse

Die Wirbelsäulenform wurde nichtinvasiv rasterstereographisch analysiert (Forme­ tric®, Fa. Diers, Schlangenbad, Deutsch­ land). Die digitale Rekonstruktion der Rückenoberfläche basierte auf lichtop­ tischen Rasterprojektionsmustern und den korrespondierenden Videokamera­ bildern (10 frames/s, . Abb. 2). Video­ rasterstereographisch konnten somit drei­ dimensionale Formanalysen der Rücken­ oberfläche vorgenommen werden, aus denen die Lage und geometrische Orien­ tierung unter der Haut liegender knöcher­ ner Strukturen errechnet wurden (Auflö­ sung 10 Punkte/cm2, Rekonstruktions­ fehler

[Spinal form and function profile: reference values for clinical use in low back pain].

Functional diagnostic approaches are helpful in the treatment of low back pain (LBP) patients. Reference data of asymptomatic individuals might be hel...
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