Originalarbeit | Original article
2285
Sekundärdatenanalyse der Prävalenz der Alkoholabhängigkeit (F10.2) in Deutschland Secondary data analysis of the prevalence of alcohol dependence (F10.2) in Germany
Autoren
K. van der Linde1 J. Wasem1 G. Lux1
Institut
1 Lehrstuhl für Medizinmanagement, Fakultät Wirtschaftswissenschaften, Universität Duisburg-Essen
Hintergrund und Fragestellung: Der Alkoholkonsum und die Alkoholabhängigkeit weisen in Deutschland im europäischen Vergleich ein hohes Niveau auf. Regelmäßiger Alkoholkonsum kann sich – auch bereits in kleineren Mengen – in Form organischer Folgeschäden manifestieren und somit zu Folgeerkrankungen führen. Mit Blick auf die direkten und indirekten Kosten für das Gesundheitssystem besitzen diese eine wesentliche gesamtgesellschaftliche Relevanz. Nachdem sich bereits einige Publikationen mit der Prävalenz der akuten Alkoholintoxikation und dem Alkoholmissbrauch bei Jugendlichen befasst haben, stellt sich die Frage, wie sich diese auf Basis der Abrechnungsdaten ambulanter und stationärer Leistungserbringer in der Population der Erwachsenen ≥ 18 darstellt und welche Tendenz innerhalb eines mehrjährigen Zeitraums zu beobachten ist. In der vorliegenden Studie werden die Kodierungen der Alkoholabhängigkeit (F10.2-Diagnose) getrennt nach ambulantem und stationärem Sektor in der Versichertenpopulation ≥ 18 Jahre analysiert und im Zeitverlauf dargestellt. Patienten und Methoden: Die Studie analysiert die Prävalenzentwicklung der Alkoholabhängigkeit anhand der Sekundärdaten (Abrechnungsdaten) einer bundesweit tätigen gesetzlichen Krankenkasse in einem Modelldatensatz, der auf einer Zufallsstichprobe von mehr als 3 Mio. Versicherten im 5-Jahres-Zeitraum von 2006 bis 2010 beruht. Für die Prävalenzdarstellungen wurden Versichertenzahlen genutzt. Für die Identifikation der relevanten Versicherten wurden nur gesicherte ambulante bzw. stationäre F10.2-Diagnosen
verwendet. Der Datensatz wurde bzgl. der Altersund Geschlechtsverteilung an die Verteilung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) adjustiert, um eine entsprechende Repräsentativität zu gewährleisten. Die Analysen der einzelnen Jahre bezogen sich nur auf Versicherte im Alter von ≥ 18 Jahren. Mit Hilfe der Versichertenstatistik der GKV erfolgten für jedes Kalenderjahr Hochrechnungen der ermittelten Prävalenzwerte, um die Fallzahlen auf GKV-Ebene und deren Entwicklung im Zeitverlauf zu schätzen. Ergebnisse: Die Daten zeigen von 2006 bis 2010 die Tendenz leicht zunehmender Prävalenzen der Alkoholabhängigkeit. Für Versicherte mit mindestens einer ambulanten oder stationären F10.2-Diagnose stieg die Prävalenz von 1,04 % im Jahr 2006 bis auf 1,14 % im Jahr 2010 an. Für Versicherte mit einer gesicherten ambulanten F10.2-Diagnose lag die Prävalenz 2006 bei 0,67 % und 2010 bei 0,79 %. In allen Analysen zeigte sich eine Relation von 30 % betroffener Frauen zu 70 % betroffenen Männern. Von 2006 bis 2010 sank der Anteil von Versicherten mit Krankhausaufenthalten wegen einer Alkoholabhängigkeit kontinuierlich von 14,51 % auf 12,24 %. Folgerung: Für die betrachtete Versichertengruppe der ≥ 18-Jährigen zeigen die Analyseergebnisse eine Tendenz leicht steigender Prävalenzen der Alkoholabhängigkeit – allerdings bei gleichzeitig abnehmendem Anteil hospitalisierter Patienten. Vergleichbare bundesweite Studien auf der Basis von Sekundärdaten einer Krankenkasse unter Einbezug von ambulanten und stationären Diagnosen aus dem Jahr 2010 weisen ebenfalls Prävalenzen der Alkoholabhängigkeit von etwa 1,18 % auf, allerdings bezogen auf den Altersbereich der 15- bis 64-Jährigen.
