Übersicht 51

Stellenwert von Kurzinterventionen in der Versorgungskette von Essstörungen Eine narrative Übersichtsarbeit

Significance of Brief Interventions in the Healthcare Supply Chain of Eating Disorders A Narrative Review Autoren

Maddalena Elisa Rossi1, Karolin Neubauer1, Angelika Weigel1, Hanna Wendt1, Kathrin von Rad1, Georg Romer2, Bernd Löwe1, Antje Gumz1

Institute

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Schlüsselwörter ▶ Kurzinterventionen ● ▶ Essstörungen ● ▶ Review ● Keywords ▶ brief interventions ● ▶ eating disorders ● ▶ review ●

eingereicht 13. August 2013 akzeptiert 24. Februar 2014 Bibliografie DOI  http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1372570 Online-Publikation: 16.5.2014 Psychother Psych Med 2015; 65: 51–57 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 0937-2032 Korrespondenzadresse Dipl.-Psych. Maddalena Elisa Rossi Institut und Poliklinik für ­Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Universitätsklinikum ­Hamburg-Eppendorf Martinistraße 52 20246 Hamburg [email protected]

Zusammenfassung

Abstract

Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Versorgungslage wird die spezifische Bedeutung von Kurzinterventionen in den Versorgungsketten von Anorexia und Bulimia nervosa sowie der Binge-Eating-Störung dargestellt. Anders als für psychotherapeutische Angebote längerer Dauer gibt es in der Literatur bislang keine umfassende Zusammenschau ambulanter psychotherapeutischer Kurzinterventionen in der Behandlung von Essstörungen. Der Artikel basiert auf einer Literaturrecherche zu relevanten Publikationen unter Nutzung einschlägiger Literaturdatenbanken. Die Beiträge wurden hinsichtlich ihres Bezuges zum Thema exzerpiert und werden im Sinne einer narrativen Übersicht wiedergegeben. Insgesamt weist die Überprüfung der Literatur auf eine geringfügige Erweiterung des Versorgungsangebotes um personal- und kostenökonomisch effiziente Therapielösungen für Bulimia nervosa und die Binge-Eating-Störung hin, während in der Behandlung der Anorexia nervosa nach wie vor in- und extensivere Behandlungsmodelle vorherrschen.

So far there is no comprehensive overview on brief outpatient interventions in eating disorders. The specific relevance of psychotherapeutic brief interventions for Anorexia Nervosa, Bulimia Nervosa and Binge Eating Disorder is presented against the background of current healthcare supply chains. This review is based on a literature search that evaluated relevant publications in applicable literature databases. The articles were excerpted and are presented in a narrative overview. In summary, the literature shows a marginal expansion of healthcare provision towards personnel-efficient and cost economic therapeutic solutions for Bulimia Nervosa and Binge Eating Disorder, while the treatment of Anorexia Nervosa is currently determined by more in- and extensive approaches.



Vorbemerkung zum methodischen ­Vorgehen



Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine narrative Darstellung der Entwicklungen und Perspektiven psychotherapeutischer Kurzinterventionen bei Essstörungen mit dem Ziel, eine Empirie basierte Übersicht über die Versorgungslage zu geben. Unter Nutzung der Datenbanken PubMed, PsycINFO, Cochrane und PSYNDEX wurde eine Literaturrecherche zu relevanten Arbeiten (bis 31. Mai 2012) durchgeführt. Eingeschlossen wurden prospektive oder retrospektive klinische Studien, randomisierte kontrollierte Studien, kontrollierte klinische Studien, systematische Reviews, Meta-



analysen und Praxisleitlinien. In die Suche wurden Arbeiten aus dem deutschen und englischen Sprachraum eingeschlossen. Zur Suche wurde der Terminus Search „brief intervention* eating disorder*“ jeweils in Kombination mit den störungsspezifischen Suchtermini “AND anorexia”, „AND bulimia“, „AND binge eating“ eingesetzt. Zudem wurden zur Strukturierung der Suche auch die eingesetzten psychotherapeutischen oder beratenden Verfahren und Settings im Suchterminus ergänzt („AND therapy“, „AND consult*“, „AND cognitive behavioral therapy“, „AND motivational interviewing“, „AND motivational enhancement therapy“, „AND psychoeducation“, „AND group“). Mit der Kombination der Schlagworte wurden 17 Artikel gefunden, gesichtet und

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 Universitäre Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, ­Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Schön Klinik Hamburg-Eilbek 2  Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie, Universitätsklinikum Münster

im Hinblick auf ihre Relevanz im Volltext ausgewertet; diese bilden die Grundlage für die vorliegende Übersichtsarbeit. Zusätzlich wurden die Quellen der aktuellen S3-Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung der Essstörungen [1] auf relevante empirische Befunde geprüft.

Psychiatrisch-Psychotherapeutische Versorgungsstrukturen in Deutschland – Überblick und aktuelle Entwicklungen



