© Klaus Rüschhoff, Springer Medizin

Nervenarzt 2014 · 85:635–647 DOI 10.1007/s00115-013-3955-9 Online publiziert: 11. April 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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springermedizin.de/ eAkademie Teilnahmemöglichkeiten Diese Fortbildungseinheit steht Ihnen als e.CME und e.Tutorial in der Springer Medizin e.Akademie zur Verfügung. – e.CME: kostenfreie Teilnahme im Rahmen des jeweiligen Zeitschriftenabonnements – e.Tutorial: Teilnahme im Rahmen des e.Med-Abonnements

CME Zertifizierte Fortbildung B. Bandelow Dipl.-Psych. · D. Wedekind Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Göttingen, Göttingen

Zertifizierung Diese Fortbildungseinheit ist mit 3 CMEPunkten zertifiziert von der Landesärztekammer Hessen und der Nordrheinischen Akademie für Ärztliche Fort- und Weiterbildung und damit auch für andere Ärztekammern anerkennungsfähig.

Soziale Phobie

Hinweis für Leser aus Österreich

Die soziale Phobie (soziale Angststörung) ist mit einer Lebenszeitprävalenz von 13% (DSMIV-TR) eine häufige und schwerwiegende Erkrankung, die wegen des damit verbundenen Leistungsdrucks, einer erhöhten Suizidrate und einer häufigen Komorbidität mit Suchterkrankungen nicht bagatellisiert werden darf. Charakteristisch für die soziale Phobie ist die übertriebene und unrealistische Angst, von anderen Menschen negativ bewertet zu werden. Sie beginnt häufig im Jugendalter. Durch eine evidenzbasierte Behandlung mit kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) und Medikamenten können die Symptome einer sozialen Phobie gut gebessert werden. Beruhend auf einer systematischen Recherche aller verfügbaren randomisierten Studien werden in diesem Artikel Empfehlungen zur Behandlung der sozialen Phobie gegeben. Unter den psychotherapeutischen Therapieverfahren haben sich verschiedene Varianten der KVT in kontrollierten Studien als wirksam erwiesen. Zu den Medikamenten der 1. Wahl zählen selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) und der selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) Venlafaxin.

Gemäß dem Diplom-Fortbildungs-Programm (DFP) der Österreichischen Ärztekammer werden die in der e.Akademie erworbenen CME-Punkte hierfür 1:1 als fachspezifische Fortbildung anerkannt.

Kontakt und weitere Informationen Springer-Verlag GmbH Springer Medizin Kundenservice Tel. 0800 77 80 777 E-Mail: [email protected]

Zusammenfassung

Schlüsselwörter

Soziale Phobie · Soziale Angststörung · Kognitive Verhaltenstherapie · Selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer · Serotonin-Norepinephrin-Wiederaufnahmehemmer

Der Nervenarzt 5 · 2014  | 

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CME

Lernziele Nach der Lektüre dieses Beitrags sind Sie vertraut mit… F der Diagnose und Differenzialdiagnose der sozialen Phobie, F der Epidemiologie dieser Erkrankung, F der evidenzbasierten Psychotherapie und F der evidenzbasierten Pharmakotherapie.

Hintergrund

Charakteristisch für die soziale Phobie ist die Angst, von anderen Menschen negativ bewertet zu werden

Nur 35% der betroffenen Patienten lassen sich behandeln

Die soziale Phobie (soziale Angststörung) ist eine häufige und schwerwiegende Erkrankung. . Tab. 1 enthält die Definition der Sozialphobie nach ICD-10. Diese Definition erweist sich für die Diagnosestellung in der täglichen Praxis als etwas zu allgemein gehalten. Es hat sich daher bewährt, bei Verdacht auf das Vorliegen einer sozialen Phobie dem Patienten einige individuelle Fragen zu stellen, wie sie beispielhaft in . Tab. 2 aufgeführt sind. Charakteristisch für die Erkrankung ist die Angst, von anderen Menschen negativ bewertet zu werden: in der Schule beim Schreiben an der Tafel, in Prüfungen, bei Vorstellungsgesprächen, bei Behördengängen, bei Vorträgen oder Musikdarbietungen, beim Kontakt mit Fremden oder beim Umgang mit dem anderen Geschlecht. Die Betroffenen befürchten, wegen ihres Aussehens oder ihres Verhaltens kritisch betrachtet zu werden. Die Furcht äußert sich in körperlichen Symptomen wie Herzrasen, Tremor, Schwitzen, Muskelverspannungen, einem flauen Gefühl im Magen, Mundtrockenheit, Hitzewallungen oder Kälteschauer, Kopfdruck, Erröten sowie Harn- oder Stuhldrang. Diese Symptome können sich bis zu einer vollständigen Panikattacke steigern. Die Patienten befürchten, dass man ihnen die Angstsymptome wie Erröten oder Zittern anmerken könnte. Direkter Blickkontakt wird als belastend empfunden. Die Betroffenen tendieren dazu, soziale Situationen zu vermeiden. Einschränkungen der Bewegungsfreiheit oder soziale Isolation sind die Folge. Die Angst vor sozialen Situationen führt zu unterschiedlichem Leidensdruck. Während sich einige Betroffene damit arrangieren, ein zurückhaltendes, unauffälliges Leben zu führen, gibt es doch zahlreiche Menschen, die ausgeprägt unter ihren sozialen Ängsten leiden. Da viele Patienten große Angst haben, sich überhaupt einem Arzt anzuvertrauen – aus der unrealistischen Furcht heraus, abgewertet zu werden –, gibt es eine hohe Dunkelziffer von nicht diagnostizierten Sozialphobien. Nur 35% der betroffenen Patienten lassen sich wegen dieser Erkrankung behandeln [2].

