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Sozialmedizin und (normative) Versorgungsforschung Zur Verleihung der Salomon Neumann Medaille der DGSMP 2013

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0035-1545292 Gesundheitswesen 2015; 77: 133–136 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 0941-3790 Korrespondenzadresse Prof. Dr.med. Dr. phil. Heiner Raspe Seniorprofessur für Bevölkerungsmedizin Akademisches Zentrum für Bevölkerungsmedizin und Versorgungsforschung Universität zu Lübeck Ratzeburger Allee 160 23538 Lübeck [email protected]

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Herr Müller, lieber Eckhard Nagel – und lieber Herr von Mittelstaedt, Ihr sommerlicher Anruf von der Spitze Feuerlands kam völlig überraschend – wieso, dachte ich, muss einer sich so weit entfernen, um eine so nahegehende Mitteilung zu machen? Und die Mitteilung ging mir nahe, sie war gänzlich unerwartet und freute mich sehr. So danke ich Ihnen und dem gesamten Vorstand der DGSMP für die Ehre der Verleihung der Salomon Neumann Medaille 2013. Die dazugehörenden Prozesse sind mir nicht ganz unvertraut. Ich hatte das Privileg, auch mit Laudationes an 3 solcher Verfahren beteiligt zu sein. Von 1993 bis 2002 war ich Vizepräsident der DGSMP. Danach gab es manches Auf und Ab in unserer Beziehung – und umso erleichterter war und bin ich, dass Sie sich meiner freundlich erinnert haben. Und dass dies dann noch nach Marburg führt! Wo sich Lebenswege von Fritz Hartmann, Johannes Siegrist (2 der Laudanden) und mir biografisch wie wissenschaftlich berührten: Fritz Hartmann (1920–2007) war hier zwischen 1957 und 1964 Leiter der Medizinischen Poliklinik; auf ihn geht der Bau einer Baracke hinter der damals an der Robert Koch Straße gelegenen Poliklinik zurück. Diese Baracke war für mehrere Jahre Unterkunft der Medizinischen Soziologie unter der Führung von Johannes Siegrist. Ich war zwischen 1973 und 1978 sein Mitarbeiter, bis ich in an der Medizinischen Hochschule Hannover unter Anleitung und Förderung Fritz Hartmanns Internist und Rheumatologe wurde. Johannes Siegrist ist heute Abend anwesend, wir sind uns freundschaftlich verbunden. Lieber Hannes, ich freue mich und ich danke Dir sehr, dass Du gekommen bist! Wichtiger als diese bio-geografischen Reminiszenzen sind wissenschaftsbiografische: In Marburg gewann ab 1973 die deutsche Medizinsoziologie ein bis heute maßgebendes Profil, und in Marburg begann für mich die Entwicklung in Richtung einer soziologisch informierten, später klinisch betonten Sozialmedizin. Die Arbeiten von Johannes Siegrist und der verschiedenen Generationen seiner Mitarbeiter (viele besetzen heute wichtige Lehrstühle und Professuren) lassen sich 3 mit einander verbundenen Themenbereichen zuordnen: 1. der evaluativen Versorgungsforschung (Stichworte: Patient im Krankenhaus, Lebensqualität chronisch Kranker), 2. der pathophysiologischen Theorie- und Modellbildung (Stichwort: KHK und Gratifika­