Der 1975 durch die Psychiatrie-Enquête des Deutschen Bundestags angestoßene Reformprozess hat maßgeblich zu einer Verdichtung des Versorgungsangebotes durch Maßnahmen wie etwa den flächendeckenden Aufbau von Tageskliniken und Institutsambulanzen sowie den Ausbau des komplementären Versorgungsangebotes mit sozialpsychiatrischen Diensten, Wohngemeinschaften, Tagesstätten und arbeitsrehabilitativen ­Maßnahmen beigetragen [2]. Obwohl diese Entwicklungen insge­samt positiv sind, ist der Bedarf an psychotherapeutischen Behandlungsplätzen weiterhin nicht gedeckt. Für jährlich 5 Millionen psychisch erkrankte Menschen stehen in Deutschland nur 1,5 Millionen ambulante und stationäre Therapieplätze zur Verfügung [3]. Trotz der Aufstockung der Niederlassungen für ambulante psychologische Psychotherapeuten mit Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes (PsychThG) am 1. Januar 1999 hat sich die Versorgungssituation insbesondere im ambulanten Bereich weiter verschärft. Während für Patienten im Zeitraum von Juni 1997 bis März 1998 durchschnittlich 0,7 bzw. 1,8 Monate Wartezeit für ein Erstgespräch respektive einen Behandlungsplatz entstanden [4] fanden Zepf et al. [5] in einer repräsentativen Fragebogenerhebung an 1 042 Psychotherapeuten in Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen Wartezeiten von durchschnittlich 1,9 Monaten für ein diagnostisches Erstgespräch und 4,6 Monate für einen Behandlungsplatz. Wartezeiten für ein Erstgespräch bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten scheinen aktuell mit durchschnittlichen Werten von 3 Monaten weiter zu steigen [6]. Wartezeiten begünstigen die Fehlinanspruchnahme fachgerechter Behandlungsangebote und können damit den Krankheitsverlauf komplizieren [7]. Nicht selten führt die zeitintensive, langwierige und häufig frustrierende Suche nach einem ambulanten Behandlungsplatz dazu, dass Patienten vorzeitig aufgeben und trotz weiterhin bestehenden Behandlungsbedarfes auf eine Therapie verzichten. Darüber hinaus birgt die Unterversorgung mit niederschwelligen, ambulanten Therapieangeboten gravierende gesundheitsökonomische und gesamtwirtschaftliche Konsequenzen. Nichtbehandlung erhöht die Gefahr einer Exazerbation der Symptomatik und das Risiko einer Chronifizierung. Zudem sind die gesundheitswirtschaftlichen Folgen verspätet erkannter und behandelter psychischer Erkrankungen gravierend. Es zeigt sich ein kontinuierlicher Anstieg des Anteils der Arbeitsunfähigkeits-Tage durch psychische Erkrankungen seit Einführung des ICD-10 im Jahr 2000 [8] mit einer durchschnittlichen Dauer der Arbeitsunfähigkeit pro Fall von 39,2 Tagen, wobei psychische und Verhaltensstörungen erstmalig in die Gruppe der 3 häufigsten Krankschreibungsgründe fielen [9]. Auch als Ursache für Frühberentungen gewinnen psychische und Verhaltensstörungen an Einfluss; waren im Jahr 2000 noch 24,2 % aller Frühberentungen auf psychische Erkrankungen zurückzuführen, so stieg

der Anteil dieser Diagnosegruppe bis 2011 auf 41,4 %, was einem Zuwachs der Fallzahlen von über 40 % entspricht [10]. Der zu vermerkende Rückstau der auf einen ambulanten Behandlungsplatz wartenden Betroffenen trifft die kostenintensiven stationären und teilstationären Versorgungssettings. Nach dem Krankenhausreport der BARMER GEK für das Jahr 2011 [11] stieg die Zahl der Menschen, die wegen psychischer Erkrankungen stationär im Krankenhaus behandelt werden, zwischen 1990 und 2010 um 129 %. Dabei erhalten 70 % dieser Patienten im Anschluss an die stationäre Behandlung die Empfehlung, die Behandlung im ambulanten Rahmen weiterzuführen. Durch die erheblichen Wartezeiten auf einen ambulanten Therapieplatz kommt es jedoch häufig zu einem Bruch im therapeutischen Prozess, der Rückfälle begünstigen kann. So stellt der Krankenhausreport 2 Jahre nach einer Entlassung aus dem stationär psychiatrischen Bereich eine Rehospitalisierungsrate von 30 % fest. Dieser Befund könnte zum Teil durch die Tendenz hin zu kürzeren stationären Aufenthalten erklärt werden. So sank die mittlere Behandlungsdauer in psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachkliniken und Abteilungen in der Bundesrepublik Deutschland im Verlauf von 10 Jahren von 40,7 Tagen im Jahr 1994 auf 24,7 Tage im Jahr 2004 [12] und setzte damit den auch interdisziplinär zu beobachtenden Trend der letzten Jahre fort [13]. Für die psychosomatische Fachdisziplin ist von etwas längeren Verweildauern von durchschnittlich 9 Wochen im stationären und 10 Wochen im teilstationären Behandlungssetting auszugehen [14]. Aufgrund einer erhöhten Wiederaufnahmerate mit weitgehend unveränderten kumulierten Verweildauern ergibt sich jedoch keine Kostenersparnis aufseiten der Krankenkassen [15]. Darüber hinaus ist die Tendenz zu kürzeren stationären Behandlungen immer vor dem Hintergrund der unverändert erschwerten ambulanten Anschlussversorgung nach Entlassung aus ­einem intensivtherapeutischen Setting zu betrachten. Als Gegenentwurf wird gegenwärtig eine räumliche, zeitliche und personelle Kondensierung der therapeutischen Angebote diskutiert. Modellprojekte zu regionalen Psychiatriebudgets und die verstärkte Etablierung psychiatrischer Institutsambulanzen, welche die Weiterversorgung von Patienten nach Abschluss der stationären Behandlung gewährleisten sollen, stellen Versuche dar, die Kontinuität im Behandlungsverlauf bei größtmöglicher Effizienz zu erhalten. Die zeitliche Straffung der ambulanten Behandlung durch die Konzeption von Kurzinterventionen mit dem Ziel, eine effektive Behandlung auch jenseits der ambulant üblichen Zeitkontingente zu sichern, sowie die Zusammenfassung der Betroffenen in therapeutischen Gruppen sind Ansätze, welche in der multimodalen Sektor übergreifenden Versorgung mehr und mehr Verbreitung finden.