Einleitung ▼ Die Therapie der Alkoholabhängigkeit und ihrer Folgeerkrankungen ist ein wesentlicher Kostenfaktor im Gesundheitswesen. Im Jahr 2010 gab es ■
in Deutschland etwa 1,3 Mio. Alkoholabhängige, darunter deutlich mehr Männer (etwa 930 000) als Frauen (370 000) [4].
Suchtmedizin Originalarbeit | Original article
Schlüsselwörter Adjustierung Alkoholabhängigkeit Prävention Prävalenz Trend
q q q q q
Keywords adjustment alcohol dependence prevalence prevention trend
q q q q q
eingereicht 20.01.2014 akzeptiert 05.06.2014 Bibliografie DOI 10.1055/s-0034-1387353 Dtsch Med Wochenschr 0 2014; 1390 0:2285–2289 · © Georg Thieme Verlag KG · Stuttgart · New York · ISSN 0012-04721439-4 13 Korrespondenz Kirsten van der Linde Schützenbahn 70 45127 Essen Tel. 0201/183-3532 Fax 0201/183-4073 eMail kirsten.vanderlinde@ medman.uni-due.de
Korrekturexemplar: Veröffentlichung (auch online), Vervielfältigung oder Weitergabe nicht erlaubt! ■
Heruntergeladen von: Rutgers University. Urheberrechtlich geschützt.
Zusammenfassung ▼
Originalarbeit | Original article
Neben den 1,3 Mio. als alkoholabhängig diagnostizierten, behandlungsbedürftigen Patienten betrieben weitere 2 Mio. Menschen schädlichen Alkoholmissbrauch und weitere 5 Mio. konsumierten in potenziell gesundheitsschädlichem Umfang Alkohol. Somit bestand im Jahr 2010 bei etwa 8,3 Mio. Menschen in Deutschland alkoholbedingter Beratungs- bzw. Behandlungsbedarf [9]. Alkoholische Getränke führen langfristig – in Abhängigkeit von Dauer und Menge des Konsums – zu Veränderungen aller Organsysteme. Somit ist Alkoholkonsum in vielen somatischen Fachdisziplinen ein Risikofaktor [6]. Die direkten Kosten des Alkoholkonsums wurden für 2007 auf etwa 8,4 Mrd. €, die indirekten Kosten auf etwa 16,7 Mrd. € geschätzt, wobei insgesamt nur wenige empirische Studien dazu existieren [1]. Die Behandlung alkoholabhängiger Erwachsener mit dem Ziel der Abstinenz erfolgt in Form eines (qualifizierten) Entzuges und einer anschließenden Entwöhnung in Deutschland vor allem stationär [2]. In Ergänzung dazu gibt es niedrigschwellige ambulante Angebote für Alkoholabhängige ohne entsprechende Compliance für einen Entzug und die folgende Entwöhnungstherapie, um zumindest eine Reduktion der Trinkmenge herbeizuführen [7, 8]. Die vorliegende Studie stellt die Prävalenzentwicklung der Alkoholabhängigkeit (in den Sekundärdaten mit der ICD-Diagnose F10.2 kodiert) in einem 5-Jahres-Zeitraum für einen repräsentativen Versichertenbestand von mehr als 3 Mio. Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) dar. Auf Basis der Fallzahlentwicklungen für die GKV soll die Bedeutung des Alkoholabusus bezogen auf die Gesamtgesellschaft dargestellt werden.