Social phobia Summary

With a lifetime prevalence of 13 % social phobia (social anxiety disorder) is a common and serious condition that should not be played down because of the burden associated with the disorder, an increased suicide rate and the frequent comorbidity with substance abuse disorders. Social phobia is characterized by the excessive and unrealistic fear of being scrutinized or criticized by others. The disorder often begins in adolescence. Symptoms of social phobia can be effectively treated with evidence-based treatment, including cognitive behavior therapy (CBT) and psychopharmacological medications. In the present paper, treatment recommendations are given, which are based on a systematic review of all available randomized trials for the treatment of social phobia. Among psychological therapies, variants of CBT have been proven to be effective in controlled studies. Selective serotonin reuptake inhibitors (SSRIs) and the selective serotonin norepinephrine reuptake inhibitor (SNRI) venlafaxine are among the drugs of first choice.

Keywords

Social phobia · Social anxiety disorder · Cognitive behavioral therapy · Selective serotonin reuptake inhibitors (SSRI) · Serotonin norepinephrine reuptake inhibitors (SNRI)

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CME Tab. 1  Diagnose der generalisierten Angststörung nach den ICD-10-Forschungskriterien – F40.1 soziale

Phobien. (Nach [1]) A. Entweder 1. oder 2. 1. Deutliche Furcht, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten 2. Deutliche Vermeidung, im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen oder von Situationen, in denen die Angst besteht, sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten B. Mindestens 2 Angstsymptome, wie sie bei Panikattacken auftreten können (Herzrasen, Schwitzen, Zittern, Mundtrockenheit usw.), in den gefürchteten Situationen, mindestens einmal seit Auftreten der Störung, außerdem mindestens 1 von 3 – Erröten oder Zittern – Angst zu erbrechen – Miktions- oder Defäkationsdrang oder Angst davor C. Deutliche emotionale Belastung durch Angst oder Vermeidungsverhalten D. Symptome beschränken sich ausschließlich auf die gefürchteten Situationen oder auf die Gedanken an diese E. Häufigstes Ausschlusskriterium: Die Symptome des Kriteriums A sind nicht bedingt durch Wahn, Halluzinationen oder andere Symptome der Störungsgruppen organische psychische Störungen, Schizophrenie und verwandte Störungen, affektive Störungen oder eine Zwangsstörung oder sind nicht Folge einer kulturell akzeptierten Anschauung Tab. 2  Fragen an Patienten bei Verdacht auf Vorliegen einer sozialen Phobie Haben Sie Angst vor Situationen, in denen Sie kritisch beurteilt werden könnten, z. B. bei einem Bewerbungsgespräch? Machen Sie sich manchmal über einen Gang zu einer Behörde schon tagelang vorher Gedanken? Hätten Sie Angst, mit einem Vorgesetzten, Lehrer usw. zu sprechen? Hätten Sie Angst, einen Mann (bzw. eine Frau) anzusprechen, weil Sie ihn/sie gern kennenlernen möchten? Hatten Sie heute Angst, in die Praxis/Klinik zu kommen und über Ihr Problem zu sprechen? Hätten Sie Angst, vor mehreren Menschen eine Rede zu halten, einen Witz zu erzählen oder ein Lied zu singen? Hätten Sie Angst, in einem Restaurant zu essen, aus Angst, dabei beobachtet zu werden? Hätten Sie Angst, dass Ihnen jemand Ihre Angst bei persönlichen Gesprächen anmerken könnte, weil Sie erröten oder an den Händen schwitzen?

Differenzialdiagnose Differenzialdiagnostisch müssen neben internistischen und neurologischen Erkrankungen andere psychische Störungen abgegrenzt werden. Bei der Panikstörung treten attackenförmig Angstsymptome wie Herzrasen, Luftnot, Engegefühl in der Brust, Schwitzen, Ohnmachtsgefühle und Parästhesien auf; sie ist häufig mit einer Agoraphobie verbunden. Die Sorgen der Patienten beziehen sich vor allem auf die gesundheitlichen Konsequenzen heftiger Angstattacken oder die Annahme einer medizinischen Ursache ihrer Symptome, und nicht – wie bei der sozialen Phobie – auf soziale Situationen, in denen die betreffende Person sich kritisiert fühlen könnte. Im Gegensatz zur Agoraphobie haben Patienten mit einer sozialen Phobie nicht Furcht oder Unwohlsein in großen, anonymen Menschenmengen, sondern in kleineren Gruppen, so etwa unter Freunden oder Arbeitskollegen. Die Meidung von Außenkontakten findet sich auch bei der Depression ; zur Abgrenzung gegenüber dieser Erkrankung können Symptome wie Tagesschwankung, Früherwachen, Schuldgefühle oder Suizidideen dienen. Wenn ein Patient berichtet, dass er sich von Fremden beobachtet fühlt, muss das Vorliegen einer Psychose, z. B. einer Schizophrenie, ausgeschlossen werden. Während ein psychotischer Patient allerdings wahnhaft davon überzeugt ist, dass ihn andere observieren (um ihm möglicherweise Schaden zuzufügen), nehmen Patienten mit einer Sozialphobie eher an, dass sie wegen ihres Äußeren kritisch betrachtet werden, wobei sie meist die Einsicht haben, dass ihre Befürchtungen übertrieben und unrealistisch sind. Bei einem seltenen Krankheitsbild, der Dysmorphophobie, besteht die wahnhafte Überzeugung, von einem körperlichen Defekt betroffen zu sein (z. B. eine missgestaltete Nase zu haben). Diese Störung ist wahrscheinlich nicht mit der sozialen Phobie verwandt. Schwierig kann die Abgrenzung der sozialen Phobie gegenüber der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung sein, da die Klassifikationskriterien keine klare Unterscheidung erlauben. Schüchternheit, Bescheidenheit und Zurückhaltung werden in der Gesellschaft nicht ausschließlich als negative Eigenschaften gewertet, sondern durchaus auch als liebenswert und positiv gesehen.