Versorgungssituation bei Essstörungen



Die Versorgungssituation bei Essstörungen ist trotz der vergleichsweise niedrigen Lebenszeit-Prävalenzraten (aktuelle Schätzungen aus verschiedenen europäischen Ländern [16]: Anorexia nervosa: 0,48 %, Bulimia nervosa 0,51 %, Binge-EatingStörung 1,12 %) von hoher gesundheitsökonomischer Relevanz, da die dazugehörigen Erkrankungsbilder mit hohen gesundheitlichen Risiken und, insbesondere bei der Anorexia nervosa, mit erhöhter Mortalität einhergehen [17, 18]. Körperliche Risiken bei Patientinnen mit Anorexia nervosa entstehen insbesondere durch das starke Untergewicht und assoziierte gestörte Essgewohnheiten. Patientinnen mit Bulimia nervosa sind unter ande-

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rem durch das Risiko für Elektrolytstörungen somatisch gefährdet, während bei PatientInnen mit Binge-Eating-Störung durch das häufig komorbide Übergewicht sekundäre medizinische Komplikationen eintreten können [17]. Neben den somatischen Risiken tragen die komplexen Psychopathologien der 3 Störungsbilder und die relativ häufigen Wechsel zwischen den einzelnen Essstörungen zu der oft hohen Chronizität dieser Erkrankungen bei [17]. Die Versorgungssituation bei Essstörungen war in den vergangenen 3 Jahrzehnten maßgeblichen methodischen und strukturellen Wandlungen unterworfen. In ihren „Empfehlungen zur integrierten Versorgung von Essstörungen“ [30] hebt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) die Notwendigkeit einer Vernetzung der Versorgungsbereiche Prävention und Gesundheitsförderung, Beratung, Diagnostik, Behandlung und Nachsorge für eine vollumfassende Versorgung von Betroffenen mit Essstörungen hervor, welche diesen in jedem Stadium der Erkrankung Unterstützungskonzepte bietet. Die Behandlungsempfehlungen orientieren sich dabei an der evidenzbasierten S3-Leitlinie für die Diagnostik und Behandlung der Essstörungen [1]. Laut Zwischenbericht zu der 2008 von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf initiierten Studie zur Versorgungssituation von Essstörungen in der Bundesrepublik Deutschland [19], in der 13 000 psychotherapeutische Einrichtungen befragt wurden, existieren bundesweit derzeit ca. 4 500 spezifische therapeutische Angebote für Betroffene mit Essstörungen. Dabei stellt sich ein breites Spektrum von präventiven und interventiven Angeboten dar, welche sich größtenteils aus Beratungsstellen, daneben auch aus klinischen Einrichtungen und psychotherapeutischen Praxen rekrutieren. Knapp drei Viertel der Maßnahmen (71,2 %) wird ambulant durchgeführt. Zudem bietet die Mehrzahl der angefragten Institutionen mehrere Versorgungsstufen, beginnend bei präventiven Maßnahmen über Telefon- bzw. Internetberatung und persönlicher ­Beratung bis hin zu intensiveren und längerfristigen Behandlungen, an [20].

Therapeutische Herausforderungen



Die Wirksamkeit evidenzbasierter Therapieverfahren in der Behandlung von Anorexia nervosa und Bulimia nervosa ist relativ gut fundiert [17], doch erweist sich die langfristige Stabilisierung von unter Essstörungen leidenden Betroffenen nach wie vor als schwierig. In der Versorgungsrealität der Anorexia nervosa vergehen nach erstmaligem Auftreten der Symptomatik durchschnittlich 1,7 Jahre [21], bis eine fachgerechte Behandlung eingeleitet wird. Ähnliche empirische Angaben für die ­anderen Essstörungen fehlen bislang. Auch nach Eintritt in das Versorgungssystem ist die Behandlungshistorie bei vielen Patienten mit Essstörungen fragmentiert und von wiederholten Behandlungsabbrüchen und Rehospitalisierungen geprägt [22]. Rückfälle nach abgeschlossener Therapie mit Quoten zwischen 22 % und 51 % stellen eine häufige Komplikation in der Behandlung von Patienten mit Essstörungen dar [23–25]. Dabei erweist sich besonders der Zeitraum der ersten 6–7 Monate nach Abschluss der Behandlung als kritisch [26]. Auch unter langzeitprognostischem Aspekt zeigt sich die besondere Problematik in der Therapie von Essstörungen. So fanden Zipfel et al. [18], dass 21 Jahre nach der ersten stationären Aufnahme 10,4 % der untersuchten Patienten mit der Diag-