Patienten und Methoden ▼ Eine bundesweite Krankenkasse stellte für den 5-Jahres-Zeitraum von 2006 bis 2010 pseudonymisierte Daten zur Verfügung, deren Struktur den Daten für den Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleiches (Morbi-RSA) ähnlich ist. Genutzt wurden die Stammdaten der Versicherten und deren ärzteseitig als gesichert gekennzeichnete ambulante und stationäre Hauptund Nebendiagnosen. Der Datensatz wurde (unter Verwendung von geschlechtsspezifischen Altersklassen) auf die Alters- und Geschlechtsverteilung der GKV adjustiert, um eine bessere Übertragbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten. Dabei wurden die Fallzahlen für die jeweiligen Jahre unter Nutzung der jahresspezifischen KM6-Altersklassen auf die GKV hochgerechnet [3]. Alkoholabhängige Versicherte wurden über gesicherte ambulante Diagnosen und stationäre Haupt- und Nebendiagnosen der F10.2-Diagnose „Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol (Abhängigkeitssyndrom)“ identifiziert. Weitere ICDs zur Identifikation von Alkoholabhängigkeit sowie alkohol-attributable Fraktionen wurden in den Analysen nicht berücksichtigt. Auch Verdachtsdiagnosen, Diagnosen im symptomlosen Zustand, Ausschlussdiagnosen oder sonstige Diagnosen aus dem ambulanten Bereich wurden nicht berücksichtigt. Für die durchgeführten Prävalenzanalysen wurde die Versichertenpopulation jeweils unterschiedlich abgegrenzt. Die Adjustierung der Daten an die Alters- und Geschlechtsstruktur der GKV erfolgte auf der Basis des Jahres 2008 (mittleres Jahr des Gesamtbeobachtungszeitraumes). Der adjustierte Mo-
delldatensatz wies für 2008 eine Gesamtpopulation von 3,13 Mio. Versicherten auf und repräsentierte somit etwa 4,5 % der gesamten GKV-Population dieses Jahres. Alle folgenden Analyseergebnisse gelten somit für eine mit der GKV vergleichbare Altersund Geschlechtsstruktur. Die Hochrechnung der Modellergebnisse auf GKV-Ebene zur Abschätzung der Gesamtfallzahlen in den jeweiligen Jahren erfolgte nur für Versicherte mit einem Alter von ≥ 18 Jahren im jeweiligen Analysejahr. Die Prävalenzraten beziehen sich somit jeweils nur auf die Subpopulation der über 17-Jährigen. Die Analysen erfolgten mit der Statistiksoftware SPSS Version 19 und teilweise in MS-Excel 2010.
Ergebnisse ▼ Prävalenzentwicklungen von 2006 bis 2010 In einer ersten Analyse wurden die Prävalenzen von Versicherten mit mindestens einer ICD F10.2-Diagnose im ambulanten Sektor als gesicherte Diagnose und/oder im stationären Sektor als Haupt- oder Nebendiagnose von 2006 bis 2010 getrennt nach Geschlecht (nw, nm) (q Tab. 1) sowie die geschätzten GKVVersichertenzahlen (Nw, Nm) eines jeden Jahres getrennt nach Geschlecht dargestellt. Zudem wurden die prozentualen Anteile der Frauen und Männer im Datensatz im Verhältnis zur Gesamtzahl der Alkoholabhängigen im Datensatz (nw/nAlk bzw. nm/nAlk) dargestellt. Im Untersuchungszeitraum wurde bei männlichen Versicherten mit gut 69 % der F10.2-diagnostizierten Personen deutlich häufiger eine F10.2-Diagnose kodiert als bei weiblichen Versicherten. In der Zeile „GKV-Bestand ≥ 18 Jahre“ wurde die für die Hochrechnung relevante GKV-Population des jeweiligen Jahres (NGKV) und die geschätzte F10.2-Gesamtprävalenz der GKV-Population abgebildet (NAlk/NGKV). Der Anteil von Versicherten mit einer F10.2-Diagnose im Gesamtdatensatz lag im Untersuchungszeitraum bei etwas mehr als 1 % und zeigte einen leichten kontinuierlichen Gesamtprävalenz-Anstieg von 1,04 % hinsichtlich der F10.2-Diagnose im Jahr 2006 bis auf 1,14 % in 2010. Hochgerechnet auf GKV-Ebene stieg die Zahl der Versicherten mit einer F10.2-Diagnose von 606 295 im Jahr 2006 auf 663 916 in 2010.
