Allgemeinanästhesie Anaesthesist 2014 · 63:844–851 DOI 10.1007/s00101-014-2374-z Online publiziert: 13. September 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 Redaktion

O. Schlafer1 · V. Wenzel1 · B. Högl2 1 Universitätsklinik für Anästhesie und Intensivmedizin, Medizinische Universität Innsbruck 2 Universitätklinik für Neurologie, Schlaflabor und Spezialambulanz für Schlafstörungen,

Medizinische Universität Innsbruck

A. E. Goetz, Hamburg  M. Jöhr, Luzern  T. Koch, Dresden  C. Werner, Mainz

Schlafstörungen bei Ärzten im Schichtdienst

Schlafstörungen bei Ärzten im Schichtdienst sind kein seltenes Phänomen und können mit erheblichen Folgen für den Patienten verbunden sein. Die Kenntnis von Maßnahmen, die eine Adaptation an Schichtarbeit verbessern können, und von Behandlungsmöglichkeiten bei Schlafstörungen ist insbesondere für Anästhesisten von Bedeutung, da diese ein wiederum noch höheres Risiko als Ärzte anderer Fachdisziplinen aufweisen.

kong gab ein Fünftel der befragten Anästhesisten an, unter Schlaflosigkeit zu leiden; weniger als 5% dieser Ärzte waren deswegen in medizinischer Behandlung [33]. Diese geringe Behandlungsrate könnte auf mangelnde Kommunikation und Bekanntheitsgrad der Problematik zurückzuführen sein sowie auf Bedenken, dass ein offen ausgesprochenes Schlafproblem als persönliche Schwäche ausgelegt wird. Wie englische Autoren argumentieren, ist es letztendlich auch für ältere Anästhesisten wichtig, trotz klinischer Arbeitsverdichtung, sinkendem körperlichen Leistungsvermögen und altersbedingt zunehmenden Schlafstörungen ihe berufliche Zukunft im Krankenhaus zu sehen [25, 52, 66].

D Patienten haben das Recht,

einen gesunden, wachsamen, verantwortlichen und reaktionsfähigen Arzt zu erwarten [59]. Schlafstörungen bei Ärzten im Schichtdienst können durch müdigkeitsbedingte Fehler und Komplikationen sowie verschwendete Ressourcen z. B. durch falsche und/oder wiederholte Untersuchungsanforderungen erhebliche Folgen für Patienten, Kliniken und Krankenhäuser haben [21, 47]. Schicht- und nachtdienstleistende Ärzte leiden häufig unter Schlaflosigkeit und kumulativem Schlafmangel [64]; die Situation kann zusätzlich durch nichtdiagnostizierte schlafmedizinische Erkrankungen oder weitere Belastungen in Klinik, Forschung, Lehre sowie durch familiäre Verpflichtungen und Pendeln zur Arbeit verschlechtert werden [36, 49]. In einer rezenten Umfrage in Frankreich gaben 45% der 1504 befragten Anästhesisten und Intensivmediziner Schlafstörungen an [54]. In einer Umfrage in Hong-

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Physiologische Grundlagen Der zirkadiane 24-h-Rhythmus wird aktiv im Nucleus suprachiasmaticus des Hypothalamus generiert und ist eng mit der physiologischen Sekretion verschiedener endogener Hormone von zirkadianen und Schlaf-Wachzustand-abhängigen Prozessen gekoppelt. Vor allem Kortisol und Melatonin stehen besonders unter zirkadianer Kontrolle, die bei Schichtarbeit oft gestört ist [7] und sich auch nach längeren Schichtarbeitphasen nicht adaptiert [6]. Der endogene Rhythmus des Menschen beträgt nicht genau 24 h, sondern hat meist eine etwas längere, selten eine kürzere Periodendauer. Damit der endogene Rhythmus mit der Umgebung synchronisiert ist, muss er täglich mit dem Tagesablauf abgeglichen wer-