nose einer Anorexia nervosa noch immer die diagnostischen Kriterien erfüllten und 15,6 % im Erhebungszeitraum verstarben. Mit einer standardisierten Mortalitätsrate von 9,8 ist Anorexia nervosa daher nach wie vor diejenige psychische Störung mit der höchsten Sterblichkeit [27]. Rückfallraten zwischen 26 % und 43 % [24] für die Bulimia nervosa und 33 % für die Binge-Eating-Störung [28] sowie ein gleichbleibend hoher Bedarf an psychotherapeutischer Unterstützung zeigen ebenfalls eine große gesundheitswirtschaftliche Relevanz bei den anderen Essstörungen. Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang, dass es in den Behandlungsverläufen von Essstörungen nahezu regelhaft zu Unterbrechungen kommt. Neben störungsimmanenten motivationalen und Persönlichkeitsfaktoren wie etwa einer geringeren Selbststeuerungsfähigkeit, die die bei Essstörungen häufigen vorzeitigen Behandlungsabbrüche und wiederkehrenden Rehospitalisierungen mitbedingen [29], zeigt sich als entscheidend, dass gestufte therapeutische Maßnahmen zeitlich häufig nicht unmittelbar aneinander anschließen und sich Wartezeiten durch fehlende Kapazitäten und Verzögerungen sowohl innerhalb einzelner Versorgungszweige als auch zwischen den Versorgungssettings ergeben [30]. Konzepte der integrierten Versorgung gemäß §§140 a-d SGB V, welche durch eine stärkere Verschränkung der ambulanten und stationären Sektoren und die Förderung der ­interdisziplinären Zusammenarbeit Behandlungsabläufe optimieren und auf diesem Wege zu einer Verbesserung der Wirtschaftlichkeit und einer Sicherung der Versorgungsqualität beitragen wollen, setzen seit ca. 1975 an dieser ­Stelle an und haben sich an mehreren Standorten im Bundesgebiet etablieren können. Für den Bereich der Essstörungen erwähnenswert sind z. B. das Netzwerk Essstörungen Ostalbkreis [31, 32], das Therapienetz Essstörungen München [33, 34] sowie das Forum für Essstörungen Wiesbaden [35]. Integrierte Versorgungsangebote sind ­Gegenentwürfe zu der herkömmlichen sektorisierten Versorgungspraxis, in der für Patienten der Zugang zum oder die Bindung an das Versorgungssystem erschwert sein kann [36]. Besonders hervorzuheben ist die Wichtigkeit der therapeutischen Kontinuität. Es ist sicherzustellen, dass die Betroffenen in kritischen Phasen der Genesung individuell angepasste Behandlungsangebote durchlaufen, um eine größtmögliche Effizienz der Behandlung und optimale Ausschöpfung der gesundheitsökonomischen Ressourcen zu gewährleisten. Besonders relevant scheint dies unter Berücksichtigung der nicht selten erheblichen organischen Folgezustände und internistischen Komplikationen, welche bei Essstörungen entweder als Folge der Nahrungsrestriktion oder der zur Gewichtsregulation eingesetzten Manipulationen auftreten [37]. Die gesundheitsökonomische Effizienz der Behandlung wird maßgeblich gemindert, wenn personelle und zeitliche Ressourcen in die Behandlung von Betroffenen investiert werden, welche die Behandlung nicht planmäßig beenden und die vorgezeichneten Behandlungsstufen nicht strukturiert durchlaufen. So stellten Waller et al. [36] in einer Untersuchung an 2 auf die Behandlung von Essstörungen spezialisierten Londoner Therapiezentren fest, dass 43 % der Patienten in ambulanter Behandlung sowie 38 % der Patienten in stationärer oder teilstationärer Therapie das Curriculum nicht wie vorgesehen abschlossen, wobei die Gründe für das vorzeitige Ende der Behandlung vorrangig in systemimmanenten Faktoren gesehen wurden, z. B. fehlende Basisdaten für Patienten übermittelt, Zuweisung aufgrund fehlender Berechtigung des Überweisenden unzulässig und invalide Diagnosen. Bei jeweils 13 % der Probanden konnte eine unzureichende aktive Mitarbeit im Rahmen der Therapie festgestellt werden.

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Kurzzeittherapeutische Konzepte



Einen denkbaren Kompromiss zwischen einer möglichst intensiven und nachhaltigen Therapie, einer langfristigen Einbettung der Betroffenen in leitliniengerechte Versorgungsstrukturen und dem durch die gesundheitspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre gebotenen Pragmatismus könnten kurzinterventive psychotherapeutische Konzepte bieten. Ambulante psychotherapeutische Kurzinterventionen konnten sich in den vergangenen Jahrzehnten in der Versorgungslandschaft psychiatrischer und psychosomatischer Erkrankungen bereits in einigen Bereichen etablieren. So ist etwa die Wirksamkeit psychotherapeutischer Kurzinterventionen in der Behandlung von Alkoholabhängigkeit [38–41] und Angststörungen [42–45] empirisch gut fundiert. Bisherige Behandlungsmodelle von Kurzinterventionen variieren in Konzeption, zeitlichem Rahmen und Behandlungssetting. Als Kurzinterventionen lassen sich alle therapeutischen oder präventiven Konsultationen von kurzer Dauer fassen, welche von Angehörigen eines Gesundheitsberufes angeboten und durchgeführt werden [46, 47]. Heather [48] charakterisiert Kurzinterventionen als therapeutische Maßnahmen, welche weniger Expertenzeit beanspruchen als vergleichbare Behandlungsansätze, häufig verstärkt Stellen der Primärversorgung und Nicht-Fachpersonal einbinden und üblicherweise die Erreichung größerer Patientenpopulationen anstreben als konventionelle Behandlungsangebote. Diese Definition wird nicht selten um den spezifischen inhaltlich-therapeutischen Fokus erweitert, welchen Miller und Sanchez [49] mit dem englischen Akronym FRAMES zusammenfassen. Demnach beinhalten Kurzinterventionen häufig individualisierte und persönliche Rückmeldung zu dem Problemverhalten, seinen Konsequenzen für das Individuum und seinen Effekten auf dessen Umfeld (Feedback), die Betonung der persönlichen Verantwortung des Patienten für das Erreichen von Veränderungen (Responsibility), Ratschläge über die Möglichkeiten, mit denen Veränderungen erreicht werden können (Advice), das Anbieten von Optionen für Veränderungen (Menu of options), den Ausdruck von Empathie durch Gesten, die Fürsorge, Verständnis und zwischenmenschliche Wärme ausstrahlen (Empathy) sowie die Betonung der Selbstwirksamkeit des Patienten und die Vermittlung von Hoffnung, dass Veränderung nicht nur möglich, sondern konkret greifbar ist (Self-efficacy). Im therapeutischen Sprachgebrauch werden in der Regel ­psychotherapeutische Angebote mit einer zeitlich begrenzten Dauer zwischen einer Sitzung und mehreren Terminen [50] als Kurzinterventionen bezeichnet, wenn diese ambulant in psychotherapeutischen Praxen, Tageskliniken oder stationären Behandlungseinrichtungen mit dem Ziel der Motivationsförderung, Psychoedukation, Stärkung der Therapieadhärenz sowie zur Vorbereitung weiterer Behandlungsschritte durchgeführt werden. Die Dauer einer Sitzung ist dabei nicht übereinstimmend festgelegt, Angaben variieren zwischen 5 und 90 min. Die theoretische und konzeptionelle Basis der Programme ist vielfältig und nicht selten eklektisch, sodass sich neben klassisch kognitiv-verhaltenstherapeutischen Inhalten auch Elemente finden, die, wie etwa das Konzept des Motivational Interviewing [51], der Beratungspraxis entlehnt sind und der Motivationssteigerung und -stabilisierung dienen. Auffallend ist, dass die große Mehrzahl der exzerpierten Untersuchungen im Gruppensetting angesiedelt ist. Neben der klassischen Einzeltherapie gewinnen besonders im stationären und teilstationären Bereich psychotherapeutische Interventionen im