tionskrise) und 3. der Public Health Forschung (Stichwort: soziale Ungleichheit in und außerhalb der Arbeitswelt). Die Stärke dieser Medizinsoziologie lag und liegt aus meiner Sicht in ihrer inneren Disposition und ihrem Potenzial zur Theorie- und Modellbildung, sei es im Bereich der Soziologie sozialer Schichtung, im Schnittfeld des Biopsychosozialen oder der Organisations- und Herrschaftssoziologie. Und mit mikrosoziologischer Versorgungsforschung – Patienten- und Personalbefragungen und Visitenanalysen im Krankenhaus – begann die Marburger Arbeit, in starker Identifikation mit dem – mehrfach – „beherrschten“ Patienten. Wird man, so geprägt, dann selbst Mitarbeiter der Klinik, lässt sich die analytische Distanz einer Soziologie der Klinik nicht streng durchhalten; und man kann auch nicht immer mit der geballten Faust in der Tasche Visite machen. Es entsteht unabweisbar der Impuls zu einer Soziologie in der und für die Klinik. Und so veränderten sich für mich in der auf Marburg folgenden Dekade in Hannover die Perspektiven und Gewichte. Vielleicht begann es im allerersten Kontakt mit der MHH: dem Bewerbungsgespräch bei Fritz Hartmann schloss sich die Einladung an, ihn gleich in die sog. Grand Round des Departments Innere Medizin zu begleiten. Dort wurde der Fall einer Frau vorgestellt, die aus einer okkulten Quelle fast verblutet wäre. Es war klar, sie verlor beständig Blut über den Darm – aber woher und wie zu heilen? Und es marschierte eine ganze Phalanx von hochspezialisierten Ärzten auf: HNO-Ärzte, Gastroenterologen, Abdominalchirurgen, Radiologen, Genetiker … Jeder sah den Fall aus seiner Perspektive, mit seinen Scheuklappen. Keiner nahm die anwesende Patientin als Person wahr. Auf dem Rückweg ins Hartmannsche Zimmer kommentierte ich dies und kritisierte die Vorstellung als typisches Beispiel für die inhumane Fragmentierung klinischer Patienten. Ich hatte Anselm Strauss gelesen. Daraufhin Fritz Hartmann sehr knapp: ob es mir lieber gewesen wäre, die Frau wäre verblutet? Nur in der Zusammenarbeit aller Spezialisten war es zu deren ganzem Stolz gelungen, eine angeborene Gefäßanomalie einer Arterie im Bauchraum angiografisch darzustellen und operativ zu sanieren. Die klinische Medizin ist eine Praxis-, eine Behandlungswissenschaft mit den Zielen klinische Prävention, Heilung, Leidenslinderung, Rehabilitation und Palliation. Sie ist als zentrales Element der institutionalisierten medizinischen Versorgung unter mehrere sehr unterschiedliche Leis-

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Social Medicine and (Normative) Health Services Research

tungsanforderungen gestellt. Sie sind in § 70 SGB V zusammengefasst: Bedarfsgerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit, Evidenzbasierung, Wirtschaftlichkeit, fachliche Qualität, Humanität. Man darf nicht nur einen Anspruch verwirklichen wollen. Und so weitete – und verengte – sich der aus Marburg mitgebrachte Horizont in Hannover im Übergang von einer Soziologie der Medizin zu einer klinisch geprägten Sozialmedizin. Es öffnete sich das ganze Gebiet der Inneren Medizin mit ihren Handlungsimperativen, und es kamen die normativen Kontexte klinischen und Versorgungshandelns in den Blick: vor allem die klinische Deontologie und das Sozialrecht. Damit ging es in die Breite der klinischen und Versorgungspraxis, nicht in die analytische Tiefe der soziologischen Reflexion und Theoriebildung. Die soziologische Anbildung legte es aber nahe, über den Tellerrand der Klinik hinauszugehen und das System der medizinischen Versorgung in den Blick zunehmen, auch um diese – für chronisch Rheumakranke – weiterzuentwickeln.

Versorgungsforschung: verschiedene Ziele und Felder



Denn auch die Sozialmedizin ist eine Praxiswissenschaft und kennt eigene Handlungsfelder, zu denen nicht nur die Begutachtung und die Patienten- und Versorgungsberatung zählen. Zu ihnen gehören auch die modellhafte Weiterentwicklung der Versorgung unter wissenschaftlicher Beobachtung und damit ein Teilbereich der Versorgungsforschung, die interventive Versorgungsforschung. Parallel beschäftigt sich die Versorgungsforschung mit der Beschreibung, Analyse, Prognose und Evaluation sowie der Planung und Beratung der jeweils gegebenen medizinischen und sozialen Versorgung – dies alles auf dem Boden gesicherter Begriffsbildungen und empirischer Methoden und weniger sicherer normativer Reflexionen, Theorie- und Modellbildungen. Definiert man die akademische Sozialmedizin knapp als das Studium der sozialen Ursachen und der sozialen Folgen von sowie der sozialen Reaktionen auf manifeste Gesundheitsgefährdungen und Krankheiten, dann kann man die Versorgungsforschung als eines ihrer Hauptgebiete sehen. Einerseits ist Versorgungsforschung eine Methode, die Medizin, die medizinische Versorgung wissenschaftlicher zu machen, einem bestimmten Typus von Rationalität zu unterwerfen – so sahen es jedenfalls Hiatt und Goldman 1994. „Health services research“ wird von ihnen den „evaluative clinical sciences“ zugeordnet und für geeignet gehalten: „Making medicine more scientific“. Andererseits ist Versorgungsforschung ein Unternehmen, die medizinische Versorgung weiterzuentwickeln, wo möglich zu verbessern; dies ist der Kern einer pragmatischen Definition aus dem englischen NHS. Zu ihr gehöre “… all research that underpins improvements in the way health services are financed, organised, planned and delivered, and includes health technology assessment and health policy re­ search”. (Health Services Research Network, NHS, 2013; die Webseite ist im Dezember 2014 nicht mehr erreichbar).