q Tab. 2 weist die Ergebnisse für Versicherte aus, die im jeweiligen Jahr ausschließlich im ambulanten Bereich eine relevante F10.2-Diagnose und somit keine zusätzliche F10.2-Diagnose im stationären Bereich (weder als Haupt- noch als Nebendiagnose) aufwiesen. Diese Subpopulation der nur im ambulanten Sektor diagnostizierten Versicherten stellte einen Anteil von etwa zwei Drittel aller (ambulant und/oder stationär) mit einer F10.2-Diagnose kodierten Versicherten dar (siehe z. B. Jahr 2006: 18 039 Versicherte in q Tab. 2 von 28 025 Versicherten in q Tab. 1). In q Abb. 1 ist die Entwicklung von bundesweiten Patientenzahlen mit einer kodierten F10.2-Diagnose von 2006 bis 2010 – in Anlehnung an die Werte der q Tab. 1 und 2 – visuell dargestellt. Zu erkennen ist ein leichter, aber kontinuierlicher Prävalenzanstieg. Eine Tendenz leicht zunehmender F10.2-Prävalenz kann auch für Versicherte festgestellt werden, welche die relevante Diagnose ausschließlich im ambulanten Bereich erhielten – diese stieg von 0,67 % im Jahr 2006 auf 0,79 % im Jahr 2010 an (q Tab. 2).
Dtsch Med Wochenschr 2014; 139: 2285–2289 · K. van der Linde et al., Sekundärdatenanalyse der Prävalenz …
Heruntergeladen von: Rutgers University. Urheberrechtlich geschützt.
2286
Originalarbeit | Original article
Tab. 1
2287
Prävalenzen von Versicherten mit mindestens einer gesicherten ambulanten oder stationären F10.2-Diagnose in den Jahren 2006 bis 2010. 2006
Weiblich
Männlich
Gesamt GKV-Bestand
2007
2008
2009
2010
nw
8536
8508
8580
8874
9417
Nw
184 668
186 717
192 784
200 000
204 510
nw/nAlk
30,50 %
30,20 %
30,40 %
30,30 %
30,80 %
nm
19 489
19 680
19 635
20 431
21 155
Nm
421 627
431 898
441 182
460 455
459 406
nm/nAlk
69,50 %
69,80 %
69,60 %
69,70 %
69,20 %
nAlk
28 025
28 188
28 215
29 305
30 572
NAlk
606 295
618 615
633 966
660 455
663 916
58 116 563
58 306 576
58 434 852
58 428 190
58 428 052
1,04 %
1,06 %
1,08 %
1,13 %
1,14 %
NGKV (geschätzt)
≥ 18 Jahre NAlk/NGKV
w= weiblich, m= männlich, Alk=Alkoholabhängige; weitere Abkürzungen s. Text Prävalenzen von Versicherten mit mindestens einer gesicherten ambulanten F10.2-Diagnose in den Jahren 2006 bis 2010 (ohne stationäre F10.2-Diag-
2006 Weiblich
2010
5687
5741
5878
6197
6732
123 038
125 993
132 070
139 653
146 188
31,5 %
30,9 %
31,3 %
31,0 %
31,6 %
nm
12 352
12 824
12 915
13 761
14 577
Nm
267 228
281 428
290 186
310 133
316 563
68,5 %
69,1 %
68,7 %
69,0 %
68,4 %
18 039
18 565
18 793
19 958
21 309
nAlk NAlk
GKV-Bestand
2009
Nw
nm/nAlk Gesamt
2008
nw nw/nAlk
Männlich
2007
NGKV (geschätzt)
390 266
407 421
422 256
449 786
462 751
58 116 563
58 306 576
58 434 852
58 428 190
58 428 052
0,67 %
0,70 %
0,72 %
0,77 %
0,79 %
≥ 18 Jahre NAlk/NGKV Abkürzungen s. Tab.1
F10.2-Diagnose auf, 8548 Versicherte hingegen in jedem der vier Quartale. Um sicherzustellen, dass unterjährig Versicherte (Kassenwechsler) die Quartalsanalysen nicht in relevantem Ausmaß verzerren, sind in Klammern jeweils die Versichertenzahlen bzw. -anteile dargestellt, die sich ergeben, wenn nur ganzjährig Versicherte (zzgl. Verstorbener) berücksichtigt werden. Die Anteilsverteilung in Abhängigkeit der Quartale zeigt sich allerdings robust.