Gruppensetting zunehmend an Bedeutung. Allgemein deuten Befunde zu verschiedenen Störungsbildern darauf hin, dass die Effektivität gruppentherapeutischer Angebote mit der Wirksamkeit individualtherapeutischer Ansätze vergleichbar ist [52–54]. Die Durchführung der Behandlung im Gruppensetting ermöglicht nicht nur die optimale Ausnutzung personeller und räumlicher Ressourcen, sondern eröffnet durch den interaktiven Charakter der Intervention auch therapeutisch Möglichkeiten, die über diejenigen eine klassische Einzeltherapie hinausreichen. Gegenüber einzeltherapeutischen Interventionen bieten psychotherapeutische Gruppen Möglichkeiten zum Austausch von Erfahrungen mit der Erkrankung, zur Einübung sozialer ­Fertigkeiten und alternativer Verhaltensweisen sowie der Motivationsförderung durch soziale Vergleiche. Als zentrale Wirkfaktoren gelten dabei die Möglichkeit zur Selbsterforschung und erkenntnis, das Erfahren einer Katharsis, die Gelegenheit zu ­interpersonellen Lernerfahrungen [55] sowie das Erleben des Zusammenhaltes innerhalb der Gruppe [56]. Diese interaktionellen und praktisch-ökonomischen Vorteile können auch für gruppentherapeutische Kurzinterventionen angenommen werden.

Was sind psychotherapeutische Kurzinterventionen? ▶ Therapeutische oder präventiven Konsultationen von begrenzter Dauer ▶ Beanspruchen weniger Expertenzeit als herkömmliche intensivtherapeutische Angebote ▶ Können in psychotherapeutischen Praxen, Tageskliniken oder stationären Behandlungseinrichtungen durchgeführt werden ▶ Durchführung durch Angehörige von Gesundheitsberufen ▶ Einzel- oder Gruppensetting möglich ▶ Mögliche Zielsetzungen: Motivationsförderung, Psychoedukation, Stärkung der Therapieadhärenz und Vorbereitung weiterer Behandlungsschritte

Psychotherapeutische Kurzinterventionen bei Bulimia nervosa

Die Stärkung der Veränderungsmotivation zeigte sich in verschiedenen Untersuchungen [57, 58] neben Faktoren wie einer kürzere Dauer der Essstörungssymptomatik [59] oder einer geringeren Impulsivität [60] als wesentlicher Prädiktor für den Behandlungsverlauf bei Essstörungen und eine langfristige Therapieadhärenz. In der Behandlung der Bulimia nervosa haben sich Therapieprogramme mit Fokus auf der Veränderungsmotivation innerhalb der letzten 30 Jahre zunehmend etablieren können. Die fortbestehende Nachfrage nach Behandlungsangeboten sowie die Notwendigkeit, Behandlungskonzepte wohnortnah und unter Berücksichtigung der begrenzten personellen und wirtschaftlichen Ressourcen vorzuhalten [61], haben maßgeblich zur Entwicklung gruppentherapeutischer Konzepte sowie kurzinterventiver Ansätze beigetragen. So beschreibt Lacey [61] eine 10-wöchige Gruppenkurzintervention für Patientinnen mit der Diagnose Bulimia nervosa. Die Intervention umfasste 10 90-minütige Gruppensitzungen, welche von einem Team aus 2 Therapeuten durchgeführt wurden. Zusätzlich zu den Gruppensitzungen erhielten die Patientinnen wöchentlich eine halbstündige Einzelsitzung, die sowohl beratende als auch einsichtsorientierte Anteile enthielt, während die Gruppensitzungen einen psychodynamischen Fokus besaßen. Der Autor wies einen signifikanten Effekt des Behandlungsprogrammes auf die Auftretenshäufigkeit von bulimischen Attacken und psychogenem Erbrechen nach; 93 % der behandel-

