Arch. orthop. Unfall-Chir. 86, 29--35 (1976)

Archiv for orthop dische und UnfalI-Chirurgie ©byJ. F.Bergmann-Verlag1976

Die stummen F/ille yon Hiiftdysplasie g . l~eiter* Orthop~dische Ambulanz des Mautner Markhofschen Kinderspitals (Arztlicher Leiter: Univ.Prof. Dr. H. G. Wolf), Baumgasse 75, A-1030 Wien

Silent Hip Dysplasias Summary. Clinical and X - r a y examinations for hip dysplasias in 500 babies in one ward showed 40% wrongly positive and 5.6% wrongly negativ (silent or masked) results, control of which necessiates roentgenograms in the second or third month or coltrolled spreading immediately after birth. Zusammenfassung. Auf einer S~uglingsabteilung wurden 500 Patienten kliniseh und rSntgenologiseh untersucht. Es fanden sich 40% falsch positive und 5,6% falsch negative (stumme oder larvierte) Fi~lle yon Itiiftdysplasien. U m diese stummen F£11e in den Griff zu bekommen, ist entweder eine RSntgenaufnahme mit 2 - - 3 Monaten oder dosierte Spreizbehandlung sofort nach der Geburt n6tig (breit wiekeln, Spreizkissen- oder Ziigelbehandlung).

Es gibt viele Probleme um das T h e m a Htiftdysplasie, die noch der Kliirung bediirfen. Gesichert ist aber die Tatsache, dab die ausgepr£gte Luxation in den seltensten F£]len schon bei der Geburt besteht. Postnatal finder sich nur die dysplastische Anlage, eine Entwicklungsverz6gerung, die in einem gewissen Prozentsatz genetisch bedingt und grunds/~tzlich nachholbar ist (statistisch nachweisbare Tatsache der Spontanheilungen). Diese Selbstheilungstendenz ist aber ffir den Einzelfall leider nicht erkennbar, auch nicht aus dem R6ntgenbild. Zum Auftreten einer Subluxation oder Luxation miissen zusi~tzlich exogene Faktoren zur Wirkung kommen (z. B. friihzeitige Streckung im Hiiftgelenk). Die zweite gesicherte Tatsache ist die Erkenntnis, dab die Chance, anatomische Heilungen zu erzielen, um so gr6]~er ist, je friiher die Behandlnng einsetzt. Also Friihestdiagnose und Friihestbehandlung. Es soll uns hier besonders die Friihestdiagnose sowie die MSglichkeit der Fehldiagnose interessieren. *

Meinem Lehrer, Herrn Univ.-Prof. Dr. Ph. Erlacher, zum 90. Geburtstag gewidmet.