den. Dies geschieht durch sog. Zeitgeber, die dem Nucleus suprachiasmaticus signalisieren, wie spät es „draußen“ ist. Der mit Abstand stärkste Zeitgeber ist Licht, aber auch Sport, Nahrungsaufnahme und soziale Erfordernisse, wie z. B. eigener Arbeitsbeginn und Schulbeginn der Kinder. Das zirkadiane System wird von Umweltfaktoren, aber auch von genetischen Faktoren beeinflusst. Zirka 15% der Bevölkerung sind Träger von diesbezüglichen genetischen Polymorphismen und tolerieren Schichtarbeit nicht nur schlechter, sondern haben nach Schlafentzug auch objektiv eine signifikant schlechtere Reaktionszeit und eine höhere Fehlerrate [12]. Der durchschnittliche Schlafbedarf beträgt 7–8 h bei Männern und 8–9 h bei Frauen. Personen mit niedrigem individuellen Schlafbedarf und Nachtmenschen („Eulen“, [7, 12]) tolerieren Schichtarbeit häufig besser als andere Menschen. Alter über 50 Jahre, ausgeprägte Morgentypen („Lerchen“), Alkohol- oder Substanzmissbrauch und Mehrfachbelastung (z. B. 2 Arbeitsplätze, familiäre Belastungen) sind Risikofaktoren für eine Maladaption an Schichtarbeit. Personen mit vorausgegangenen psychiatrischen, neurologischen oder internistischen Erkrankungen haben häufiger Schwierigkeiten bei der Bewältigung von Schichtarbeit [43]. Für Ärzte können Arbeiten am Wochenende, weniger als 48 h zwischen den Schichtphasen, regelmäßige Überstunden und 12-h-Schichten mit kritischen Überwachungstätigkeiten mit erschwerter Bewältigung von Schichtarbeit einhergehen (. Abb. 1, [43]).

Zusammenfassung · Abstract Anaesthesist 2014 · 63:844–851  DOI 10.1007/s00101-014-2374-z © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 O. Schlafer · V. Wenzel · B. Högl

Schlafstörungen bei Ärzten im Schichtdienst Zusammenfassung Schlafmangel und Schlafstörungen bei Ärzten im Schichtdienst können sowohl direkte gesundheitliche Folgen als auch indirekte, durch Leistungsminderung negative Auswirkungen auf die Patientensicherheit haben. Selbst bei optimaler äußerer Anpassung an Schichtarbeit und Schlafausgleich tagsüber ist Schlafmangel bei Ärzten häufig. Ziel dieser Arbeit ist es, Ursachen und Konsequenzen von Schlafstörungen bei Ärzten zu diskutieren sowie Verbesserungsmaßnahmen zur Adaptation bei Schichtarbeit aufzuzeigen. Risikofaktoren für die Entwicklung von Schlafstörungen bei Ärzten reichen von genetischen Faktoren bei ca. 15% der Bevölkerung, Alter über 50 Jahre, komorbid vorhandenen, jedoch oft nichtdiagnostizierten schlafmedizinischen Erkrankungen, Alkoholmissbrauch bzw. Schlafmangel durch Mehrfachbelastungen in Klinik (mit Schichtarbeit), Forschung, Lehre und Familie. Mehrere Studien weisen auf eine erhöhte Fehlerrate von übermüdeten Ärzten hin. Schicht-

arbeiter haben ein erhöhtes Risiko für psychi­ atrische, kardiovaskuläre und möglicherweise auch für Krebserkrankungen. Es bestehen Zusammenhänge zwischen kurzer Schlafdauer und gestörter Nahrungsaufnahme, Diabetes mellitus, Adipositas, Bluthochdruck oder koronarer Herzerkrankung. Nikotin- und Alkoholkonsum sind bei Schichtarbeitern häufiger. Sozioökonomisch zeigen sich erhöhte Krankenstände und Unfallraten bei Ärzten auf dem Nachhauseweg, insbesondere nach Nachtschichten. Um die Leistungsfähigkeit zu verbessern und Ermüdungserscheinungen zu vermindern, sind Kurzschlafepisoden („naps“) während der Schicht, evtl. in Kombination mit Koffein, wirksame Coping-Strategien. Wenn die Naps zu einem Zeitpunkt mit niedrigem zirkadianen Schlafdruck stattfinden, sind sie weniger effektiv, da die Betroffenen nicht immer einschlafen können. Helle Beleuchtung und blaues Licht unterstützen die Wachheit während der Schicht. Bereits auf dem Nach-