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ten Patienten stellten das bulimische Essverhalten im Rahmen der Behandlung ein, 20 der 30 Studienteilnehmerinnen berichteten am Ende des 2-jährigen Katamnesezeitraumes keine weiteren Essanfälle, bei weiteren 8 Patientinnen sank die Häufigkeit bulimischer Essanfälle von 47 berichteten Essattacken innerhalb von 14 Tagen vor Behandlungsbeginn auf durchschnittlich 3 Episoden pro Jahr. 2 Patientinnen nahmen aufgrund mangelnder Bereitschaft bzw. aufgrund akuter stationärer Behandlungsbedürftigkeit nicht am Follow-up teil. Als wesentliche Wirkfaktoren des Programmes stellt der Autor die Verantwortungsübertragung an die Patientinnen über den Behandlungsvertrag sowie die Pflege der Eigenmotivation der Teilnehmerinnen heraus. Das Führen des Ernährungstagebuches wird dabei als Instrument beschrieben, welches den Patientinnen zwischen den Sitzungen Kontrolle vermittelte und ein stets verfügbares Ventil für mit dem bulimischen Essverhalten assoziierte Empfindungen und Emotionen bot. Connors et al. [62] entwickelten ein weiteres kurzes Gruppenprogramm für die Behandlung von Bulimia nervosa mit Fokus auf psychoedukativen und kognitiv-verhaltenstherapeutischen Interventionen. Das Behandlungsziel des strukturierten Gruppenkonzeptes bestand in der Unterbrechung der bulimischen Symptome, wobei Elemente wie Wissensvermittlung, Selbstüberwachung, das Setzen von Zielen, Selbstbehauptungs- und Entspannungstraining sowie kognitive Umstrukturierung eingesetzt wurden. Das Programm umfasste 12 zweistündige Gruppentermine, welche unter Anleitung zweier der Autoren stattfanden. Zum Zeitpunkt des Follow-ups wiesen 85 % der 20 untersuchten Bulimiepatientinnen eine gegenüber der Baseline verminderte Zahl von Binge-/Purge-Episoden auf; dabei waren 15 % der Patientinnen symptomfrei, 40 % der symptomgeminderten Teilnehmerinnen berichteten einen Rückgang der Frequenz der Essanfälle um mehr als 50 %. Darüber hinaus berichten die Autoren signifikante Verbesserungen im Bereich des psychosozialen Befindens, besonders der assoziierten Faktoren Selbstwert, Depression, Durchsetzungsvermögen und Einstellungen gegenüber dem Essen. Als besonders effektive Elemente heben die Autoren die Selbstbeobachtungs- und Zielsetzungsanteile des Programmes heraus. Ebenso wie Lacey [61] schreiben auch Conors et al. [62] dem Zusammenhalt der Gruppe sowie den positiven Interaktionen der Teilnehmerinnen untereinander eine zentrale Rolle für den Erfolg des Behandlungsprogrammes zu. Befunde aus einer Untersuchung von Olmsted et al. [63] weisen darauf hin, dass eine kurze psychoedukative Gruppenintervention für Patienten mit einer geringeren Schwere der Symptomatik ähnlich effektiv ist wie eine intensivere und extensivere kognitiv-verhaltenstherapeutische Einzelbehandlung. In einer Studie an 65 normalgewichtigen PatientInnen mit Bulimia nervosa konnten die Autoren nachweisen, dass sich eine kognitive Verhaltenstherapie im Einzelsetting im Umfang von 19 einstündigen Sitzungen über 18 Wochen gegenüber einer psychoedukativen Gruppenintervention über fünf 90-minütige Sitzungen hinsichtlich der Reduktion des selbstinduzierten Erbrechens lediglich bei denjenigen PatientInnen als überlegen erwies, welche zu Beginn der Untersuchung angegeben hatten, sich mehr als 47 Mal im Monat zu erbrechen (32 %). Bei den verbleibenden 68 % der Probandinnen, welche vor Beginn der Studie eine geringere Ausprägung der Binge-/Purge-Symptomatik angegeben hatten, führten beide Verfahren gleichermaßen zu einem Rückgang des selbstinduzierten Erbrechens. Eine Überlegenheit eines der beiden betrachteten Verfahrens habe nach Einschätzung der ­Autoren nicht konstatiert werden können, wenngleich der ­kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansatz nach Abschluss der

Behandlung im Durchschnitt mit einer geringeren Frequenz selbstinduzierten Erbrechens assoziiert sei als eine rein psychoedukative Behandlung. Die positiven Befunde zugunsten eines psychoedukativen Kurzprogrammes führen Olmsted et al. [63] darauf zurück, dass das eingesetzte Konzept mit Einheiten zur Planung von Mahlzeiten, zur Stimuluskontrolle, Exposition, der Vermeidung von Rückversicherungsverhalten und der kognitiven Umstrukturierung eine Vielzahl von kognitiv-verhaltenstherapeutischen Wirkelementen aufwies. Nach Olmsted et al. bergen die Studienergebnisse besonders vor dem Hintergrund einer effizienten Triage in einem Versorgungsfeld, in dem die Patientennachfrage die Behandlungsressourcen zumeist übersteige, relevante Konsequenzen für die Behandlungsplanung. Demnach könne ein psychoedukatives Kurzprogramm für die Mehrheit der PatientInnen zum Verfahren der Wahl werden, während eine kognitive Verhaltenstherapie PatientInnen mit einer stärker ausgeprägten Symptomatik vorbehalten bliebe, für die sich das Verfahren als differenziell wirksam erwiesen hat. Für die Effi­ zienz des Verfahrens sprechen nach Olmsted und Kollegen dabei auch gesundheitsökonomische Erwägungen, nach denen die psychoedukative Intervention zu einer Symptomminderung von 25 % pro Therapiestunde respektive einer Symptomreduktion von 5 % in der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Interven­ tionsgruppe führte. Auffallend war, dass in Bezug auf psychotherapeutische Kurzinterventionen in der Behandlung von Bulimia nervosa eher ältere Studien zu finden waren. Studien zu spezifischen psychotherapeutischen Interventionen für das Krankheitsbild existieren zwar und werden etwa in der aktuellen S3-Leitlinie für die Diag­ nostik und Therapie der Essstörungen [1] genannt, doch umfassen die Interventionen in der Regel mehr als 16 Sitzungen und werden in den Arbeiten nicht explizit als psychotherapeutische Kurzinterventionen klassifiziert und besprochen.

Psychotherapeutische Kurzinterventionen bei BingeEating-Störung

Die Befundlage zu ambulanten Kurzinterventionen in der Behandlung von Patienten mit einer Binge-Eating-Störung ist im Vergleich zu Bulimia nervosa deutlich schmaler. Jedoch weisen auch hier erste Untersuchungen darauf hin, dass ambulante psychotherapeutische Kurzinterventionen in diesem Störungsfeld sinnvoll angewandt werden können. Besonders der kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansatz hat sich in der Behandlung von Patienten mit Binge-Eating-Störung als effektiv erwiesen [64]. Ashton et al. [65] setzten erfolgreich eine kognitiv-verhaltenstherapeutische Kurzintervention in der Behandlung adipöser Patienten mit Binge-Eating-Symptomatik vor einem bariatrischen ­Eingriff ein. 243 Patienten absolvierten präoperativ ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Gruppenprogramm im Umfang von 4 Sitzungen à 90 min, welches unter anderem Behandlungselemente wie Selbstbeobachtung, Stimuluskontrolle, kognitive Umstrukturierung, Entspannungstraining sowie das Training sozialer Fertigkeiten beinhaltete. Patienten, die das Programm durchliefen, berichteten eine Abnahme der Essanfälle, eine Verbesserung hinsichtlich der mit dem gestörten Essverhalten zusammenhängenden Kognitionen sowie eine höhere Zufriedenheit.