Patienten mit sozialer Phobie haben Furcht oder Unwohlsein in kleineren Personengruppen

Bei der Dysmorphophobie besteht die wahnhafte Überzeugung,   von einem körperlichen Defekt   betroffen zu sein

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CME Tab. 3  Bestandteile der kognitiv-behavioralen Therapie bei sozialer Phobie. (Nach [20]) Therapiebestandteil Psychoedukation

Kognitive Umstrukturierung Training sozialer Kompetenz Exposition (Konfrontation)

In Abgrenzung zu Schüchternheit liegt eine soziale Phobie vor, wenn eine erhebliche Stressbelastung in den furchtbesetzten Situationen   besteht

Beispiel Vermittlung eines ätiologischen Modells Identifizierung prädisponierender, auslösender und aufrechterhaltender Faktoren wie unrealistische Vorstellungen („ich bin unattraktiv, uninteressant, tollpatschig“) Abgleichung übertrieben negativer Selbsteinschätzungen mit der Realität Identifizierung und Umstrukturierung dysfunktionaler kognitiver Prozesse (z. B. unter Verwendung von Selbstbeobachtungsbögen) Übung und Aufbau sozialer Verhaltensweisen (z. B. soll der Patient in einem Rollenspiel eine Rede vor anderen Gruppenteilnehmern halten) Habituation an angstauslösende Situationen bzw. Erlernen von Selbstwirksamkeit; der Patient wird z. B. aufgefordert, sich bewusst in der Öffentlichkeit einer subjektiv besonders peinlichen Situation auszusetzen und die Reaktion der Umgebung zu beobachten (auf einem belebten Platz ein Lied zu singen)

Es wäre dennoch falsch, die Existenz der Krankheitsentität „soziale Phobie“ deswegen gänzlich infrage zu stellen. Damit würde die Bedeutung dieser Angststörung bagatellisiert und das Leiden ignoriert, welches die Erkrankung und ihre Folgen auslösen. In Abgrenzung zu Schüchternheit ist eine soziale Phobie dann zu diagnostizieren, wenn eine erhebliche Stressbelastung in den furchtbesetzten Situationen vorliegt oder der Betroffene durch Vermeidungsverhalten in der Umsetzung seiner Lebensziele in Beruf und Partnerschaft erhebliche Nachteile erfährt.

Komorbidität Es besteht häufig eine Komorbidität mit anderen Angststörungen und Depressionen

Bei Patienten mit einer sozialen Phobie besteht häufig eine Komorbidität mit anderen Angststörungen und Depressionen. Bei Jugendlichen kann die soziale Phobie aber auch mit Impulskontrollstörungen vergesellschaftet sein [2]. Die Häufigkeit von Suizidversuchen ist im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt (ohne Ausschluss komorbider Depressionen) 13-fach [3], die Häufigkeit eines Alkohol- oder Substanzmissbrauchs 3-fach erhöht [2]. Personen mit Sozialphobie lernen wegen ihrer Ängste im Umgang mit dem anderen Geschlecht seltener einen Partner kennen [4]. Die Patienten haben im Durchschnitt eine signifikant schlechtere Schul- und Berufsausbildung – möglicherweise als Folge ihres mangelnden Zutrauens, Leistungen vor anderen zu erbringen oder Prüfungen zu bestehen [5].

Häufigkeit und Verlauf

Die soziale Phobie beginnt oft   bereits mit 12 Jahren

In verschiedenen epidemiologischen Befragungen in der Allgemeinbevölkerung wurden eine Lebenszeitprävalenz von 13% sowie eine 12-Monats-Prävalenz von 2–8% nach DSM-IV-TR festgestellt [6, 7]. Nach Expertenschätzungen sind in Europa über 10 Mio. Menschen davon betroffen [7]. Die soziale Phobie ist bei Frauen doppelt so häufig wie bei Männern [8]. [9]. Eine Häufung findet sich in der Altersgruppe zwischen 30 und 44 Jahren, gefolgt von der Gruppe zwischen 18 und 29 Jahren. Nach dem 60. Lebensjahr tritt die Erkrankung seltener auf [10].

Ursachen

Sozialphobiepatienten berichten häufiger als Kontrollpersonen über belastende Kindheitsereignisse

Kognitive Besonderheiten führen   zu unrealistischen Einschätzungen sozialer Situationen

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Wie bei anderen Angststörungen werden traumatische und andere Lebenserfahrungen, Fehlkonditionierungen, genetische Einflüsse und neurobiologische Dysfunktionen als mögliche ätiologische Faktoren für die soziale Phobie diskutiert. In einer Befragung berichteten Sozialphobiepatienten häufiger als gesunde Kontrollpersonen über belastende Kindheitsereignisse wie längere Trennung von den Eltern, sexuellen Missbrauch, Gewalt in der Familie oder eine längere Erkrankung [11]. Wurden allerdings in einer logistischen Regression genetische Einflüsse mitberücksichtigt, war nur noch die Trennung von den Eltern als signifikanter Faktor relevant. In retrospektiven Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass Patienten mit einer Sozialphobie – verglichen mit Kontrollpersonen – ihre Eltern als überbehütend oder zurückweisend einschätzten [12], ohne dass allerdings solche Studien klären können, ob dies durch ein tatsächliches dysfunktionales Erziehungsverhalten der Eltern oder durch verzerrte Kognitionen der sozialphobischen Kinder bedingt wird. Verhaltenstheorien gehen

CME Tab. 4  Therapieempfehlungen bei sozialer Phobie (Tagesdosen) Medikamente 1. Wahl – SSRI, z. B. Escitalopram 10–20 mga, Paroxetin 20–50 mg oder Sertralin 50–150 mg – SNRI Venlafaxin 75–225 mg Medikament 2. Wahl – Moclobemid 300–600 mg Vorgehen bei Patienten, deren soziale Phobie durch eine medikamentöse Standardtherapie nicht gebessert wurde Nur partielle Response Erhöhung der Dosis und Behandlung über weitere 4 bis 6 Wochen nach 4 bis 6 Wochen Nonresponse nach 4 Wechsel des Medikaments bis 6 Wochen Mögliche Wechselstrategien (Switching-Studien fehlen): – Wechsel innerhalb der Standardpräparate (SSRI, SNRI) – Wechsel zu Medikamenten 2. Wahl (Moclobemid) – Wechsel zu Medikamenten, die bei anderen Angststörungen in Studien erfolgreich waren, aber bei der sozialen Phobie noch nicht ausreichend untersucht wurden (z. B. Pregabalin); medizinrechtliche Aspekte bei Off-Label-Verordnung sind zu beachten – Wechsel zu Phenelzin (in Deutschland nicht zugelassen; randomisierte kontrollierte Studien zeigen eine gute Wirkung bei sozialer Phobie; potenziell gefährliche Nebenund Wechselwirkungen); medizinrechtliche Aspekte bei Off-Label-Verordnung sind zu beachten In allen Fällen wird eine zusätzliche psychotherapeutische Behandlung empfohlen aDie Regeldosis darf wegen einer möglichen QT -Zeit-Verlängerung nicht überschritten werden. C

