FORTBILDUNG _ÜBERSICHT

Dr. med. Osamah Hamouda, MPH Robert-Koch-Institut Abteilung für Infektionsepidemiologie

Epidemiologische Entwicklung

So breitet sich HIV in Deutschland aus Die Zahl der HIV-Infizierten steigt in Deutschland seit Mitte der 1990er-Jahre, eine Trendwende ist zurzeit nicht in Sicht. Die Epidemie wird weiter am stärksten geprägt von Männern, die Sex mit Männern haben. Leider steigt auch die Zahl der nicht diagnostizierten Infizierten. Neben einer besseren Prävention rückt die gleichzeitige Eindämmung anderer Sexualkrankheiten in den Fokus.



3.525 HIV-Infektionen wurden im Jahr 2014 neu diagnostiziert, so der Stand der Meldungen an das RobertKoch-Institut (RKI) am 1. März 2015. Dies entspricht einer bundesweiten Inzidenz von 4,4 Fällen pro 100.000 Einwohner. Die Zahl der Neudiagnosen ist erneut gegenüber dem Vorjahr angestie-

gen, und zwar um 7,2%. Im Jahr 2013 waren es 3.288 gewesen. Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), stellen mit 67% der HIV-Neudiagnosen bzw. 1.904 Meldungen im Jahr 2014 weiterhin die größte Gruppe dar. Der Anteil der zweitgrößten Betroffenengruppe – Personen, die ihre HIV-

Abbildung 1 Thüringen

Median 2009–2013 2014 2014 bundesweit

Niedersachsen Brandenburg Rheinland-Pfalz Schleswig-Holstein

Bundesland

Baden-Württemberg Saarland Sachsen-Anhalt Mecklenburg-Vorpommern Sachsen Hessen Mod. n. Robert-Koch-Institut

Nordrhein-Westfalen Bayern Bremen Hamburg Berlin

0

2

4 6 8 10 Erstdiagnosen/100.000 Einwohner

12

Abb. 1 In den Bundesländern 2014 gemeldete HIV-Erstdiagnosen pro 100.000 Einwohner (n = 3.525) im Vergleich zu den Vorjahren.

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14

Infektion durch heterosexuelle Kontakte erworben haben – ist sowohl in absoluten Zahlen als auch relativ gesehen angestiegen, nämlich von 598 auf 780 Neudiagnosen, was einem Anstieg von 24% auf 28% entspricht. Die Zahl der aus Deutschland stammenden Personen mit heterosexuellem Risiko hat sich dabei kaum verändert, während die Zahl der aus anderen Ländern stammenden Menschen mit heterosexuellem Risiko weiter angestiegen ist. 76% der Personen, die sich über heterosexuelle Kontakte infiziert haben, stammen nicht aus Deutschland. Die anteilsmäßig bedeutsamste Herkunftsregion war hier mit 59% Subsahara-Afrika. Subsahara-Afrika stellte 2014 die einzige Herkunftsregion mit nennenswertem Zuwachs dar (von 286 auf 454 Fälle). Der Anteil der Personen, die ihre HIV-Infektion vermutlich über intravenösen Drogengebrauch erworben haben, ging trotz leichten Anstiegs der absoluten Zahl von 101 auf 111 Neudiagnosen von 4,1% auf 3,9% zurück. Die höchste Inzidenz der HIV-Erstdiagnosen fand sich in den Stadtstaaten Berlin (12,9 Fälle pro 100.000 Einwohner), Hamburg (11,6), und Bremen (6,8) (Abb. 1). Großstädte wie Köln, Düsseldorf, Frankfurt/Main, München, Stuttgart und Mannheim wiesen ähnlich ■ The article is part of a supplement not sponsored by the industry.

MMW-Fortschr. Med.

2015; 157 (S2)

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MMW-Fortschr. Med.