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1~. l~eiter

Aus der Literatur ist zu entnehmen, dab vorwiegend eine zu h/~ufige Diagnose einer Itfiftdysplasie erfo]gt. Die Rate der falsch positiven Fehldiagnosen betrggt, je naeh Untersuehungsteehnik, 3 0 4 0 % (Keller). Weniger bekannt ist die Tatsache, dab natiirlich aueh die MSgliehkeit besteht, eine Hfiftdysplasie zu fibersehen, also eine falsch negative Diagnose zu stellen. Nicht vielleicht well ungenau untersueht wurde, sondern well eben keine Minischen Zeiehen vorhanden waren, die den Verdacht auf eine Hfiftdysplasie erwecken kSnnten. So schreibt Sehlegel im Handbueh der Orthop~die, Kapitel Hiiftgelenksluxation, dag alle It/tufigkeitsstatistiken einen zweifelhaften Wert haben, da es unm6glieh ist, alle ,,larvierten" Formen der Luxation zu erfassen. B6seh aus dem Orthop/~disehen Spiral in Wien beriehtet fiber 212 stumme F/~lle unter 3900 Dysplasiekindern. Aueh wit haben 1970 bereits darauf hingewiesen, dag die stummen Fglle yon Hfiftdysplasie ein nieht zu fibersehendes Ausmag annehmen k6nnen. Es ist daher klar, dag die stummen Fglle nur dureh das R6ntgenbild erfagt werden kSnnen. Daher Einigkeit unter den Orthop/~den, die Diagnose im positiven oder negativen Sinne im 2. und 3. Lebensmonat dureh eine I~Sntgenaufnahme zu siehern. Imh/~user forderte daher 1967 die t~Sntgenreihenuntersuehung aller S/~uglinge ab dem 4. Lebensmonat. Aueh Putti in Italien (1930) und Freyka in der CSR (1931) stellten sehon diese Forderung. Diese beiden Orthop/~den verlangten entweder eine l~Sntgenaufnahme oder eine sofortige prophylaktisehe Behandlung aller S~uglinge ab dem 2. Lebensmonat, um aueh die larvierten FSJle in den Griff zu bekommen. Sp/tter wurde aber die l~6ntgenreihenuntersuehung in der CSR wieder verlassen (1956), da die Fehlinterpretationen zu hoeh waren und die S~tuglinge einer Behandlung unterworfen wurden, die sie nieht ben6tigten und die zum damaligen Zeitpunkt aueh nieht ganz ungef/~hrlieh war. Ieh darf bier die Forderung stellen, daft die Interpretation der R6ntgenaufnahme des Beekens in die Hand des Orthop~den gehSrt, der dureh jahrelange Erfahrung eine sehr genaue Vorstellung vom Normalen hat, die nieht unbedingt in meBbaren Daten ihren Ausdruek finden muft. Die vom orthop/~dischen Standpunkt bereehtigte Forderung Imh~users hat nun in Deutschland die Strahlensehutzkommission der Deutsehen RSntgengesellsehaft auf den Plan gerufen. In einem Gutaehten erfolgte eine vorsiehtige Ablehnung der R6ntgenreihenuntersuehung yon S/~uglingen ab dem 4~. Lebensmonat. Der Grund war nieht etwa eine somatisehe Seh/~digung dureh die Beekenaufnahme, sondern die ErhShung der genetiseh zumutbaren Jahresdosis der Gesamtbev61kerung dureh diese Untersuehung um 15~o. Eine R6ntgenreihenuntersuehung der Lunge wfirde dagegen nur eine Erh6hung der genetiseh signifikanten Jahresbelastung der Bev61kerung um 0,3% ausmaehen. Aueh aufnahmeteehnisehe Magnahmen (Gonadensehutz, einmalige Aufnahme) wfirden nur eine Senkung yon 15 auf 10~o ausmaehen. Diese 10°/O mfiftten immer noeh als bedenklieh angesehen werden. Das sind zweifellos bereehtigte Forderungen, die uns Orthop/~den nun die zweite Alternative (entweder l~6ntgenaufnahme oder Therapie aller S~uglinge) zu ergreifen verpfliehtet.

Die stummen Fiille yon Hiiftdysplasie

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Es bleibt aber bei dem mit der Materie Vertrauten ein Unbehagen zuriiek, da es allein dureh die klinische Diagnostik nicht gelingt, sgmtliehe F~lle yon Hiiftdysplasie zu erfassen. Dieses Unbehagen wird noch gen£hrt dureh das Ergebnis unserer Reihenuntersuehungen an einem nieht selektierten Material, die wir schon begonnen hatten, bevor wir yon dem Gutaehten der Strahlensehutzkommission der D e u t sehen R6ntgengesellsehaft Kenntnis erhielten. Wir stellten uns nun die Aufgabe, an 500 Neugeborenen und S/~uglingen das Vorhandensein yon stummen F/~llen yon Hiiftdysplasie zu untersuehen. Zu diesem Zweek wurden alle Neuaufnahmen an der S/~uglingsstation des Mautner Markhofsehen Kinderspitales kliniseh untersucht und in jedem Fall eine RSntgenaufnahme ab dem 2. Lebensmonat zur Sieherung der Diagnose angefertigt. Die klinische und r6ntgenologische Untersuehung wurde jeweils von zwei mit der Materie bestens vertrauten ]~rzten vorgenommen. Die Untersuehung erfolgte auf sehonendste Weise, da ja bekanntlieh besonders bei der Priifung der Abduktion jede Gewaltanwendung das Ergebnis verf/~lseht. Als kliniseh negativ wurden alle jene F/~lle bezeiehnet, die jegliche Zeiehen einer Hiiftdysplasie vermissen liegen. Aueh das unsichere Zeichen der Faltendifferenz durfte nieht vorhanden sein. H a t t e sich ein Fall als s t u m m deklariert, erfolgte eine neuerliehe Untersuehung, um jeden I r r t u m auszusehliegen.