700 000 650 000
Versicherte
600 000 550 000 500 000 450 000 400 000 350 000
2006
2007
2008
2009
2010
Patienten mit ambulanter oder stationärer F10.2-Diagnose Patienten mit ausschließlich ambulanter F10.2-Diagnose
Abb. 1 Schätzung bundesweiter Prävalenzen von Versicherten mit kodierter Alkoholabhängigkeit im Zeitverlauf von 2006 bis 2010 unter Berücksichtigung ambulanter und stationärer Diagnosen sowie ausschließlich ambulanter Diagnosen.
Quartalsanalysen der kodierten Alkoholabhängigkeit Im Jahr 2010 wiesen 21 309 Versicherte ausschließlich (d. h. ohne eine zusätzliche stationäre F10.2-Diagnose) eine gesicherte ambulante F10.2-Diagnose auf (q Tab. 2). Für diese Versicherten zeigt q Tab. 3, in wie vielen Quartalen eine solche ambulante Diagnose mindestens einmal auftrat. Demnach wiesen 5709 Versicherte nur in einem Quartal des Jahres 2010 eine
Tab. 3 Verteilung der relevanten Versicherten nach der Anzahl von Quartalen mit mindestens einer gesicherten ambulanten F10.2-Diagnose nur im Jahr 2010 ohne stationäre F10.2-Diagnose (Werte nach Bereinigung um unterjährig Versicherte). Anzahl Versicherte
Prozent der Versicherten
1 Quartal
5709 (4863)
26,79 (25,04)
2 Quartale
3757 (3165)
17,63 (16,30)
3 Quartale
3295 (3054)
15,46 (15,72)
4 Quartale
8548 (8339)
40,12 (42,94)
21 309 (19 421)
100
Gesamt
Versichertenanteile mit stationären Haupt- und Nebendiagnosen In q Tab. 4 zeigt zunächst die hochgerechneten absoluten Zahlen für den Modelldatensatz und in Klammern die Zahlen bei Hochrechnung auf GKV-Niveau. Im unteren Teil werden die An-
Dtsch Med Wochenschr 2014; 139: 2285–2289 · K. van der Linde et al., Sekundärdatenanalyse der Prävalenz …
Heruntergeladen von: Rutgers University. Urheberrechtlich geschützt.
Tab. 2 nose).
Originalarbeit | Original article
Tab. 4 Anteile von Versicherten mit F10.2 als stationäre Hauptdiagnose (HD) bzw. Nebendiagnose (ND) an allen Versicherten mit einer F10.2-kodierten Diagnose von 2006 bis 2010. 2006 Prävalenzen Versichertenzahl mit F10.2 HD
Versichertenzahl mit F10.2 ND
2007
2008
2009
2010
nAlk
28 025
28 188
28 215
29 305
30 572
NAlk
606 295
618 615
633 966
660 455
663 916
nHD
4066
3981
3840
3811
3741
NHD
87 963
87 376
86 275
85 891
81 241
nAlk/nHD
12,20 %
14,50 %
14,10 %
13,60 %
13,00 %
nND
7199
9558
6970
6854
6799
NND
155 748
209 761
156 615
154 462
147 651
25,70 %
33,90 %
24,70 %
23,40 %
22,20 %
nAlk/nND
teile der Versicherten mit einer Hospitalisierung (ICD F10.2 als stationäre Haupt- bzw. Nebendiagnose) an allen im jeweiligen Kalenderjahr betroffenen Versicherten von 2006 bis 2010 ausgewiesen. Zu erkennen ist, dass der Anteil der Versicherten mit einer stationären Hauptdiagnose F10.2 an allen F10.2-diagnostizierten Versicherten von 14,5 % im Jahr 2006 bis auf 12,2 % im Jahr 2010 kontinuierlich zurückging. Der Anteil stationärer Nebendiagnosen ging von 25,69 % im Jahr 2006 auf 22,2 % im Jahr 2010 zurück, wenngleich im Jahr 2007 ein einmaliger Anstieg bei den Nebendiagnosen mit einem Anteil von 33,9 % unter allen mit einer F10.2-Diagnose kodierten Versicherten auftrat. Dies kann auf eine veränderte Kodierpraxis oder eine Datenunplausibilität in den stationären Nebendiagnosen im Jahr 2007 zurückzuführen sein, ohne dass die Studie dieser Frage nachgehen kann.