2015; 157 (S2)

Abbildung 2

80.000

Median der HIV-Prävalenz 95%-Konfidenzintervall

60.000 Mod. n. Robert-Koch-Institut

Anzahl Personen

100.000

40.000 20.000 0

1980

1985

1990

1995 Jahr

2000

2005

2010

Abb. 2 Geschätzter Verlauf der Gesamtzahl der in Deutschland lebenden Menschen mit HIV-Infektion.

Schätzung von HIV-Prävalenz und -Inzidenz in Deutschland Zwischen dem eigentlichen Zeitpunkt der HIV-Infektion und der Diagnose durch einen HIV-Test liegen in der Regel einige Monate bis mehrere Jahre. Auch werden die Daten zu den gemeldeten HIV-Neudiagnosen durch die Inanspruchnahme der Tests und das Meldeverhalten beeinflusst. Aus diesen Gründen können sie nur beschränkt Auskunft über den aktuellen Verlauf der HIV-Neuinfektionen geben. Ein erheblicher Teil der derzeitig erfolgten HIVInfektionen wird erst in den kommenden Jahren entdeckt werden. Um bessere Informationen über den aktuellen Verlauf der HIV-Inzidenz (einschließlich der noch unentdeckten Infektionen) zu erhalten, können Schätzverfahren der mathematischen Modellierung angewandt werden, die eine Bestimmung der Anzahl der HIV-Neuinfektionen pro Zeiteinheit (HIV-Inzi-

denz) und der Zahl der Menschen, die mit einer HIV-Infektion leben (HIVPrävalenz), ermöglichen. Daher erstellt das RKI regelmäßig Schätzungen zum Verlauf der HIV-Epidemie, die die verfügbaren Daten und Informationen aus den verschiedenen Quellen berücksichtigen [2]. Die Eigenheiten und Begrenzungen dieser Erhebungsinstrumente wurden ausführlich im Epidemiologischen Bulletin beschrieben [3]. Die Abschätzung der Zahl der HIV-Neuinfektionen, Todesfälle bei HIV-Infizierten sowie der Zahl der in Deutschland lebenden Menschen mit HIV erfolgt in jedem Jahr neu auf der Grundlage aller zur Verfügung stehenden Daten und Informationen. Die so vom RKI zusammengestellten Eckdaten stellen keine automatische Fortschreibung früher publizierter Daten dar. Durch zusätzliche Daten und Informationen sowie durch Anpassung der Methodik können sich die Ergebnis-

Abbildung 3 8.000

Median der HIV-Neuinfektionen 95%-Konfidenzintervall

6.000 4.000

Mod. n. Robert-Koch-Institut

Anzahl Personen

hohe Inzidenzen auf. Im Vergleich mit dem Median der Inzidenz der fünf Vorjahre stieg die Inzidenz der HIV-Erstdiagnosen 2014 insbesondere in den Bundesländern Bayern, Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt an. In den übrigen Bundesländern nahm die Inzidenz nur leicht zu. Bemerkenswert ist dabei, dass einige ostdeutsche Bundesländer (Sachsen, MecklenburgVorpommern und Sachsen-Anhalt) inzwischen eine höhere Inzidenz aufweisen als einige Länder im Westen (Saarland, Baden-Württemberg, SchleswigHolstein, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen). Sie befinden sich damit im Mittelfeld der Inzidenzrangfolge. Dem besonders ausgeprägten Inzidenzanstieg in Berlin von 2012 auf 2013 folgte im letzten Jahr ein deutlicher Rückgang (von 522 auf 443 Fälle). Der starke Inzidenzanstieg im Jahr 2014 in Bayern (von 455 auf 596 Fälle) ist zu einem wesentlichen Anteil auf Neudiagnosen bei Migranten vor allem aus Subsahara-Afrika zurückzuführen. Die Inzidenz der neu diagnostizierten HIV-Infektionen lag bei Männern mit 7,2 Fällen pro 100.000 Einwohner höher als im Vorjahr (6,8) und deutlich höher als bei Frauen, bei denen die Inzidenz mit 1,6 gegenüber 1,4 im Vorjahr ebenfalls anstieg. Der Frauenanteil unter den HIV-Erstdiagnosen stieg leicht auf 19%. Bei Männern liegt der Inzidenzgipfel neu diagnostizierter HIV-Infektionen in der Altersgruppe der jungen Erwachsenen zwischen 25 und 29 Jahren, bei Frauen in der Altersgruppe zwischen 30 und 39 Jahren. Gleichzeitig beobachten wir in Deutschland – ebenso wie in vielen anderen Industrienationen – einen verstärkten Anstieg der Syphilis-Infektionen. Zwischen Ende der 1970er- bis Anfang der 1990er-Jahre war ein Rückgang zu verzeichnen, der sich mit dem Auftreten von AIDS Mitte der 1980er-Jahre weiter beschleunigte. Ab 2001 stieg die Zahl der gemeldeten Syphilis-Infektionen zunächst von 1.697 im Jahr 2001 auf 3.352 im Jahr 2004 und dann weiter auf über 5.000 im Jahr 2013 an, was etwa der Zahl der Syphilis-Infektionen im Jahr 1984 entspricht [1].