Normative Versorgungsforschung



Diese Definition führt zu einem seltener bedachten Feld der Versorgungsforschung, zur normativen Versorgungsforschung. Sie war Gegenstand des 2010 veröffentlichten DFG-Standpunkts

„Versorgungsforschung in Deutschland: Stand – Perspektiven – Förderung“ (Raspe et al. 2010). Wenn Versorgungsforschung zur Verbesserung der Versorgung beitragen soll, dann stellt sich u. a. die Frage: „improvement“ für wen oder was? Aus der Perspektive der Klinik ist die Antwort klar: die Haupt­ benefiziare sollten die manifest Gesundheitsgefährdeten und Pa­ tienten sein. Aber dies wird in Europa nicht überall gleich gesehen. Um 2 wesentlich unterschiedliche Positionen vorzustellen, komme ich zu einem Themenfeld, das unserer Gruppe in Lübeck seit 1997 beschäftigt (Raspe 1997). Seither verfolgen wir im Rahmen verschiedener Projekte die Pragmatik, Theorie und Praxis von Priorisierung. Aktuell verstehen wir darunter (Raspe et al. 2014) „die ausdrückliche Feststellung der Rangfolge aller Elemente einer Menge von miteinander zu vergleichenden Objekten. In der Medizin kann es sich dabei um Gesundheits- oder Versorgungsziele, um Kranken- oder Krankheitsgruppen, Krankheitszustände, Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, einzelne Krankheitsfälle und auch Indikationen/Bedarfe (fixe Kombina­ tionen von definierten Krankheitszuständen mit zu ihrer Behandlung geeigneten medizinischen Leistungen) handeln. Grundsätzlich führt Priorisierung zu einer mehrstufigen Rangreihe. An deren oberen Ende steht, was nach Maßgabe gesellschaftlich geklärter Ziele, Werte, Normen und Kriterien sowie nach Datenlage und fachlichem Konsens in einem geordneten Verfahren als dringend behandlungsbedürftig oder unverzichtbar beurteilt wird, am Ende das, was keiner medizinischen Behandlung bedarf, kaum oder nicht wirkt bzw. mehr schadet als nützt. Priorisierung nach einem schwedischen Modell endet in begründeten Empfehlungen, die Allokationsentscheidungen legitimierter Dritter informieren – aber nicht vorwegnehmen.“ Dieses schwedische Modell nahm seinen Ausgang von der Ergebnissen einer Kommission des schwedischen Reichstags (1992–1995). Sie umfasste Parlamentarier und Wissenschaftler. Ihr Abschlussbericht ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Das erste Thema der Kommission war die Ausarbeitung einer „ethischen Plattform“ mit 3 Prinzipien „in ranking order“, hineingestellt in einen speziellen soziokulturellen Kontext, der durch die 3 Bestimmungen „humanist view of man“ – „rooted in Christian values“ – „in the welfare society“ charakterisiert wurde. Die Prinzipien waren (und sind bis heute): „The principle of human dignity: all people are equal in dignity regardless of personal characteristics and functions in society… The principle of need and solidarity: resources should be committed to the person or activity most in need of them… The principle of cost-efficiency: … a reasonable relation between cost and effect … should be aimed for“. Der schwedische Reichstag folgte der ethischen Plattform und erweiterte 1997 das Gesundheitsrecht um den Satz: „Die Menschen mit dem größten Bedarf an Gesundheitsleistungen haben Vorrang in der Versorgung“. Insbesondere das zweite Prinzip (Bedarf und Solidarität) führte u. a. zu einer Identifikation mit dem „viewpoint of the individual not of the national economy“. „The benefit aspect is built into the concept of need. In it, benefit is viewed from the individual’s point of view, not that of the collective, and refers to improved health and quality of life… the Commission rejects a benefit principle implying that the choice in prioritisation situations must fall on whatever confers the most benefit to the greatest number of people. In that case the benefit principle rests on the possibility of aggregating the