SNRI selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, SSRI selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer.

davon aus, dass Menschen mit einer sozialen Phobie kognitive Besonderheiten aufweisen, die zu unrealistischen Einschätzungen sozialer Situationen führen, wie überhöhte Standards bei Selbstkritik oder Überzeugungen hinsichtlich katastrophaler Konsequenzen eines sozial inadäquaten Verhaltens. In retrospektiven Untersuchungen konnte ein Einfluss negativer konditionierender Ereignisse (z. B. als Kind gehänselt zu werden) jedoch nicht nachgewiesen werden. Nach psychodynamischen Überlegungen, die noch einer empirischen Überprüfung bedürfen, wird die Entwicklung sozialer Ängste mit unsicheren Bindungen, Internalisierungen früher negativer Beziehungserfahrungen (wie Beschämung oder Zurückweisung), Separationsängsten, Schuldgefühlen wegen aggressiver Gefühle gegenüber anderen oder einer Einschränkung der Autonomie durch die Mutter in Verbindung gebracht. Die soziale Phobie tritt familiär gehäuft auf. Aus unterschiedlichen Konkordanzraten bei ein- und zweieiigen Zwillingen wurden in verschiedenen Studien Heritabilitäten von 24–51% berechnet [13, 14]. Zu den neurobiologischen Veränderungen, die im Zusammenhang mit der sozialen Phobie diskutiert werden, zählen Störungen des Serotonin- und Dopaminsystems [15]. In strukturellen und funktionalen Bildgebungsuntersuchungen zeigten sich bei Sozialphobiepatienten Auffälligkeiten im Bereich der Amygdala, in der medialen Temporallappenregion, der Insula und im Striatum [15].

Die soziale Phobie tritt familiär   gehäuft auf

Behandlung Die folgenden Empfehlungen beruhen auf der Auswertung aller randomisierten kontrollierten Studien zur sozialen Phobie, die durch Literaturrecherche mithilfe einer Datenbankenrecherche (MEDLINE und ISI Web of Science) sowie durch Handsuche gefunden wurden. Die Studienrecherche basiert auf einer internationalen Leitlinie der World Federation of Societies for Biological Psychiatry von 2008 [16] sowie einer Recherche für die deutsche S3-Leitlinie „Angststörungen“ (2014; [17]). Die Studien wurden einer strukturierten Qualitätsprüfung nach dem SIGN Statement [18] auf methodologische Korrektheit (hinsichtlich Stichprobenumfang, Verblindung, Randomisierung, Statistik, Messinstrumenten usw.) unterzogen. Wegen der großen Zahl der ausgewerteten Studien können die Quellen hier nicht einzeln aufgeführt werden; eine vollständige Aufstellung findet sich in der S3-Leitlinie [17]. Beim Vorliegen unzureichender oder negativer Evidenz wurde die entsprechende Empfehlung herabgestuft. Die in diesem Artikel dargestellten Empfehlungen sind unabhängig von der S3-Leitlinie; sie geben die Einschätzung der aus den randomisierten kontrollierten Studien gewonnenen Evidenz durch die Autoren dieses Artikels wieder. Der Nervenarzt 5 · 2014 

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CME Tab. 5  Vor- und Nachteile von Medikamenten für die soziale Phobie Medikamente Vorteile Medikamente 1. Wahl SSRI – Keine Abhängigkeit – Sicher bei Überdosierung

SNRI

– Keine Abhängigkeit – Sicher bei Überdosierung

Medikament 2. Wahl Moclobemid – Keine Abhängigkeit

Nachteile

Unerwünschte Arzneimittelwirkungen

– Wirklatenz 2 bis 6 Wochen – Zu Beginn der Behandlung Unruhe, Nervosität, Zunahme von Angstsymptomen – Zytochrom-P-450-Wechselwirkungen möglich

Unruhe, Übelkeit, Durchfall, Verstopfung, Magen-Darm-Beschwerden, Kopfschmerzen, verminderter oder gesteigerter Appetit, Gewichtsabnahme, Gewichtszunahme, Schwitzen, Hitzewallungen, trockener Mund, Müdigkeit, Zittern, sexuelle Störungen, Albträume, Manieauslösung, Absetzsymptome u. a. UAW – Wirklatenz 2 bis 6 Wochen Unruhe, Schlafstörungen, Übelkeit, Appetit– Zu Beginn der Behandlosigkeit, Magen-Darm-Beschwerden, trolung Unruhe, Nervosität, ckener Mund, Verstopfung, Schwitzen, KopfZunahme von Angstsym- schmerzen, Schwindel, Herzrasen, Blutdruckptomen anstieg, Blutdruckabfall, Zittern, Schüttelfrost, – Zytochrom-P-450-Wech- sexuelle Störungen, Manieauslösung, Störunselwirkungen möglich gen beim Wasserlassen, Gefühlsstörungen, Sehstörungen, Verwirrtheit u. a. UAW – Inkonsistente Studienlage

Unruhe, Schlafstörungen, trockener Mund, Kopfschmerzen, Schwindel, Magen-Darm-Beschwerden, Übelkeit, Manieauslösung und andere unerwünschte Wirkungen

SNRI selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, SSRI selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, UAW unerwünschte Arzneimittelwirkung.