2.000 0

1975

1980

1985

1990 1995 2000 Jahr der Infektion

2005

2010

Abb. 3 Geschätzte Gesamtzahl der HIV-Neuinfektionen in Deutschland.

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Abbildung 4 Anteil unter Therapie bezogen auf alle Diagnostizierten Anteil unter Therapie bezogen auf alle Infizierten

Unter Therapie Diagnostiziert, ohne Therapie Nicht diagnostiziert

Mod. n. Robert-Koch-Institut

90.000

100%

80.000

90%

70.000

80%

60.000

70%

50.000

60%

40.000

50%

30.000

40%

20.000

30%

10.000

20%

0

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

10%

Abb. 4 Entwicklung der HIV-Infektionen in Deutschland 2006–2013: Gesamtzahl, Status von Diagnose und antiretroviraler Therapie, Anteil der Patienten unter Therapie.

se der Berechnungen im Vergleich zum Vorjahr leicht verändern und liefern jedes Jahr eine aktualisierte Einschätzung des gesamten bisherigen Verlaufs der HIV-Epidemie. Aktuell ist dies für den Stand Ende 2013 möglich. Verlauf der HIV-Epidemie in Deutschland Ende 2013 lebten nach den Ergebnissen der aktuellen Schätzung etwa 80.000 Menschen mit einer HIV-Infektion in Deutschland (Abb. 2). Die Zahl der HIVInfizierten nimmt seit Mitte der 1990erJahre kontinuierlich zu, da seit dieser Zeit – vor allem bedingt durch die Verfügbarkeit von hochwirksamen antiretroviralen Therapien – weniger Menschen mit oder an einer HIV-Infektion versterben als sich neu mit dem Virus infizieren. Seit Mitte der 1990er-Jahre hat sich die Zahl der Menschen, die mit einer HIV-Infektion leben, mehr als verdoppelt. Dieser Trend wird voraussichtlich auch in den nächsten Jahren noch anhalten. Nach heutigem Stand des Wissens erreichte die Zahl der HIV-Neuinfektionen in Deutschland Mitte der 1980erJahre einen ersten Höhepunkt – kurz nach der Entdeckung des HI-Virus im Jahr 1983, als die Krankheit AIDS in der Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt war. Vermutlich durch eine Kombination von Sättigungsphänomenen in besonders infektionsgefährdeten Grup-