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­ enefit of care for many people with small needs in such a way b as to counter­ balance great benefit to a small number. This can mean, for example, deciding to devote resources to helping a large number of people with mild hip disorders instead of a few with severe traffic injuries. The benefit principle in this sense is incompatible with the principle of need and solidarity.“ Dass dies nicht nur 1995 galt, sondern bis heute maßgebend ist, verdeutlicht ein Zitat aus der aktuellen Fassung des „National Model for Transparent Prioritisation in Swedish Health Care“ (Broqvist et al. 2011): „An important standpoint in the national model is that if conflicts arise between collective benefit and individual benefit, the collective benefit should never be given greater weight.“ (Broquist et al. 2011, 36) Es ist auch bemerkenswert, dass das diese Haltung tragende Solidaritätsprinzip in der internationalen Bioethik als „emerging concept“ (Prainsack and Buyx 2011) bezeichnet wird, nachdem jahrzehntelang das Autonomieprinzip in den Vordergrund gestellt wurde. Eine andere Grundhaltung wird generell in England verfolgt: hier geht es oft, nicht immer, um „value based health care“ und das heißt um die für die Population größte medizinisch erreichbare Nutzensumme im Rahmen fixer und enger Budgets. Wie da gedacht und gerechnet wird, zeigt das folgende Beispiel. Das Prinzip trägt den Namen „QALY Egalitarism“. Es folgt dem „IMPRESS Guide to the relative value of COPD interventions“ (British Thoracic Society and the Primary Care Respiratory Society UK 2012): „This IMPRESS paper aims to guide commissioners working within the limits of respiratory programme budgets to allocate resources to the interventions for a population with COPD that offer the most value, defined as outcomes divided by cost… Using a resource allocation method called decision conferencing developed by the London School of Economics, supported by the Health Foundation, we have created “value triangles”, one for each of 3 population segments: undiagnosed, diagnosed with mild-moderate disease and diagnosed with severe-very severe disease. Die folgende ●  ▶  Abb. 1 verdeutlicht das Prinzip der Wert-Berechnung. Die Summe von „value“ ergibt sich aus dem Produkt von Prävalenz (hier der nach Schweregrad geschichteten Lungenerkrankung) und mittlerem Nutzen der jeweils betrachteten und über eine einfache numerische Ratingskala zu vergleichenden Intervention (z. B. Raucherentwöhnung vs. Physiotherapie). Je größer das Rechteck, um so größer der Nutzen – je steiler die Hypotenuse

des linken Dreiecks, um so größer der „value for money“ lassen sich unterschiedlichen Leistungen in einem x-y-Koordinatensystem direkt miteinander vergleichen. Folgt man diesem Ansatz, orientiert man sich an einer Maxime, die in England in vielen Landesteilen die regionale Priorisierung bestimmt und auch NICE nicht fremd ist: „Health care should be allocated justly and fairly to need and capacity to benefit, such that the health of the population is maxi­mised within the resources available. The Committees will consider the health needs of people and populations according to their capacity to benefit from health care interventions.“ (South Central Ethical Framework im NHS 2008). Es geht also um die Maximierung von Nutzensummen über größere, oft sehr große Bevölkerungsteile. Je weiter der Kreis der Aggregation, um so starker wächst dann allerdings die Gefahr diejenigen zu diskriminieren, die an selteneren Zuständen bzw. Krankheiten leiden, deren „capacity to benefit“ geringer und deren Behandlung aufwendiger ist. Bei der COPD wären das z. B. die schwerer Erkrankten. Je größer ist also die Gefahr, im Sinne des schwedischen Modells unsolidarisch zu handeln. Im Rückblick auf die ethische Plattform der Schweden sollte jedes Projekt der Versorgungsforschung also die Gretchenfrage (Faust I, Szene 16) beantworten: „Wie hält’s Du es mit der Solidarität?“ und welchen ethischen Prinzipien fühlst Du Dich ­verpflichtet.