hauseweg von der Schicht sollte direkte Sonnenlichtexposition auf die Retina vermieden werden, z. B. durch Tragen dicht abschließender, sehr dunkler Sonnenbrillen oder von Brillen mit orangenen Gläsern. Nach Schichtende sollte in sehr dunkler Umgebung geschlafen werden, um die endogene Melatoninsekretion nicht zu behindern, was als Nachtsignal gilt und die Schlafkontinuität fördern soll. Schlafstörungen können mit richtigem Umgang mit Licht, Verhaltensstrategien und Umgebungsstrategien therapiert werden, um Schlafdefizite möglichst gut zu kompensieren. Erschöpfung durch Schlafmangel kann nur durch Schlafen konsequent therapiert werden. Schlüsselwörter Insomnie · Zirkadianer Rhythmus ·   Adaptation · Risikofaktoren · Melatonin

Sleep disorders among physicians on shift work Abstract Sleep disorders in physicians who perform shift work can result in increased risks of health problems that negatively impact performance and patient safety. Even those who cope well with shift work are likely to suffer from sleep disorders. The aim of this manuscript is to discuss possible causes, contributing factors and consequences of sleep disorders in physicians and to identify measures that can improve adaptation to shift work and treatment strategies for shift work-associated sleep disorders. The risk factors that influence the development of sleep disorders in physicians are numerous and include genetic factors (15% of the population), age (>50 years), undiagnosed sleep apnea,, alcohol abuse as well as multiple stress factors inherent in clinical duties (including shift work), research, teaching and family obligations. Several studies have reported an increased

Schichtarbeit und Schlafstörungen Schichtarbeit wird als regelmäßige Arbeit außerhalb der regulären Tagesarbeitszeit von 7.00–18.00 Uhr bezeichnet; dies betrifft ca. 15–20% der Berufstätigen in

risk for medical errors in sleep-deprived physicians. Shift workers have an increased risk for psychiatric and cardiovascular diseases and shift work may also be a contributing factor to cancer. A relationship has been reported not only with sleep deprivation and changes in food intake but also with diabetes mellitus, obesity, hypertension and coronary heart disease. Nicotine and alcohol consumption are more frequent among shift workers. Increased sickness and accident rates among physicians when commuting (especially after night shifts) have a socioeconomic impact. In order to reduce fatigue and to improve performance, short naps during shiftwork or naps plus caffeine, have been proposed as coping strategies; however, napping during adverse circadian phases is less effective, if not impossible when unable to fall asleep. Bright and blue light supports alert-

Europa und den USA [11, 43]. In der Europäischen Union (EU) arbeiten etwa 20% der Angestellten zumindest eine Nacht/ Monat; 10% arbeiten eine bis 5 Nächte/ Monat und 10% über 5 Nächte/Monat [31]. Je nach Klinikbetrieb und landesüblichen Gepflogenheiten arbeiten Ärzte

ness during a night shift. After shiftwork, direct sunlight exposure to the retina can be avoided by using dark sunglasses or glasses with orange lenses for commuting home. The home environment for daytime sleeping after a night shift should be very dark to allow endogenous melatonin secretion, which is a night signal and supports continuous sleep. Sleep disorders can be treated with timed light exposure, as well as behavioral and environmental strategies to compensate for sleep deprivation. Fatigue due to sleep deprivation can only be systematically treated with sleep. Keywords Insomnia · Circadian rhythm · Adaptation · Risk factors · Melatonin

häufig rotierende Schichten oder leisten Schichtarbeit in Form von Tagdienst mit regelmäßigen (mehr als 2-mal/Monat) anfallenden 12- oder 24-h-Schichten. Die diagnostischen Kriterien für Schlafstörungen bei Schichtarbeit sind gemäß der Internationalen Klassifikation für SchlafDer Anaesthesist 11 · 2014 