Tabelle 1

Klinisch Klinisch Klinisch Klinisch

negativ positiv negativ positiv

RSntgen negativ l~6ntgen negativ RSntgen positiv RSntgen positiv

260 186 28 26

52,0~o 37,2% 5,6% 5,2%

Die Tabelle zeigt einerseits, dag aueh wir fast 40% Fehldiagnosen (falseh positiv) aufgrund der klinisehen Diagnose allein hatten, wie sie aueh andere Autoren angeben. Die kliniseh stummen F/~lle yon ttiiftdysplasie, bezogen auf die Gesamtzahl, betrugen immerhin 5,6%. Auffallend hoeh erseheint uns der Anteil der ,,larvierten" Fglle (28), bezogen auf die Gesamtzahl der Dysplasien (54). M6glieherweise liegt der Grand dafiir in der relativ hohen Quote yon ausl/~ndisehen Kindern in unserem Material (Jugoslawen, Tiirken). Die Klassifizierung eines Falles als ,,stumm" oder ,,larviert" war natiirlieh in hohem M a t e v o n d e r Interpretation des R6ntgenbildes abhgngig. Die gebrguehliehen Mel3methoden sind bekannt. Ieh m6ehte nut darauf hinweisen, dag wir alle lagerungsbedingten FehlermSgliehkeiten bertieksiehtigt haben, um so das B6ntgenbild zum ,,einzigen objektiven Befund" im Rahmen der Diagnosestellung zu erheben. Besonderes Augenmerk wurde der Pfannendaehentwieklung gewidmet. Hier hat sieh uns die Einteilung der St6rzonen naeh Sehnltheiss bewS,hrt. Die St6rzonen im Bereieh des Pfannendaehes haben Keilform und beruhen auf unzureiehender Verkn6eherung der pfannennahen Darmbeinbezirke. Es wird aus dem

Abb. l. C. G., ~, 2 Monate, klinisch unauff~llig

Abb. 2. F. D., ~, 2 Monai~e,klinisch un~uff/~llig

Abb. 8. K. D., ~, 2 Monate, klinisch unauff/~llig

Die stummen F/ille yon HiifMysplasie

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Abb. 4. J. S., ~, 3 ~{onage,klinisch unauffgllig

Abb. 5. B. NI., ~?, 5 Monate, klinisch unauff~llig

Verkn6cherungszustand des Pfannendaehes auf den Grad der Hiiftdysplasie geschlossen. Die R6ntgenaufnahmen der klinisch stummen F/~lle sind teilweise sehr eindrucksvoll, und es erhebt sieh die Frage, wie entwiekeln sich jene F/ille weiter, die nicht erkannt wurden, da die kl/~rende g6ntgenaufnahme unterlassen wurde. Die Spontanheilung wurde schon erw/~hnt. Nach Beeker fanden sich unter 112 unbehandelten Dysplasien bei S/~uglingen nach 6 Monaten 31 Spontanheilungen, 23 F/~lle entwiekelten sich zu sehweren Dysplasien und Subluxationen. Der Rest blieb unverandert wie zum Zeitpunkt der Diagnosestellung. 3