Psychotherapie Kognitive Verhaltenstherapie Ziel der KVT ist, dysfunktionale Annahmen und Gedanken selbstständig zu erkennen, zu unterbrechen und zu korrigieren

Die Wirksamkeit der KVT ist in   zahlreichen randomisierten   klinischen Studien nachgewiesen

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Kognitive-behaviorale Theorien nehmen an, dass die soziale Phobie wie auch andere psychische Störungen durch verzerrte, unlogische oder unrealistische Kognitionen mitverursacht werden [19]. Ziel der kognitiven Verhaltenstherapie ist es, Fertigkeiten zu entwickeln, um dysfunktionale (fehlerhafte, einseitige) Annahmen und Gedanken selbstständig zu erkennen, zu unterbrechen und zu korrigieren, um sich situationsangepasster verhalten zu können [20]. Psychoedukation, Konfrontationstechniken (In-vivo-Exposition) und Training sozialer Kompetenz (Übung von Bewerbungen, Vorträgen oder Prüfungen in Rollenspielen) sind weitere Elemente der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT). Selbstverständlich ist auch der Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung ein wichtiger Bestandteil einer Verhaltenstherapie. In der . Tab. 3 werden Therapiebausteine der KVT der sozialen Phobie zusammengefasst. Die Wirksamkeit der KVT ist in zahlreichen randomisierten klinischen Studien nachgewiesen. KVT, Exposition oder vergleichbare Techniken wirkten besser als eine Wartelistenbedingung. Die Mehrzahl der Vergleiche fand die Überlegenheit einer KVT gegenüber psychologischen Placebos (Gespräche ohne psychotherapeutische Elemente), Pillenplacebos oder „treatment as usual“ („Behandlung wie üblich“). Es gibt keine ausreichende Evidenz, dass Gruppen-KVT ebenso gut wirksam ist wie eine Einzeltherapie. Allerdings gibt es in der KVT der sozialen Phobie Elemente, die am besten in der Gruppe durchgeführt werden, wie Selbstsicherheitstraining und Rollenspiele. Daher erscheint eine Therapie sinnvoll, die sowohl Einzel- als auch Gruppenelemente enthält. In den letzten Jahren wurden einige Studien zur internet- oder computerbasierten KVT durchgeführt. Dabei handelte es sich entweder um eine reine Selbsttherapie mithilfe verschiedener Medien oder um eine durch kurze Kontakte mit Therapeuten per Video, E-Mail oder Telefon unterstützte Behandlung. Zwar waren solche Therapien besser wirksam als eine Warteliste; es gibt aber keine ausreichende Evidenz, dass sie ebenso gut wirken wie eine Einzeltherapie. Zusätzlich ergeben sich erstattungstechnische, medizinrechtliche und ethische Probleme (z. B. bei Suizidalität des Patienten). Untersuchungen ergaben zudem, dass die Patienten die Therapieprogramme sehr häufig frühzeitig abbrechen [21].

CME Psychodynamische (tiefenpsychologisch bzw. psychoanalytische) Therapie

Es gibt unterschiedliche Ansätze zur psychodynamischen Therapie der sozialen Phobie. Wie bei der Therapie anderer psychischer Störungen wird Wert auf die Übertragungsbeziehung gelegt; so kann durch eine akzeptierende Haltung die Erfahrung, in wichtigen Beziehungen beschämt worden zu sein, korrigiert werden. Bei den heute durchgeführten psychodynamischen Behandlungen handelt es sich häufig um Kurzzeittherapien, bei denen eine eher aktive therapeutische Haltung bevorzugt wird. Die umfangreiche Literaturrecherche ergab nur drei evaluierbare randomisierte kontrollierte Untersuchungen zur Wirkung einer psychodynamischen Therapie bei der sozialen Phobie. In einer großen Studie war die psychodynamische Therapie hinsichtlich der Remissionsraten einer Verhaltenstherapie unterlegen [22]. Eine weitere, methodisch schwache Studie konnte bei korrekter statistischer Auswertung nicht zweifelsfrei die Überlegenheit gegenüber einem psychologischen Placebo nachweisen; eine dritte Studie konnte nicht den Beweis erbringen, dass die Ergänzung einer Benzodiazepinbehandlung mit psychodynamischer Therapie besser wirkt als die alleinige Medikamentenbehandlung. Follow-up-Studien fehlen. Über andere Formen der psychodynamischen Therapie (tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie; analytische Langzeitpsychotherapie u. a.) kann aufgrund fehlender Daten nichts ausgesagt werden. Derzeit können also psychodynamische bzw. analytische Verfahren nicht empfohlen werden.

Psychodynamische bzw. analytische Verfahren können aufgrund   fehlender Daten nicht empfohlen werden

Medikamente Schüchternheit sollte nicht mit Psychopharmaka behandelt werden. Patienten mit einer ausgeprägten sozialen Phobie „behandeln“ sich allerdings häufig selbst – mit Alkohol. Die Entscheidung über eine medikamentöse Behandlung sollte vom Leidensdruck und von drohenden Komplikationen (Depression, Suizidalität, Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenmissbrauch) abhängig gemacht werden. Es gibt zahlreiche kontrollierte Studien zur medikamentösen Behandlung der sozialen Phobie. In . Tab. 4 werden die empfohlenen und zugelassenen Medikamente mit Dosierung aufgeführt, außerdem Vorschläge für die Behandlung in Fällen, in denen Standardmedikamente nicht wirksam waren oder nicht vertragen wurden. Die Vor- und Nachteile der verschiedenen Stoffgruppen sowie die unerwünschten Arzneimittelwirkungen werden in . Tab. 5 gegenübergestellt. Jede medikamentöse Therapie beinhaltet ärztlicherseits eine einfühlsame psychotherapeutische Führung und Begleitung der Patienten. Bei den Antidepressiva können eventuelle unerwünschte Wirkungen gerade in den ersten Tagen der Behandlung störend wirken, während der Patient noch keinen Therapieerfolg sieht. Eine vorbeugende Aufklärung über die zu erwartenden Nebenwirkungen wie Unruhe zu Beginn der Behandlung mit SSRIs kann die Einnahmezuverlässigkeit verbessern. Durch Information über die Wirklatenz der Antidepressiva kann oft der initiale überbrückende Einsatz von Benzodiazepinen vermieden werden. Auch die proaktive Thematisierung möglicher sexueller Dysfunktionen [23] hat sich in der Praxis bewährt.