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Allgemeinanästhesie lichen (Notfall-)Situationen kommt es vor, dass Schlafmangel und zunehmende Müdigkeit zu wenig beachtet bzw. überhaupt nicht wahrgenommen werden [23]. Auch in der normalen Bevölkerung ist ein Schlafmangelsyndrom häufig; in einer Umfrage in Österreich gaben über 50% der Befragten an, weniger als 7 h zu schlafen, 15% sogar weniger als 6 h. Tatsächlich korreliert die nächtliche Schlafdauer invers mit der Häufigkeit von Monotonie, Intoleranz und ungewolltem Einnicken untertags [18]. Diese Studien belegen für sich allein jedoch noch keinen kausalen Zusammenhang zwischen Schichtarbeit und Schläfrigkeit; andere Faktoren wie viele Überstunden oder häufigerer Gebrauch von Schlafmitteln könnten ebenso dazu beigetragen haben [11].

Abb. 1 8 Faktoren, die kumulativ zu Schlafstörungen führen. (Nach [19, 41])

Schlafstörungen, Unfälle und Komplikationen

störungen (ICSD-2, [1]; . Tab. 1) festgelegt. Bei 32% der Schichtarbeiter, aber nur 18% der ausschließlich tagsüber arbeitenden Bevölkerung wurde eine Schlafstörung oder exzessive Schläfrigkeit nachgewiesen [15]. Selbst permanente Nachtschichtarbeiter zeigen keine vollständige Adaptation des zirkadianen Rhythmus und des Schlafs [4, 43]. Bei Schichtarbeit scheint die Hauptadaptation der zirkadianen Rhythmen zwischen dem 6. und 12. Tag stattzufinden [43]; die Rückkehr des zirkadianen Rhythmus auf die Ausgangslage vor der Schichtarbeit erfolgt mit etwa 90 min/Tag relativ langsam [4]. Schichtarbeiter schlafen tagsüber nicht nur außerhalb ihres physiologischen zirkadianen Schlaffensters (d. h. reduzierte Schlafbereitschaft), sondern sind im Gegensatz zur Normalbevölkerung ungeschützt vor Störungen untertags wie Baustellenlärm in Wohngegenden oder klingelnden Postboten. Es gibt enge Interaktionen zwischen der physiologischen Leistungsfähigkeit des Menschen und den kumulativen Arbeitsstunden, was besonders bei Ärzten im Schichtdienst häufig Probleme bereitet. Je länger man wach war, umso höher ist die homöostatische Einschlafbereitschaft; die zirkadiane Einschlafbereitschaft ist in den frühen Nachmittagsstun-

Erschöpfung durch Schlafmangel hat zu Fehlentscheidungen mit nachfolgenden Unfällen und Milliardenschäden bei der Explosion des Space Shuttle „Columbia“, der Ölpest in Alaska durch den gestrandeten Tanker „Exxon Valdez“ sowie den Kernschmelzen in den Atomkraftwerken in Harrisburg, Pennsylvania, und Tschernobyl, Ukraine, beigetragen [28]. Bei 5293 Patienten mit diagnostizierten Schlafstörungen in Frankreich wurde ein deutlich erhöhtes Risiko von Unfällen mit Autos (4,1% in einem Jahr), am Arbeitsplatz (10,1% in einem Jahr) oder zu Hause (20,9% in einem Jahr) dokumentiert [34]. In einer Studie in den USA wurde Rettungsdienstpersonal zu 55% als übermüdet eingeschätzt, was die Unfallgefahr wesentlich erhöhen kann [50]. Bei 963 Assistenzärzten aus US-Notfallaufnahmen wurden 96 Unfälle und 1446 Beinahe-Unfälle auf der Fahrt nach Hause dokumentiert; 75% der Unfälle und 80% der Beinahe-Unfälle passierten nach einer Nachtschicht [63]. In einer anderen Studie berichteten 95% der befragten Intensivschwestern mit 12-h-Schichten von Beinahe-Unfällen oder Unfällen auf der Fahrt von und zur Arbeit [46]. In Neuseeland berichteten 24% der befragten 1366 Assistenzärzte, dass sie bereits mindestens einmal auf dem Weg von der Arbeit nach