Beispielhafte Solidarität



Ob und ggf. wie tief Solidarität in einer Gesellschaft verankert ist, kann man beobachten, wenn ein Lebensmittel plötzlich und unvorhergesehen knapp wird. Dies kann ich beispielhaft an einem medizinischen Lebensmittel – für den sehr seltenen ­Morbus Gaucher – demonstrieren. Bei dieser Erkrankung handelt es sich um eine genetisch determinierte lysosomale Speicherkrankheit; sie wurde 1882 erstmals beschrieben. Sie beruht auf dem – bei bestimmten Unterformen auch lebensgefährlichen – Mangel an einem bestimmten Enzym, das heute gentechnisch hergestellt werden kann (Imiglucerase, Cerenzyme®). In Deutschland mag es weniger als 300 Fälle geben. Die Therapiekosten belaufen sich pro Fall auf rund 200 000 Euro pro Jahr. Im Juni 2009 entdeckte der Hersteller (Genzyme) Viren in einem seiner Bioreaktoren und musste die Produktion von Cerenzyme augenblicklich und drastisch reduzieren. Dies verringerte das Enzymersatzangebot weltweit auf ~50 % der bisher zur VerfüAbb. 1  Zur Ermittlung des populationsbezogenen „Value for money“ muss auf der y-Achse entsprechend der Fläche des Rechtecks der „Population Health Benefit“ abgetragen werden.

0.465

on

ey

Average benefit per person

Va lu

e fo

rm

Population Health Benefit 0

Cost

13

Number of patients who benefit

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136 Stellungnahme Modells, HR, Broqvist et al. 2011:27). In ihm ist schließlich auch die Evidenzlage zu jedem der anderen Kriterien zu berücksichtigen. Es ist dieses Modell, dem wir bei der Ausarbeitung der ersten deutschen Priorisierungsleitlinie (am Beispiel der kardiologischen Anschlussrehabilitation) gefolgt sind. Zusätzlich haben wir uns an Präferenzen der Bevölkerung und der betroffenen Patientengruppe orientiert, u. a. durch Befragungssurveys und durch eine lokale Bürgerkonferenz (Stumpf und Raspe 2014). Eine weitere Bekräftigung erhält dieses Modell dadurch, dass es eine Arbeitsgruppe der Bundesärztekammer („ärztlich unterstützte Priorisierung“) für generell vorbildlich hält und ihrer Arbeit zugrunde legt.

Zum Abschluss



Man kann die rasante Entwicklung der Versorgungsforschung in Deutschland mit einem lachenden und einem weinenden Auge sehen. Man muss sich freuen, dass sich eine dringend benötigte Forschungsrichtung jetzt dynamisch entwickelt, in Fragestellungen, Konzepten, Methoden, Techniken und im Feld der Politik­ beratung – wenn auch mit erheblicher Verspätung im inter­­ nationalen Vergleich. Für die Sozialmedizin und ihre wissenschaftliche Gesellschaft droht damit jedoch ein weiterer Verlust. Denn aktuell geht es der Sozialmedizin einmal mehr wie vorher schon mit den Feldern Public Health, Epidemiologie, Rehaforschung und der evidenzbasierten Versorgung (EbHC): zu jedem dieser Großthemen bildeten sich eigene Netzwerke, Fachverbände, wissenschaftliche Gesellschaften. Das Ergebnis: Die Töchter ziehen aus ins pralle Leben; die ­Mutter wird dünner und blasser. Schon in der Laudatio für Hannes Siegrist 2002 hatte ich intensiv dafür geworben, Medizinsoziologie und Sozialmedizin so eng wie irgend möglich miteinander zu verbinden. Zur Gründung einer übergreifenden Gesellschaft mit 2 Sektionen ist es bisher nicht gekommen. Ich hielte das nach wie vor für höchst sinnvoll, zeigt doch dieser Kongress erneut, wie viel beide Disziplinen verbindet, wie viel sie gemeinsam haben – auch und gerade in der Versorgungsforschung. Gerade in der Versorgungsforschung mit ihren verschiedenen Abteilungen zwischen Deskription, Theoriebildung, Interven­ tion und Beratung wird man gemeinsam erfolgreicher als ­getrennt wichtige Beiträge leisten können: in der Verbindung von klinischer und bevölkerungsmedizinischer, soziologischtheoretischer und schließlich auch normativer – ethischer und sozialrechtlicher – Expertise. Ich plädiere erneut dafür, dass sich beide Gesellschaften ein gemeinsames Dach und/oder einen gemeinsamen Boden schaffen. Aber wie immer dies ausgeht: Versorgungsforschung ohne normative Reflexion auf die ihren Projekten implizit oder explizit zugrunde gelegten ethischen Prinzipien sollte unakzeptabel geworden sein.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Literatur beim Verfasser.