Diskussion ▼ Die Datenbasis von mehr als 3 Mio. Versicherten stellt eine fundierte Grundlage der Analysen dar. Um eine Vergleichbarkeit mit der Bevölkerung in Deutschland zu erreichen, erfolgte eine Alters- und Geschlechtsadjustierung der Daten auf das GKV-Niveau. Ein Selektionsbias kann somit weitestgehend ausgeschlossen und eine Repräsentativität der Daten gewährleistet werden. Jedoch können Unterschiede in der Krankenkassenstruktur hinsichtlich weiterer Faktoren (Sozialstatus/Einkommensunterschiede o. ä.) bestehen, zu welchen keine Daten vorliegen und daher keine Adjustierung vorgenommen werden konnte. Mittels der Beschränkung auf die Diagnose F10.2 wird nur ein Teil der alkoholabhängigen Bevölkerung analysiert (schwerwiegende und leichter zu identifizierende Fälle). Dies stellt einen möglichen Selektionsbias dar. Die Prävalenz der Alkoholabhängigkeit zeigt sowohl in der Betrachtung der stationären und ambulanten Fälle, als auch im rein ambulanten Bereich von 2006 bis 2010 die Tendenz eines leichten Anstiegs. In allen Analysen dieser Studie beträgt das Verhältnis von alkoholabhängigen Frauen zu Männern etwa 30 % zu 70 %. Ein deutlich stärkerer Anteil betroffener männlicher Versicherter wurde in mehreren Studien bereits bestätigt und sogar mit einer mit einer höheren Frauen-Männer-Relation von 1 zu 3 quantifiziert [9].
Laut Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung für das Jahr 2010 galten in Deutschland etwa 1,3 Mio. Personen als alkoholabhängig [4]. Dieser Wert weicht deutlich von den geschätzten Fallzahlen der hier dargestellten GKV-Hochrechnung für das Jahr 2010 mit gut 660 000 Versicherten ab (Faktor 2), wobei die Abweichung primär auf zwei unterschiedlichen Ursachen beruht: Zum einen werden im Drogen- und Suchtbericht die Fallzahlen für Gesamtdeutschland (nicht nur für die GKV) ausgewiesen, zum anderen sind im Modelldatensatz nur abrechnungsrelevante Daten enthalten. Demnach erfasst der Datensatz nur bei einem niedergelassen Arzt oder im Krankenhaus vorstellig gewordene Personen, bei denen eine abrechnungsrelevante F10.2-Diagnose kodiert wurde. Für Personen, bei denen eine Alkoholabhängigkeit unbekannt ist (Dunkelziffer) oder bei denen eine bekannte, aber nicht therapierte Alkoholabhängigkeit vorliegt, existiert dementsprechend keine relevante Kodierung der F10.2-Diagnose, sodass eine systematische Unterschätzung in den vorgenommenen Analysen vorliegen muss. Des Weiteren können Unterschiede zwischen den Studien ggf. auf unter dem Bundesdurchschnitt liegende alters- und geschlechtsadjustierte Prävalenzen der Alkoholabhängigkeit im Modelldatensatz zurückgeführt werden, die aufgrund von Merkmalen der kassenspezifischen Versichertenstruktur außerhalb von Alter und Geschlecht existieren und daher durch eine Alters- und Geschlechtsadjustierung nicht egalisiert werden können. Studienergebnisse auf der Basis von Abrechnungsdaten einer bundesweit tätigen Krankenkasse aus dem Jahr 2010 weisen vergleichbare Prävalenzen zu den hier dargestellten Daten auf – in den Gesundheitsreports der BARMER GEK liegen die auf Basis von ambulanten und stationären Diagnosen ermittelten Prävalenzen der Alkoholabhängigkeit unter Erwerbstätigen bzw. allen Versicherten (unter Verwendung der Diagnosen F10.2 bis F10.4 im Vergleich zur Verwendung der F10.2 in der vorliegenden Studie) bei bundesweit 0,69 % bzw. 1,18 % [5]. Die Prävalenzen eines allgemeinen Alkoholproblems ohne zwingend manifeste Alkoholabhängigkeit unter Erwerbstätigen bzw. allen Versicherten (unter zusätzlichem Einbezug der Diagnosen F10.0 und F10.1) liegen bei etwa 1,17 % bzw. 1,82 %. Eine direkte Vergleichbarkeit zu den hier vorliegenden Studienergebnissen ist allerdings nicht gegeben, da neben der unterschiedlichen ICD-Definition der Alkoholabhängigkeit auch die genutzten Altersgrenzen für die Analysen abweichen. Während in der vorliegenden Analyse alle Versicherten ≥ 18 Jahre berücksichtigt werden, erfolgt im Gesundheitsreport der BARMER GEK eine Konzentration auf Versicherte zwischen 15 und 64 Jahren [5].