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den oder in den sehr frühen Morgenstunden höher als am späten Vormittag oder am frühen Abend. Die enge Interaktion von homöostatischer und zirkadianer Einschlafbereitschaft [8] erklärt, warum viele Ärzte während eines 24-h-Diensts zwischen 2.00 und 4.00 Uhr morgens extrem müde sind und dennoch am folgenden Vormittag vorübergehend wieder eine gute Wachheit erreichen, obwohl sie nachts nicht oder kaum geschlafen haben. Die hohe zirkadiane Wachbereitschaft am späten Vormittag wirkt dem durch den 24-h-Dienst aufgebauten Schlafdruck wiederum partiell entgegen [26]. Schichtarbeiter bekommen ungefähr 10 h weniger Schlaf/Woche als nichtschichtarbeitende Personen [43]. Eine Metaanalyse zeigte, dass Arbeiten während der Nacht mit einer kürzeren Schlafdauer tagsüber einhergeht [7, 51]. Bewegungsanalysen im Schlaflabor weisen auf eine verkürzte Schlafdauer zwischen 4 und 6 h bei Nachtschichtarbeitern tagsüber hin [6].Vor allem Ärzte im Schichtdienst haben häufig eineausgeprägte chronische Schlafdeprivation [12]. Selbst mit optimaler Schlafgelegenheit bekommen Schichtarbeiter tagsüber deutlich weniger Schlaf als während des regulären Nachtschlafs. Besonders in hochmotivierten Teams und außergewöhn-

Tab. 1  Diagnosekriterien von Schlafstö-

rungen bei Schichtarbeit. (Nach [2]) A

Schlafstörungen oder Tagesschläfrigkeit, zeitlich assoziiert mit einem Arbeitsschema, das mit den üblichen Schlafzeiten überlappt B Die Symptome sind mit dem Schichtarbeitsschema über zumindest einen Monat assoziiert C Ein Schlaftagebuch oder Aktigraphie mit Schlaftagebuch über mindestens 7 Tage zeigt „gestörte Übereinstimmung zwischen zirkadianer Zeit und Schlafenszeit“ D Keine anderen Ursachen

Hause am Steuer eingeschlafen sind, und 42% berichteten von einem müdigkeitsbedingten medizinischen Fehler in den letzten 6 Monaten [22]. Bei einer Studie mit Assistenzärzten in der Orthopädie in Boston betrug die mittlere Schlafdauer lediglich 5,3±0,8 h; Müdigkeit war fast zur Hälfte des Untersuchungszeitraums vorhanden, und in einem Viertel der Arbeitszeit war die mentale Leistungsfähigkeit so schlecht wie bei einem Blutalkoholwert von 0,8‰ [37]. Assistenzärzte auf einer internistischen Intensivstation in Boston mit 77–81 h wöchentlicher Arbeitszeit und einer maximalen Schichtdauer von 34 h machten 55% mehr unbemerkte Fehler und 5-mal mehr diagnostische Fehler im Vergleich zu Assistenzärzten auf der gleichen Intensivstation, deren wöchentliche Arbeitszeit im Rahmen einer Studie lediglich 60–63 h betrug mit einer maximalen Schichtdauer von 16 h. Beispiele für Fehler in dieser Studie in der Gruppe mit der längeren Arbeitszeit waren u. a. die Anlage eines zentralen Venenkatheters (ZVK) auf der Seite eines Herzschrittmachers, eine um den Faktor 100 falsch berechnete Flüssigkeitsbilanz mit nachfolgendem Lungenödem, ein um den Faktor 10 zu hoch dosierter Vasopressor und eine links- statt rechtsseitige Thoraxdrainage [32]. Bei einer Analyse von 1876 durch Fachärzte in Boston durchgeführten chirurgischen Eingriffen im Vergleich mit 7497 Kontrolloperationen traten 2,7-mal mehr Komplikationen auf, wenn die Operateure weniger als 6 h geschlafen hatten [56]. Nachdem 2 völlig übermüdete Assistenzärzte eine 18-jährige Studentin falsch behandelten und eine anschließende Reanima-