Psychotherapeutische Kurzinterventionen bei Anorexia nervosa

Trotz einzelner Befunde zum Einsatz unspezifischer kurzzeittherapeutischer Einzelinterventionen [66, 67] ist die nationale wie internationale Befundlage zum Einsatz spezifischer kurzin-

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Kurzinterventionen zur Förderung der Therapiemotivation in der Behandlung verschiedener Essstörungspathologien

Unter dem Aspekt der bei Essstörungen häufig instabilen Therapieadhärenz und Compliance sollen an dieser Stelle auch kurzinterventive Konzepte Erwähnung finden, welche spezifisch auf den Aspekt der Ambivalenz der Betroffenen sowie der Förderung einer stabilen motivationalen Basis ausgerichtet sind und sich in der Behandlung verschiedener Essstörungen als wirksam erwiesen haben. Die Effektivität motivierender Kurzinterventionen nach den Prinzipien des Motivational Interviewing (MI) [51] bzw. der Motivational Enhancement Therapy [68] in der Behandlung von Essstörungspathologien ist dokumentiert. In einer randomisierten kontrollierten klinischen Studie verglichen Geller et al. [66] die Wirksamkeit einer motivierenden Kurzintervention mit einer Wartelisten-Kontrollbedingung. Von den 113 Teilnehmern, die an einer Essstörung litten und aus einem kanadischen Behandlungsprogramm für Essstörungen im tertiären Sektor rekrutiert wurden, wurden 57 dem Interventionsprogramm, welches auf der Readiness and Motivation Therapy (RMT) basierte, und 56 der Kontrollbedingung zugewiesen. 6 Wochen und 3 Monate nach Beendigung der Therapie erfolgten Follow-up-Erhebungen. Die Intervention nach dem Konzept des MI bestand aus 5 wöchentlichen Einzelsitzungen von einer Stunde Dauer, welche neben der Vermittlung von Informationen zu Art und Zielsetzung der Intervention, einem klinischen Feedback und Informationen zur Funktionalität von Essstörungen auch die Erarbeitung persönlicher Werte und die Planung weiterer Schritte nach Abschluss der Behandlung beinhalteten. Die Follow-up-Erhebungen zum 6-Wochen- und 3-Monatszeitpunkt ergaben für RMT- und Kontrollgruppe gleichermaßen Hinweise auf eine Verbesserung hinsichtlich depressiver Symptome, Schlankheitsdrang sowie bulimischer Krankheitszeichen. Intergruppenunterschiede und Gruppe-Zeit-Interaktionen ließen sich nicht nachweisen. Personen, die an der RMT teilnahmen, wiesen jedoch ein geringeres Ausmaß an Ambivalenz in Bezug auf Veränderungen auf als Teilnehmer in der Kontrollbedingung. Aufgrund des letztgenannten Befundes empfehlen die Autoren das Verfahren insbesondere für Patientenpopulationen, die ein erhöhtes Risiko für den Abbruch stationärer Behandlungsmaßnahmen aufweisen.

Behandlungselemente bisheriger KurzinterventionsAngebote bei Essstörungen auf einen Blick ▶ Mehrheitlich Durchführung im Gruppensetting ▶ Zeitliche Begrenzung, häufig 4–12 Termine von jeweils ca. 60 bis 90 min Dauer ▶ Häufig psychoedukative Anteile ▶ Mehrheitlich kognitiv-verhaltenstherapeutische Schwerpunktsetzung ▶ Alle rezipierten Programme führten zu positiven Einstellungs- und Verhaltensänderungen

– Für die Effektivität kurztherapeutischer Ansätze in der psychotherapeutischen Versorgung von Essstörungen gibt es bisher nur wenige Belege. – Gegenwärtig existieren keine systematischen Wirknachweise für kurzinterventive Therapieansätze bei Anorexia nervosa.

Weiterer Forschungsbedarf



Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Mehrheit der rezipierten Kurzinterventionen bei Essstörungen folgende Behandlungselemente umfasst: Gruppensetting, zeitliche Begrenzung, häufig 4–12 Termine jeweils à 60–90 min, psychoedukative Anteile sowie eine eher kognitiv-verhaltenstherapeutische Schwerpunktsetzung. Die betrachteten Programme führten sämtlich zu positiven Einstellungs- und Verhaltensänderungen. Einschränkend sei dabei zu erwähnen, dass sich die zitierten Studien mehrheitlich relativ kleiner Stichproben bedienten, innerhalb derer sich trotz allgemein positiver Tendenzen eine interindividuelle Variabilität hinsichtlich des Ansprechens auf die Interventionen zeigte [62]. Somit sind weitere Studien mit größeren Stichproben dringend erforderlich, die die Wirksamkeit der Interventionen bei den verschiedenen Essstörungen untersuchen sollten. Die große Mehrheit von Studien zum Einsatz psychotherapeutischer Kurzinterventionen in der Behandlung von Essstörungen wurde im Ausland durchgeführt; aus dem deutschen Sprachraum scheinen bislang keine Befunde zu essstörungsspezifischen Kurzinterventionen vorzuliegen. Ein möglicher Grund für den noch zurückhaltenden Einsatz kurzer psychotherapeutischer Maßnahmen in Deutschland – speziell im nicht-psychiatrischen bzw. psychosomatischen Bereich – könnte sein, dass es für einen Großteil der Primärversorger angesichts der ohnehin hohen Auslastung und alltäglichen Herausforderungen an das Praxismanagement wenig realistisch erscheint, ein weiteres Betätigungsfeld zu eröffnen. Auch die häufige Schwere der psychologischen und somatischen Symptomatik von Essstörungen könnte dazu beitragen, dass Behandler und Forscher langzeittherapeutischen Ansätzen gegenüber Kurzinterventionen den Vorzug zu geben. Des Weiteren verhindert sicherlich die vergleichsweise geringe Datenlage zur Wirksamkeit von Kurzinterventionen die bisherige Umsetzung in der klinischen Praxis. Erst wenn adäquate empirische Belege vorliegen, könnten Kurzinterventionen ggf. in die Leitlinienempfehlungen mit einbezogen werden. Hier stellt sich perspektivisch für Deutschland ein besonderer Forschungsbedarf dar, da die internationale Vergleichbarkeit der Befunde aufgrund unterschiedlicher Gesundheitssysteme gering ist. Aufgrund des Fehlens von Befunden zum Einsatz psychotherapeutischer Kurzinterventionen in der Behandlung von Anorexia nervosa ergibt sich hier ein besonderer Forschungsbedarf. Eine systematische Prüfung des Potenzials derartiger Kurzzeitansätze erscheint aufgrund der spezifischen psychopathologischen Problemstellungen und der hierdurch begründeten besonderen Erfordernisse an die Versorgungsstrukturen sinnvoll und gewinnbringend. In zukünftigen Studiendesigns sollte insbesondere auf Randomisierung und Follow-up Erhebungen Wert gelegt werden, um generalisierbare Aussagen treffen zu können.