Dtsch Med Wochenschr 2014; 139: 2285–2289 · K. van der Linde et al., Sekundärdatenanalyse der Prävalenz …
Heruntergeladen von: Rutgers University. Urheberrechtlich geschützt.
2288
Um genauere Informationen darüber zu erhalten, bei welchen Subpopulationen deutlich steigende Prävalenzzahlen vorliegen, müssten in weitergehenden Analysen altersklassenspezifische Prävalenzentwicklungen der F10.2-Diagnose ermittelt werden. Die Ergebnisse könnten anschließend vor dem Hintergrund bereits publizierter Werte in Publikationen im Gesamtkontext interpretiert und eingeordnet werden.
Konsequenz für Klinik und Praxis 3Alkoholkonsum gilt in vielen somatischen Fachdisziplinen als Risikofaktor und verursacht hohe Folgekosten bei den Gesundheitsausgaben. 3Die Prävalenz von Versicherten mit kodierter Alkoholabhängigkeit (F10.2-Diagnose) stieg im Zeitraum von 2006 bis 2010 kontinuierlich an, was auf eine größere Anzahl mit einer F10.2-Diagnose kodierter Versicherter im ambulanten Bereich zurückzuführen ist. Allerdings sank der Anteil der Versicherten mit stationär kodierten F10.2-Diagnosen an der Gesamtheit der mit einer F10.2-Diagnose kodierten Versicherten im Betrachtungszeitraum deutlich. 3Das Verhältnis von alkoholabhängigen Frauen zu Männern beträgt etwa 30 % zu 70 %. 3Im Modelldatensatz werden nur abrechnungsrelevante Daten behandelter Alkoholabhängiger berücksichtigt. Es kann jedoch angenommen werden, dass die Dunkelziffer sehr hoch ist (systematische Unterschätzung in den Analysen).
tiveness. The analyses of each single year only allude to insured persons aged ≥ 18 years. With the help of the statistics of the insured of statutory health insurance, for each calendar year, projections of the detected prevalence rates were determined to estimate the number of cases on the statutory health insurance level and their development over time. Results: The results show a tendency of slightly increasing prevalence of alcohol dependence from 2006 to 2010. For insured persons with at least one inpatient or outpatient F10.2 diagnosis, the prevalence continuously rises from 1,04 % in 2006 to 1.14 % in 2010; the prevalence of insured persons who received an alcohol dependence diagnosis only in the outpatient sector, increased from 0,67 % to 0,79 % in that time scale. In all analyzes, there was a ratio of 30 % affected women to 70 % affected men. From 2006 to 2010, the proportion of insured persons with hospitalization caused by alcohol dependence decreased steadily from 14,51 % to 12,24 %. Conclusion: For the analyzed group of persons aged ≥ 18 years, the present analysis results show a tendency of slightly increasing prevalences of alcohol abuse, however at the same time combined with a decreasing proportion of hospitalized patients. Similar nationwide studies from 2010 on the basis of secondary data of a health insurance company and inclusion of outpatient and inpatient diagnoses also indicate prevalences of alcohol dependence of about 1.18 %, but they base on the age range of 15to 64-year-old insurants. Literatur
Autorenerklärung: Die Veröffentlichung basiert auf einem Projekt, das von der Lundbeck GmbH finanziert wurde.