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gung stehenden Menge. Da es kaum noch Lagerbestände gab, schlug der Mangel unmittelbar durch. Es gab zu der Zeit keine befriedigende Behandlungsalternative. Wenige Tage nach diesem Ereignis wurden schon Empfehlungen einer rasch gebildeten europäischen „Cerezyme Stakeholders Working Group“ formuliert, in der sich die European Medicines Agency (EMA), die Herstellerfirma, führende Kliniker und eine europäische Patientenorganisation (EGA) abstimmten und über das weitere Vorgehen einigten. Eine vergleichbare Gruppe bildete sich ebenso rasch in Deutschland. Im August 2009 sank die zur Verfügung stehende Menge auf 20 %; es folgten mehrfach aktualisierte europäische und nationale Therapieempfehlungen. Eine Entspannung der Situation konnte erst im März 2011 erreicht werden (Hofstetter et al. 2014). Wie wurde reagiert, welchen normativen Prinzipien folgten die Empfehlungen? Denkbar wäre es z. B. gewesen, eine Lotterie zu veranstalten und somit den Zufall walten zu lassen. Man hätte die zur Verfügung stehenden Dosen auch nach dem „first come, first served“-Prinzip zuteilen oder im Rahmen einer Auktion versteigern können. Wenn man den englischen Beispiel hätte folgen wollen, wäre es wohl sinnvoll gewesen, diejenigen Fälle prioritär zu behandeln, die das größte mittlere Nutzenpotenzial in Aussicht gestellt und dafür die geringsten Dosen gebraucht hätten und die relativ am häufigsten gewesen wären. Hätte man auch indirekte Kosten berücksichtigt, dann hätte man sich auf die konzentrieren sollen, deren Arbeitsfähigkeit am ehesten wieder hätte wieder hergestellt werden können. Was geschah nun wirklich in dieser akuten, unvorhersehbaren und beispiellosen Situation? Die Empfehlungen der europäischen Stakeholder-Gruppe vom 24.6.2009 formulierten 5 Tage nach der ersten Hiobsbotschaft die folgenden Prinzipien: „The guidance should be/is designed to … ▶ „protect the most vulnerable patients“ ▶ „minimize any risk for all other patients“ ▶ „based on the best available evidence and experience“ ▶ „aim for wide dissemination and compliance“ ▶ „simple to understand and practical to implement“ Und: „Physicians should always make the final treatment deci­ sions regarding their patients“ Im Sinne der Option für die Schwachen wurden zuerst Kleinkinder, Kinder und Jugendliche, Schwangere, schwerer Kranke vor bestimmten Therapien und Erwachsene mit aktuell ungünstigen Erkrankungsverläufen genannt. Sie wurden auf eine na­tionale Notfall-Liste aufgenommen, die wiederum nach Dringlichkeit und Schwere 4 Gruppen unterschied. Zusätzlich wurde berichtet, dass leichter Kranke von ihnen nicht dringend gebrauchte Dosen an schwerer Kranke abgegeben hätten. Zusammengenommen kann also kein Zweifel daran bestehen, dass hier – spontan und ohne langes Überlegen – Solidarität geübt wurde, so wie es der Charta der Grundrechte der EU, der klinischen Deontologie, der ökumenischen Ethik, den Präferenzen unserer Bevölkerung, einer aktuellen Tendenz in der Bioethik und vor allem auch den Prinzipien unseres Sozialversicherungssystem (noch) entspricht. Unbewusst hat man sich so verhalten, wie es die oben wieder­ gegebenen Zitate aus dem schwedischen Modell nahelegen. Auch hier steht als erstes Priorisierungskriterium der Schweregrad des zu priorisierenden klinischen Zustands im Vordergrund. „It is only the severity level that is assessed independently of pa­ tient benefit and cost effectiveness.“ (2 weiteren Kriterien des

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