Die Entscheidung über eine   medikamentöse Behandlung   sollte vom Leidensdruck abhängig gemacht werden

Eine vorbeugende Aufklärung über die zu erwartenden Nebenwirkungen der Antidepressiva kann die Einnahmezuverlässigkeit   verbessern

Selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer

Mehrere kontrollierte Studien zeigten die Wirksamkeit der selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRIs) Escitalopram, Paroxetin, Fluvoxamin und Sertralin. Die Ergebnisse mit Fluoxetin waren inkonsistent. Citalopram ist nach Studien wirksam, aber nicht zugelassen. Im Allgemeinen sind SSRI gut verträglich. Nebenwirkungen wie Unruhe, Nervosität, eine Zunahme der Angstsymptomatik, die in den ersten Tagen oder Wochen einer SSRI-Behandlung auftreten, können die Einnahmezuverlässigkeit beeinträchtigen. Eine langsame Aufdosierung ist daher zu empfehlen. Sexuelle Dysfunktionen führen gelegentlich zum Absetzen der Medikamente. Nach längerer Behandlung können Absetzphänomene auftreten, die jedoch nicht mit den Entzugssymptomen nach Benzodiazepingabe vergleichbar sind. Um nächtliche Unruhezustände und Schlaflosigkeit in der Anfangszeit der Behandlung zu vermeiden, sollten die Medikamente morgens gegeben werden. Der anxiolytische Effekt tritt meist mit einer Latenz von 2 bis 4 Wochen ein.

Zu den Nebenwirkungen gehören Unruhe, Nervosität und eine   Zunahme der Angstsymptomatik

Selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer

In mehreren Studien konnte die Wirksamkeit des selektiven Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmers (SNRI) Venlafaxin gezeigt werden. In der Regel wird die Retardform von Venlafaxin verwendet. Das Nebenwirkungsprofil der SNRIs ist dem der SSRIs ähnlich. Die angstlösende Wirkung tritt mit einer Latenz von 2 bis 4 Wochen ein, in manchen Fällen später.

Die angstlösende Wirkung tritt mit einer Latenz von 2 bis 4 Wochen ein Der Nervenarzt 5 · 2014 

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CME MAO-Hemmer

Die Studienergebnisse zu dem reversiblen Monoaminooxidase (MAO)-Hemmer Moclobemid sind inkonsistent. In 3 von 8 Studien war es Placebo nicht überlegen.

Benzodiazepine Es kann zu Sedierung, Schwindel, verlängerter Reaktionszeit und   anderen Nebenwirkungen kommen

Es gibt nur zwei Studien, die die Wirksamkeit des Benzodiazepins Clonazepam bei der sozialen Phobie zeigten. Der anxiolytische Effekt setzt sofort nach der Einnahme ein. Wegen der Dämpfung des Zentralnervensystems kann es zu Sedierung, Schwindel, verlängerter Reaktionszeit und anderen Nebenwirkungen kommen. Nach längerer Behandlung kann – besonders bei prädisponierten Patienten – in bis zu 40% der Fälle eine Abhängigkeitsentwicklung eintreten, wobei es sich in den meisten Fällen um eine „low dose dependency“ handelt. Benzodiazepine sollten daher nicht verordnet werden, insbesondere bei Patienten mit einer Suchtanamnese – abgesehen von begründeten Ausnahmefällen, z. B. bei schweren kardialen Erkrankungen, Kontraindikationen für Standardmedikamente oder Suizidalität. Es ist auch zu beachten, dass Benzodiazepine kaum Einfluss auf die bei einer sozialen Phobie manchmal bestehende depressive Begleitsymptomatik haben.

Langzeit- und Rückfallverhinderungsstudien Wegen ihres häufig chronischen Verlaufs erfordert die soziale Phobie eine Langzeitbehandlung

Wegen ihres häufig chronischen Verlaufs erfordert die soziale Phobie oft eine Langzeitbehandlung. Nach Rückfallverhütungsstudien über den Zeitraum von 6 bis 12 Monaten waren Escitalopram, Paroxetin, Sertralin, Venlafaxin und Moclobemid in der Rezidivprophylaxe wirksamer als Placebo. Eine Metaanalyse zur Langzeittherapie der sozialen Phobie mit Antidepressiva fand robuste Behandlungseffekte [24]. Diese Studien legen nahe, die Behandlung nach Eintreten der Besserung noch ein halbes bis ein ganzes Jahr fortzuführen. Vor dem Absetzen sollte die Dosis ggf. schrittweise reduziert werden. In den vorliegenden kontrollierten Verhaltenstherapiestudien betrug die Therapiedauer zwischen 4 und 32 Zeitstunden. Zu der Frage, ob längere Therapien besser oder dauerhafter wirken als kürzere, fehlen entsprechende Studien. Abhängig von der Schwere der Erkrankung kann erfahrungsgemäß eine längere Behandlungsdauer notwendig sein. Es gibt keine Studien zur Behandlung älterer Menschen mit sozialer Phobie – vermutlich, da die Störung im Alter seltener auftritt.

Vergleich einer Psychotherapie mit einer medikamentösen Behandlung Sertralin zeigte im Vergleich zu   einer Expositionstherapie eine   bessere Wirkung

Die Wirkung einer KVT hält   nach Absetzen der Behandlung dauerhaft an

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Es gibt kaum Daten zum direkten Vergleich von Psycho- und Pharmakotherapie bei der sozialen Phobie. Sertralin zeigte im Vergleich zu einer Expositionstherapie eine bessere Wirkung. Ansonsten sind aber Medikamente 1. Wahl nicht mit einer Psychotherapie verglichen worden. Phenelzin war in einer Studie besser wirksam als eine KVT; in einer anderen war die Kombination aus Phenelzin und KVT besser wirksam als beide Monotherapien. Der reversible MAO-Hemmer Moclobemid war einer KVT unterlegen. Eine Metaanalyse von 108 Studien zur sozialen Phobie fand bei Psychotherapien Vorher-NachherEffektstärken von 0,5 bis 1,1 (Cohen’s d bei Patientenbeurteilung) und 1,1 bis 2,1 bei medikamentösen Behandlungen [25]. Es wird davon ausgegangen, dass die Wirkung einer KVT nach Absetzen der Behandlung im Gegensatz zur medikamentösen Therapie dauerhaft anhält; allerdings fehlen hierzu noch ausreichende kontrollierte Studien [26]. Es gibt keine Evidenz für die Annahme, dass eine Verhaltenstherapie durch eine gleichzeitige Medikamentenbehandlung beeinträchtigt werden könnte. Da beide Behandlungsformen wirksam sind, spricht nichts gegen eine Kombination einer KVT mit den empfohlenen Medikamenten. Bei der Überlegung, ob ein Patient eine psychotherapeutische oder pharmakologische Behandlung oder beides erhalten sollte, sind neben Wirksamkeitserwägungen folgende Aspekte für die Indikationsstellung wesentlich: F Präferenz des Patienten, F unerwünschte Arzneimittelwirkungen, F Wirkungseintritt, F Schweregrad der Erkrankung, F Komorbidität, F Ökonomie, F Zeitfaktoren, F Verfügbarkeit von Psychotherapien und F Qualifizierung des Therapeuten.