Abstract
Secondary data analysis of the prevalence of alcohol dependence (F10.2) in Germany ▼ Background and aim: Compared to other European countries, alcohol consumption and abuse in Germany is on a high level. Even in smaller quantities, frequent alcohol consumption can generate organic damages and thus lead to secondary diseases that have a significant societal relevance regarding direct and indirect costs for the healthcare system. After several publications have already addressed the prevalence of acute alcohol intoxication and alcohol abuse in adolescents, the question arises how the prevalence of alcohol abuse develops on the basis of the accounting data of outpatient and inpatient care providers in the population of adults aged 18 and over and what tendency can be observed within a multi-year period. Within this study, the coding of alcohol abuse (F10.2 diagnosis) was analyzed separately for outpatient and inpatient sector in the insured population ≥ 18 years and presented over time. Patients and methods: The development of the prevalence of alcohol abuse was analyzed on the basis of secondary random sample data from one nation-wide working statutory health insurance with a total population of more than 3 million insurants in the 5-year period from 2006 to 2010. For the presentation of the prevalences, insurant numbers were used. For the identification of the relevant insurants, only confirmed outpatient F10.2 diagnoses or inpatient F10.2 diagnoses were used. The age and sex distributions of the dataset were adjusted to the distribution in the statutory health insurance to ensure representa-
1 Batra A, Mann M, Singer V. Alkohol und Tabak: Grundlagen und Folgeerkrankungen. Stuttgart, Georg Thieme 2011 2 Bloomfield K, Kraus L, Soyka M. Alkoholkonsum und alkoholbezogene Störungen, Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 40. Berlin, Robert-Koch-Institut 2008 3 Bundesministerium für Gesundheit. Statistik über Versicherte gegliedert nach Status, Alter, Wohnort und Kassenart. Jahre 2006 bis 2010. http://www.bmg.bund.de/krankenversicherung/zahlen-undfakten-zur-krankenversicherung.html [Zugriff am 18.07.2013] 4 Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung. Drogen- und SuchtberichtMai 2011. http://drogenbeauftragte.de/fileadmin/dateiendba/Service/Publikationen/Drogen_und_Suchtbericht_2011_110517_Drogenbeauftragte.pdf [Zugriff am 22.07.2013] 5 IGES, Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung. Gesundheitsreports der Länder 2012 Alkoholkonsum und Erwerbstätigkeit. https://presse.barmer-gek.de/barmer/web/Portale/Presseportal/Subportal/Infothek/Studien-und-Reports/Gesundheitsreports-der-Laender/Laenderreports-2012/Laenderreports-2012.html?w-cm=CenterColumn_tdocid [letzter Zugriff am 18.09.2014] 6 Lesch O, Walter H. Alkohol und Tabak, Medizinische und Soziologische Aspekte von Gebrauch, Missbrauch und Abhängigkeit. Wien/New York, Springer-Verlag 2009 7 Mann K, Körkel J. Trinkmengenreduktion: ein ergänzendes Therapieziel bei Alkoholabhängigen. Psychopharmakotherapie 2013; 20: 193–198 8 Spyra A, Rychlik RPT. Behandlungsempfehlungen zur Alkoholabhängigkeit – Ein Vergleich deutscher und internationaler Leitlinien. Dtsch Med Wochenschr 2013; 138: 2265–2270 9 Soyka M. Epidemiologie und Behandlung der Alkoholabhängigkeit. NeuroTransmitter 2013; 24: 40–43
Dtsch Med Wochenschr 2014; 139: 2285–2289 · K. van der Linde et al., Sekundärdatenanalyse der Prävalenz …
2289
Heruntergeladen von: Rutgers University. Urheberrechtlich geschützt.
Originalarbeit | Original article