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pen, spontanen Verhaltensänderungen und den früh begonnenen Präventionsmaßnahmen nahm die Zahl der HIVNeuinfektionen in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre wieder ab und blieb in den 1990er-Jahre auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau, um etwa ab dem Jahr 2000 wieder anzusteigen. Ab etwa 2005 wurde ein neues Plateau erreicht, auf dem die Gesamtzahl der Neuinfektionen seitdem mit relativ geringen Aufund Abwärtsbewegungen schwankt. Für das Jahr 2013 wurde die Zahl der HIVNeuinfektion in Deutschland auf etwa 3.200 geschätzt (Abb. 3). Betrachtet man die Entwicklung der Gesamtzahl der in Deutschland lebenden, mit HIV infizierten Personen nach Diagnose- und Therapiestatus, so wird deutlich, dass sich die Gesamtzahl der HIV-Infizierten kontinuierlich erhöht, ebenso wie die absolute Anzahl der HIVInfizierten, die eine antiretrovirale Therapie (ART) erhalten. Auch der Anteil der ART-Patienten an der geschätzten Gesamtzahl der HIVInfizierten hat sich seit 2006 kontinuierlich erhöht, und zwar von 58% auf 67% im Jahr 2013. Unter den Infizierten, bei denen HIV bereits diagnostiziert wurde, ist der Anteil derer, die eine ART erhalten, von 72% im Jahr 2006 auf 82% im Jahr 2013 gestiegen. Dies spiegelt die konsequente Umsetzung der Therapieleitlinien in der Behandlungspraxis in Deutschland wider.

Trotz der hohen Therapiequote steigt aber die geschätzte Anzahl der noch nicht diagnostizierten Personen, die mit HIV infiziert sind – und damit die Zahl der Personen, die potenziell infektiös sind (Abb. 4). Es infizieren sich mehr Menschen neu, als diagnostizierte Patienten in Therapie kommen. Es stimmt bedenklich, dass es trotz des optimierten Therapiemanagements und des hohen Anteils von antiretroviral Behandelten, trotz Postexpositionsprophylaxe und flächendeckender Testangebote nicht gelingt, die Zahl der HIV-Neuinfektionen dauerhaft zu vermindern. Es bedarf verstärkter Anstrengungen, durch die Kombination aller verfügbarer Präventionsmaßnahmen die Zahl der HIV-Neuinfektionen wirksamer als bisher zu senken. Literatur unter mmw.de Anschrift des Verfassers: Dr. med. Osamah Hamouda, MPH Robert-Koch-Institut Abteilung für Infektionsepidemiologie Postfach 65 02 61, D-13302 Berlin E-Mail: [email protected]

Epidemiologie von HIV

Fazit für die Praxis 1. Insbesondere

außerhalb der Großstädte und in einigen ostdeutschen Bundesländern nimmt die Zahl der HIV-Infektionen bei Männern, die Sex mit Männern haben, zu.

2. Häufigere Untersuchungen auf sexuell übertragbare Krankheiten und deren verstärkte Einbeziehung in die Präventionsmaßnahmen sind notwendig. 3. Die Zahl der (noch) nicht diagnostizierten HIV-infizierten Personen und damit die Zahl der potenziellen Infektionsmöglichkeiten nimmt zu.

4. Der Kondomgebrauch ist ein unverzichtbarer Bestandteil der HIVPrävention.

Keywords Epidemiology of HIV in Germany AIDS – HIV – epidemiology – men who have sex with men – syphilis

MMW-Fortschr. Med.

2015; 157 (S2)

Literatur 1. Robert Koch-Institut. Syphilis in Deutschland 2013. Epidemiologisches Bulletin 50/2014, S. 485–93 2. Robert Koch-Institut. Schätzung der Prävalenz und Inzidenz von HIV-Infektionen in Deutschland, Stand Ende 2013. Epidemiologisches Bulletin 44/2014, S. 429–36 3. Robert Koch-Institut. Methoden zur Schätzung der Prävalenz und Inzidenz von HIV. Epidemiologisches Bulletin 44/2014, S. 436– 37

So breitet sich HIV in Deutschland aus.

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