CME In der Praxis kann eine Pharmakotherapie gleich begonnen werden, während sich bei der KVT selbst in Orten mit guter Versorgungslage oft mehrmonatige Wartezeiten ergeben [27]. Wenn die sozialen Phobie mit einer komorbiden Depression oder Suizidalität einhergeht, sollte auf eine antidepressive Pharmakotherapie nicht verzichtet werden.

Eine Pharmakotherapie kann sofort begonnen werden, während sich bei der KVT oft mehrmonatige   Wartezeiten ergeben

Fazit für die Praxis Die soziale Phobie ist eine der häufigsten psychiatrischen Erkrankungen. Sie geht oft mit einer ausgeprägten Einschränkung der Lebensqualität, einer erhöhten Suizidrate und mit häufigem Alkohol- und Substanzmissbrauch einher. Nicht alle Menschen, die im Umgang mit anderen Menschen unsicher, gehemmt oder schüchtern sind, sollten sofort einer Psychopharmakatherapie zugeführt werden. Wenn allerdings großer Leidensdruck besteht oder aber Komplikationen drohen, sollte eine Behandlung eingeleitet werden. Zur Behandlung der sozialen Phobie existieren zahlreiche randomisierte klinische Studien, die die Wirksamkeit einer kognitiven Verhaltenstherapie oder einer medikamentösen Therapie, z. B. mit SSRI oder SNRI, belegen. Zu einer Kombination aus Pharmako- und Psychotherapie liegen nicht genügend aussagekräftige Studien vor; dennoch spricht nichts gegen eine kombinierte Behandlung.

Korrespondenzadresse Prof. Dr. B. Bandelow Dipl.-Psych. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Göttingen von-Siebold-Str. 5, 37075 Göttingen [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  B. Bandelow: Vorträge/Beratung: AstraZeneca, Glaxo, Janssen, Lilly, Lundbeck, Meiji-Seika, Ono, Otsuka, Pfizer, Servier. D. Wedekind: Vorträge/Beratung: AstraZeneca, Essex Pharma, Lundbeck, and Servier. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

Literatur   1. Dilling H, Mombour W, Schmidt MH et al (2004) Internationale Klassifikation psychischer Störungen. In: Dilling H, Mombour W, Schmidt MH, Schulte-Markwort E (Hrsg) ICD-10 Kapitel V (F). Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis. Huber, Bern   2. Ruscio AM, Brown TA, Chiu WT et al   7. Wittchen HU, Jacobi F, Rehm J et al 12. Bruch MA, Heimberg RG (1994) Dif(2008) Social fears and social phobia (2011) The size and burden of menferences in perceptions of parenin the USA: results from the National tal disorders and other disorders of tal and personal characteristics betComorbidity Survey Replication. Psythe brain in Europe 2010. Eur Neuween generalized and nongeneralchol Med 38:15–28 ropsychopharmacol 21:655–679 ized social phobics. J Anxiety Disord   3. Davidson JR, Hughes DL, George LK   8. Wittchen HU, Jacobi F (2004) Ge8:155–168 et al (1993) The epidemiology of sosundheitsberichterstattung des Bun13. Kendler KS, Karkowski LM, Prescott cial phobia: findings from the Duke des. Heft 21 – Angststörungen. RoCA (1999) Fears and phobias: reliaEpidemiological Catchment Area bert-Koch-Institut, Berlin bility and heritability. Psychol Med Study. Psychol Med 23:709–718   9. Schneier FR, Spitzer RL, Gibbon M et 29:539–553   4. Degonda M, Angst J (1993) The Zual (1991) The relationship of social 14. Kendler KS, Myers J, Prescott CA et al rich study. XX. Social phobia and phobia subtypes and avoidant per(2001) The genetic epidemiology of agoraphobia. Eur Arch Psychiatry sonality disorder. Compr Psychiatry irrational fears and phobias in men. Clin Neurosci 243:95–102 32:496–502 Arch Gen Psychiatry 58:257–265   5. Lépine JP, Lellouch J (1995) Classi10. Kessler RC, Berglund P, Demler O et 15. Furmark T (2009) Neurobiological fication and epidemiology of social al (2005) Lifetime prevalence and aspects of social anxiety disorder. Isr phobia. Eur Arch Psychiatry Clin Neuage-of-onset distributions of DSM-IV J Psychiatry Relat Sci 46:5–12 rosci 244:290–296 disorders in the National Comorbidi16. Bandelow B, Zohar J, Hollander E et   6. Kessler RC, Petukhova M, Sampson ty Survey Replication. Arch Gen Psyal (2008) World Federation of SocieNA et al (2012) Twelve-month and lichiatry 62:593–602 ties of Biological Psychiatry (WFSBP) fetime prevalence and lifetime mor11. Bandelow B, Charimo Torrente A, guidelines for the pharmacologibid risk of anxiety and mood disorWedekind D et al (2004) Early traucal treatment of anxiety, obsessiders in the United States. Int J Metmatic life events, parental rearing ve-compulsive and post-traumatic hods Psychiatr Res 21:169–184 styles, family history of mental disorstress disorders – first revision. World ders, and birth risk factors in patients J Biol Psychiatry 9:248–312 with social anxiety disorder. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 254:397– 405

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CME-Fragebogen Bitte beachten Sie: •  Teilnahme nur online unter: springermedizin.de/eAkademie •  Die Frage-Antwort-Kombinationen werden online individuell zusammengestellt. •  Es ist immer nur eine Antwort möglich.