Rossi ME et al. Stellenwert von Kurzinterventionen in …  Psychother Psych Med 2015; 65: 51–57

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terventiver Programme in der Behandlung von Anorexia nervosa derzeit schmal. Für den ambulanten Sektor konnten mittels der definierten Suchkriterien keine einschlägigen Untersuchungen gefunden werden.

Übersicht 57 Fazit

Fazit für die Praxis

Die Versorgungslage psychischer Störungen in Deutschland weist derzeit einige Schwierigkeiten auf. Zwar sind alle fachgerechten Behandlungsangebote innerhalb der Versorgungskette von psychischen Störungen verfügbar und prinzipiell zugänglich, der wachsende Bedarf an psychotherapeutischer Behandlung führte jedoch in den vergangenen Jahren vermehrt zu Versorgungsengpässen. Dies gilt bei der Behandlung von Essstörungen insbesondere für die Aufnahme einer ambulanten Psychotherapie bzw. ambulanten Weiterbehandlung nach einem stationären Aufenthalt. An wichtigen Nahtstellen in der Versorgungskette von Essstörungen kommt es dadurch zu Verzögerungen in der Aufnahme einer leitliniengerechten Behandlung, sodass die Behandlungskontinuität unterbrochen wird. Es ist belegt, dass diese Nahtstellenproblematik erheblich zur Chronifizierung von Krankheitsverläufen beitragen kann. Ambulante Kurzinterventionen setzen zielführend an genau diesen Schnittstellen zwischen ambulanter, teilstationärer und stationärer Behandlung an und besitzen hier ein großes Potenzial. Sie ersetzen eine in- und extensivere Behandlung nicht, können jedoch einen wichtigen Beitrag zur effektiveren und effizienteren Versorgung von Betroffenen leisten, und die Regelversorgung sinnvoll und ökonomisch ergänzen. Sie können motivationsfördernd und -erhaltend wirken und beugen auf diese Weise eine Nicht- oder Fehlinanspruchnahme des Versorgungssystems durch die Betroffenen vor. Dies senkt wiederum die Wahrscheinlichkeit für eine Verschlechterung der Symptomatik bzw. einen Rückfall ins Essstörungsverhalten und senkt somit nachhaltig das Risiko eines chronifizierenden Verlaufes. Diese Effekte von ambulanten Kurzinterventionen werden darüber hinaus durch ein Gruppensetting kosten- und personaleffizient erzielt. Selbstverständlich greift der Einsatz ambulanter Kurzinterventionen dort zu kurz, wo Defizite in der Abstimmung zwischen den behandelnden Einrichtungen für Verzögerungen und Brüche im Behandlungsverlauf verantwortlich sind. Konzepte der integrierten Versorgung mit einer umfassenden Vernetzung zwischen den partizipierenden Instanzen stellen einen sinnvollen Versuch dar, Behandlungsschritte systemkompetent zu koordinieren und haben sich in der Behandlung von Essstörungen an verschiedenen Standorten in der Bundesrepublik Deutschland bereits etablieren können. Auf dieser Basis sollte die Schnittstellenkommunikation an Sektorübergängen weiter verbessert werden. Die bisher vorliegenden Programme bezüglich Essstörungen befassen sich ausschließlich mit Bulimia nervosa bzw. der BingeEating-Störung. Ambulante Kurzinterventionen, welche die Behandlung von Anorexia nervosa fokussieren, bedürfen deshalb weiterer Forschung und Evaluation, sodass sie sich mittelfristig in der regelhaften Versorgungskette von Essstörungen etablieren können.

Der Artikel bietet eine Empirie basierte Übersicht über den Stellenwert von Kurzinterventionen in der Versorgungskette von Essstörungen. Versorgungsengpässe bestehen insbesondere in der Aufnahme einer ambulanten Psychotherapie und Weiterbehandlung nach einem stationären Aufenthalt. Die Nahtstellenproblematik kann zur Chronifizierung von Krankheitsverläufen beitragen. Ambulante Kurzinterventionen ersetzen eine in- und extensivere Behandlung nicht, setzen jedoch genau an diesen Schnittstellen an und besitzen hier ein großes Potenzial. Da bisher insgesamt wenige Wirksamkeitsstudien mit größeren Stichproben vorliegen, ist weitere Forschung notwendig, insbesondere für die Anorexia nervosa.

Anmerkung



Die Arbeit entstand im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbundprojektes „psychenet – Hamburger Netz psychische Gesundheit“ (ISRCTN44979231; Teilprojekt 09: Gesundheitsnetz Magersucht und Bulimie; Projektleiter: Bernd Löwe).

Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Literatur



Die Literatur zu diesem Beitrag finden Sie unter http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1372570.

Rossi ME et al. Stellenwert von Kurzinterventionen in …  Psychother Psych Med 2015; 65: 51–57

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[Significance of brief interventions in the healthcare supply chain of eating disorders: a narrative review].

So far there is no comprehensive overview on brief outpatient interventions in eating disorders. The specific relevance of psychotherapeutic brief int...
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