tion erfolglos blieb [3],1 hat 1987 der Bundesstaat New York in den USA die maximale Schichtdauer für Assistenzärzte von 36 auf 24 h reduziert. Zusammenfassend kann man sagen, dass Schlafmangel durch Nachtdienste bei Ärzten die Merkfähigkeit, Leistungsfähigkeit und das Erfassen komplexer Situationen verschlechtert [10]; andere Autoren diskutieren sogar, dass Schlafstörungen bei Anästhesisten ein wichtiger Faktor für anästhesiebedingte Morbidität und Mortalität sein könnten [28, 41]. Der Zusammenhang zwischen verminderter psychomotorischer Leistungsfähigkeit und der höheren Wahrscheinlichkeit für Fehler bei Ärzten im Schichtdienst sollte allerdings den Ärzten selbst, aber auch den Kliniken und Fachgesellschaften bewusst sein [59].

Schichtarbeit und Folgeerkrankungen Schicht-, v. a Nachtarbeit, ist bei Menschen per se unphysiologisch; langjährige Schichtarbeit kann zu Schlafstörungen, gastrointestinalen, metabolischen, onkologischen, psychiatrischen und kardiovaskulären Erkrankungen beitragen [14, 43]. Es besteht auch ein erhöhtes Risiko, dass sich bereits bestehende Erkrankungen verschlechtern [5, 7, 57]. Eine akute experimentelle Restriktion des Schlafs führte zu erhöhtem Blutdruck und gesteigerter Sympathikusaktivität sowie einer Konzentrationserhöhung von Inflammationsmarkern, die mit einem kardiovaskulären Risiko einhergehen [68]. Es ist belegt, dass Schichtarbeiter eine durch koronare Herzkrankheit erhöhte Mortalität aufweisen: Schichtarbeiter rauchen häufiger und sind häufiger übergewichtig als Tagarbeiter und haben einen höheren Alkoholkonsum [24, 31]. Auch nach einer Korrektur für alle Störgrößen zeigte sich bei Schichtarbeitern im Gesundheitssystem ein deutlich erhöhtes metabolisches Risiko [6, 11]. In der Nurses-Health-Studie mit über 10-jähriger Beobachtungszeit fand sich ein erhöhtes Diabetesrisiko bei einer Schlafdauer ≤5 h vs. 7–8 h; auch eine Studie mit Follow-up nach bis 1  New York Times 03.03.2009, Washington Post

28.11.2006.

zu 22 Jahren belegte ein erhöhtes Risiko für das Neuauftreten eines Diabetes mellitus bei Patienten mit Einschlafstörung und/oder Schlaftabletteneinnahme [45]. In Deutschland wurde bei 8269 Männern und Frauen zwischen 25 und 74 Jahren nach 7,5 Jahren ein signifikant erhöhtes Risiko für neu aufgetretenen Dia­betes mellitus bei Patienten mit Durchschlafstörungen, selbst nach Kontrolle für multiple Kovariablen, gezeigt [38]. Auch in der Massachusetts Male Aging Study wurde bei einer Schlafdauer ≤6 h ein doppelt erhöhtes Risiko für das Auftreten eines Diabetes mellitus nach Kontrolle für alle Kovariablen festgestellt [71]. Magenulzera fanden sich häufiger bei denjenigen Nachtschichtarbeitern in Detroit, die tagsüber kürzer schliefen als andere (6,4 h, [15]). Schichtarbeit und eine hohe Variabilität der Arbeitsstunden haben negativen Einfluss auf soziale Beziehungen, Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit und Lebensfreude insgesamt [7]. Schichtarbeit hat ebenso sozioökonomische Konsequenzen, z. B. durch reduzierten Gesundheitszustand von Schichtarbeitern und vermehrte Krankenstände bei Schichtarbeitintoleranz. Geschlechtsspezifisch weisen weibliche Schichtarbeiter eine schlechtere Schlafqualität, menstruale Dysfunktion und ein erhöhtes Risiko für Mammakarzinome sowie für metabolische und kardiovaskuläre Erkrankungen auf [11]. Frauen zeigten sich in einer amerikanischen Umfrage auch anfällig dafür, ihren Schlaf einzuschränken, wenn sie aufgrund vielfältiger Aufgaben in Zeitnot geraten, und wiesen größere Schwierigkeiten auf, sich an Schichtarbeit zu adaptieren. Bei Frauen mit Mammakarzinom im Vergleich zu einer gesunden altersangepassten Kontrollgruppe waren Nachtschichten mit einer höheren Rate an Mammakarzinomen assoziiert („odds ratio“ 1,6, [11, 13]). Möglicherweise trägt Schichtarbeit auch zum Mammakarzinom bei [1, 31]. Schichtarbeit erhöhte ebenfalls das Risiko für kolorektale Karzinome [11]. Zahlreiche zirkadiane Gene spielen auch eine Rolle in Zellproliferation und Apoptose sowie anderen Schlüsselfaktoren für Tumorgenese oder Suppression [11]; eine zirkadiane Disruption wie z. B. durch Schichtarbeit könnte diese zirkadianen Gene fehlregulieren. InsbesonDer Anaesthesist 11 · 2014 