??Welches Symptom gehört zur Definition



einer sozialen Phobie? Anfallsweise, heftige Angst ohne erkennbaren Grund Ständige Sorgen um alltägliche Ereignisse und Probleme Appetitmangel mit starkem Gewichtsverlust Furcht vor Situationen, in denen man von anderen Menschen kritisch beurteilt werden könnte Furcht, von anderen Menschen beobachtet und ausspioniert zu werden

??Welche Aussage zur sozialen Phobie ist



richtig? Eine Komorbidität der sozialen Phobie mit Impulskontrollstörungen bei Jugendlichen ist eher selten. Oft beginnt die Störung bereits im 12. Lebensjahr. Im Alter zwischen 44 und 60 Jahren ist die soziale Phobie besonders häufig. Aus Angst vor Kontrollverlust meiden die betroffenen Patienten meist Alkohol. Eine Komorbidität mit einer Depression findet man in weniger als 10% der Fälle.



 ngina pectoris A Phäochromozytom Somatisierungsstörung Soziale Phobie Agoraphobie/Panikstörung



??Welche Aussage zur medikamentösen

??Für welche der folgenden Psychothera-





in Menschenansammlungen und engen Räumen Anfälle mit Herzrasen, Luftnot, Engegefühl in der Brust und im Hals, gastrointestinalen Beschwerden, Zittern, Schwitzen, Schwindel- und Ohnmachtsgefühlen, Kribbelparästhesien sowie Angst zu sterben. Die internistischen und neurologischen Untersuchungen sowie alle relevanten Laborbefunde sind normal. Wie lautet die wahrscheinlichste Diagnose?





wirkungen der SSRIs? S tarke Sedierung Abhängigkeit und Toleranz Akathisie Polydipsie Sexuelle Dysfunktionen

??Welche Aussage zu den Vor- und   Nachteilen der Medikamente für Angsterkrankungen trifft zu? Die Wirkung der SNRIs tritt innerhalb weniger Stunden ein. Da die SSRIs nicht durch die Leber verstoffwechselt werden, kommt es nicht zu Zytochrom-P-450-Wechselwirkungen. Bei Behandlung mit Moclobemid muss eine tyraminarme Diät eingehalten werden.

pieformen gibt es die besten Wirksamkeitsnachweise für die soziale Phobie? Analytische Langzeittherapie Interpersonelle Therapie Eye movement desensitization and reprocessing therapy (EMDR) Klientenzentrierte Gesprächstherapie Kognitive Verhaltenstherapie

??Welche der folgenden Aussagen zu den

??Was gehört zu den typischen Neben- 



??Eine 32-jährige Buchhändlerin bekommt

Behandlung der sozialen Phobie ist richtig? SSRIs sind wirksam. Für zahlreiche homöopathische Präparate gibt es Wirksamkeitsnachweise. Benzodiazepine werden wegen ihrer raschen Angstlösung empfohlen. Zahlreiche klinische Studien belegen die Wirksamkeit trizyklischer Antidepressiva. Betablocker beeinflussen direkt die soziale Phobie durch Wirkung auf vegetative Symptome wie Herzrasen und Händetremor.

 ach der Beendigung der Therapie mit N SSRIs kann es zu Absetzsyndromen kommen. Praktisch alle SSRIs führen zu einer starken Gewichtszunahme.









Ursachen der sozialen Phobie ist richtig?  us der Wirksamkeit bestimmter AntideA pressiva bei der sozialen Phobie wird geschlossen, dass bei der sozialen Phobie im Wesentlichen die Dopaminneurotransmission gestört ist. Im Wesentlichen sind an der Entstehung von Angststörungen Umweltfaktoren wie Erziehung oder Mutter-Kind-Interaktionen (z. B. anklammerndes oder distanzierendes Verhalten der Mutter) beteiligt, während genetische Faktoren vernachlässigbar sind. Die soziale Phobie entsteht vor allem durch fehlgeleitete Abwehr sexueller und aggressiver Triebimpulse. Durch Zwillingsstudien konnte gezeigt werden, dass bei der Entstehung der sozialen Phobie zu 24–51% genetische Faktoren beteiligt sind. Blamable, schambesetzte Erfahrungen in der Kindheit sind wesentliche Ursachen der sozialen Phobie.

D Für Zeitschriftenabonnenten ist die Teilnahme am e.CME kostenfrei Der Nervenarzt 5 · 2014 

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CME-Fragebogen

??Eine 26-jährige Arzthelferin ist davon überzeugt, auf der Straße angestarrt zu werden, weil Teile ihres Körpers missgestaltet seien, z. B. die Nase und das Kinn, obwohl ihr regelmäßig von ihrer Umwelt versichert wird, dass sie sehr ebenmäßige Gesichtszüge habe. Mehrfach wurde sie bei kosmetischen Chirurgen vorstellig, um sich operieren zu lassen; diese hatten aber eine Operation wegen fehlender Indikation abgelehnt. Sie vermeidet, sich in Spiegeln oder spiegelnden Oberflächen anzusehen. Sie äußert gelegentlich Suizidideen, da sie mit ihrer subjektiv wahrgenommenen Hässlich-

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keit nicht zurechtkomme. Wie lautet die wahrscheinlichste Diagnose? Somatisierungsstörung Beginnende Schizophrenie Dysmorphophobie Soziale Phobie Somatoforme Störung

??Was ist eine typische Technik in der   kognitiven Verhaltenstherapie der   sozialen Phobie? Traumdeutung Training sozialer Kompetenz (z. B. Simulation eines Bewerbungsgesprächs) Familienaufstellung



E xposition in typischen agoraphoben Situationen (Menschenmengen, Fahrstühle, Busfahren) Paradoxe Intervention

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[Social phobia].

With a lifetime prevalence of 13% social phobia (social anxiety disorder) is a common and serious condition that should not be played down because of ...
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