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R. Reiter

Abb. 6. Sch. G., ~, 3 Monate, klinisch unauffillig

Welche Schlfsse ergeben sieh aus unseren Untersuehungen ? 1. Die Tatsache, dag es s t u m m e Fglle y o n Hiiftdysplasien gibt, ist nicht mehr wegzudiskutieren. 2. Die R6ntgenreihenuntersuchung der Sguglinge ab 4. L e b e n s m o n a t erh6ht die genetiseh z u m u t b a r e Jahresbelastung der Bev61kerung u m 15% . Es m u g daher die g 6 n t g e n a u f n a h m e den F/~llen mit positiven Dysplasiezeiehen vorbehalten bleiben. 3. U m die s t u m m e n Fille zu erfassen, muB die Therapie so nahe Ms mSglieh an den Geburtstermin herangebracht werden' (breit wiekeln, Spreizkissen- oder Ziigelbehandlung).

Literatur Beeker, F.: 13ber zehnji~hrige Erfahrungen mit der Spreizbehandlung der sogenannten kongenitalen ttiiftgelenksluxation im Sguglings- und KleinkindesMter. Z. Orthop. 95, 194 (1961) B6sch, J. : Demonstration yon diagnostiseh sehwierigen :PSJlenbei I-Itiftluxation. 0st. Arzteztg. 26, 317 (1971) Brezina, K.: Der S~rahlenschutz des Patienten in der R6ntgendi~gnostik des Hiiftgelenkes. Z. Orthop. 95, 449 (1962) Frik, W.: Reihenuntersuehungen der tliiftgelenke bei Siuglingen und Strahlenschutz. :Fortschr. RSntgenstr. 116, 453 (1972)

Die stummen F~lle yon Hiiftdysplasie

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Frejka, :B. : Praeventation der angeborenen Hiiftgelenksluxationdurch das Abduktionspolster. Wien. med. Wsehr. 523 (1941) HeuBge, J. : Zur Prophylaxe der Hiiftluxation und der Dysplasie dureh Priifung des SehnappPh~nomens an der Neugeborenenhiifte. Z. Orthop. 109, 380 (1971) Keller, G. : Zur Friihdiagnose und Friihtherapie der Hfiftdysplasie. Z. Orthop. 10g, 577 (1969) Kristen, H., Neugebauer, H. : Gergt die Friihdiagnose und -behandlung der angeborenen Htiftgelenksluxation in Vergessenheit ? 0st. Arzteztg. II0, 11 (1975) Putti, V. : Analisi della triade radiosintomica degli stati di prelnsatione. Chir. Organi Nov. 17, 453 (1932) Reiter, R. : Erfahrungen mit dem lgiemziigel naeh Pavlik. Z. Orthop. 95, 220 (.1.961).. Reiter, 1%: Der Aussagewert der klinisehen Dysplasie und Luxationszeiehen. Ost. Arzteztg 2g, 298 (1971) Sherman, S. : Diagnosis of congenital dysplasia of the hip in the newborn infant. J. Amer. reed. Ass. 162, 548 (1956) Sehultheiss, H.: Die Frfihbehandlung der Hiiftdysplasie dutch atraumatische Spreizung. Stuttgart: Ferd. Enke 1965 SchwS~gerl, W. : Vergleiehende klinische und r6ntgenologisehe Untersuehungen zur Erfassung yon Htiftdysplasien im S~uglingsalter. Z. Orthop. ll•, 19 (1975)

Eingegangen am 29. Januar 1976

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[Silent hip dysplasias (author's transl)].

Arch. orthop. Unfall-Chir. 86, 29--35 (1976) Archiv for orthop dische und UnfalI-Chirurgie ©byJ. F.Bergmann-Verlag1976 Die stummen F/ille yon Hiiftd...
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