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Allgemeinanästhesie dere kann Schlaflosigkeit Symptome eines Burn-outs oder einer Depression maskieren oder einer Depression oder einem Burn-out vorangehen [39, 40].

Schlafmangel und Ernährung Chronischer Schlafmangel erhöht das Risiko für Adipositas und Diabetes mellitus [30, 62]; bei Personen nach Schlafdeprivation wurden im oralen Glucosetoleranztest höhere Glucoselevel gemessen [67]. Nach Schlafentzug waren die Glucosetoleranz und die Glucose-Clearence-Rate um 40% niedriger; auch war die akute Insulinresponse auf Glucose reduziert [60, 62]. Tiefschlaf ist mit vermindertem Glucoseverbrauch im Gehirn, Stimulation der Wachstumshormonausschüttung, Inhibition von Kortisol und reduzierter Sympathikusaktivität sowie erhöhtem Vagotonus assoziiert [65]. Wurde bei unveränderter Schlafdauer der Tiefschlaf um 90% reduziert, waren eine erniedrigte induzierte Insulinsensitivität und eine um 25% reduzierte Glucosetoleranz zu verzeichnen, wie sie in Populationen mit hohem Diabetesrisiko zu finden sind [61]. Schlafmangel beeinflusst beim Menschen die nichthomöostatische Nahrungsaufnahme [67]. Junge gesunde Probanden zeigten nach Schlafentzug ein deutliches „craving“ (kontinuierliches und nahezu unbezwingbares Verlangen nach einer bestimmten Substanz) mit Bevorzugung von kohlenhydratreicher und fetter Kost. Nach 2 Tagen partieller Schlafdeprivation auf 4 h/Tag wurden ein deutlich erniedrigter Wert des Sättigungshormons Leptin und ein deutlich erhöhter Wert des Hungersignals Ghrelin gemessen [62]. Epidemiologische Studien machten bereits früher einen Zusammenhang zwischen kurzer Schlafdauer und ungesunden Essgewohnheiten deutlich [29, 48]. Nicht nur Schlafmangel allgemein, sondern auch Schlaf außerhalb der physiologischen zirkadianen Phase führt zu Körpergewichtszunahme bei prädisponierten Personen, insbesondere mit vorbestehendem Übergewicht [55]. Multiple Studien belegen einen inversen Zusammenhang zwischen der Schlafdauer und dem Body-Mass-Index (BMI) bei Erwachsenen und Kindern. In zahlreichen europäischen Ländern, den USA und in

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Asien ergaben Querschnittsuntersuchungen bei Erwachsenen einen signifikanten Zusammenhang zwischen kurzer Schlafdauer und Fettleibigkeit. Den niedrigsten BMI hatten Personen mit einer Schlafdauer von 7–8 h; bei einer Schlafdauer

[Sleep disorders among physicians on shift work].

Sleep disorders in physicians who perform shift work can result in increased risks of health problems that negatively impact performance and patient s...
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