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Sekundärdatenanalyse der Prävalenz der Alkoholabhängigkeit (F10.2) in Deutschland Secondary data analysis of the prevalence of alcohol dependence (F10.2) in Germany

Autoren

K. van der Linde1 J. Wasem1 G. Lux1

Institut

1 Lehrstuhl für Medizinmanagement, Fakultät Wirtschaftswissenschaften, Universität Duisburg-Essen

Hintergrund und Fragestellung: Der Alkoholkonsum und die Alkoholabhängigkeit weisen in Deutschland im europäischen Vergleich ein hohes Niveau auf. Regelmäßiger Alkoholkonsum kann sich – auch bereits in kleineren Mengen – in Form organischer Folgeschäden manifestieren und somit zu Folgeerkrankungen führen. Mit Blick auf die direkten und indirekten Kosten für das Gesundheitssystem besitzen diese eine wesentliche gesamtgesellschaftliche Relevanz. Nachdem sich bereits einige Publikationen mit der Prävalenz der akuten Alkoholintoxikation und dem Alkoholmissbrauch bei Jugendlichen befasst haben, stellt sich die Frage, wie sich diese auf Basis der Abrechnungsdaten ambulanter und stationärer Leistungserbringer in der Population der Erwachsenen ≥ 18 darstellt und welche Tendenz innerhalb eines mehrjährigen Zeitraums zu beobachten ist. In der vorliegenden Studie werden die Kodierungen der Alkoholabhängigkeit (F10.2-Diagnose) getrennt nach ambulantem und stationärem Sektor in der Versichertenpopulation ≥ 18 Jahre analysiert und im Zeitverlauf dargestellt. Patienten und Methoden: Die Studie analysiert die Prävalenzentwicklung der Alkoholabhängigkeit anhand der Sekundärdaten (Abrechnungsdaten) einer bundesweit tätigen gesetzlichen Krankenkasse in einem Modelldatensatz, der auf einer Zufallsstichprobe von mehr als 3 Mio. Versicherten im 5-Jahres-Zeitraum von 2006 bis 2010 beruht. Für die Prävalenzdarstellungen wurden Versichertenzahlen genutzt. Für die Identifikation der relevanten Versicherten wurden nur gesicherte ambulante bzw. stationäre F10.2-Diagnosen

verwendet. Der Datensatz wurde bzgl. der Altersund Geschlechtsverteilung an die Verteilung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) adjustiert, um eine entsprechende Repräsentativität zu gewährleisten. Die Analysen der einzelnen Jahre bezogen sich nur auf Versicherte im Alter von ≥ 18 Jahren. Mit Hilfe der Versichertenstatistik der GKV erfolgten für jedes Kalenderjahr Hochrechnungen der ermittelten Prävalenzwerte, um die Fallzahlen auf GKV-Ebene und deren Entwicklung im Zeitverlauf zu schätzen. Ergebnisse: Die Daten zeigen von 2006 bis 2010 die Tendenz leicht zunehmender Prävalenzen der Alkoholabhängigkeit. Für Versicherte mit mindestens einer ambulanten oder stationären F10.2-Diagnose stieg die Prävalenz von 1,04 % im Jahr 2006 bis auf 1,14 % im Jahr 2010 an. Für Versicherte mit einer gesicherten ambulanten F10.2-Diagnose lag die Prävalenz 2006 bei 0,67 % und 2010 bei 0,79 %. In allen Analysen zeigte sich eine Relation von 30 % betroffener Frauen zu 70 % betroffenen Männern. Von 2006 bis 2010 sank der Anteil von Versicherten mit Krankhausaufenthalten wegen einer Alkoholabhängigkeit kontinuierlich von 14,51 % auf 12,24 %. Folgerung: Für die betrachtete Versichertengruppe der ≥ 18-Jährigen zeigen die Analyseergebnisse eine Tendenz leicht steigender Prävalenzen der Alkoholabhängigkeit – allerdings bei gleichzeitig abnehmendem Anteil hospitalisierter Patienten. Vergleichbare bundesweite Studien auf der Basis von Sekundärdaten einer Krankenkasse unter Einbezug von ambulanten und stationären Diagnosen aus dem Jahr 2010 weisen ebenfalls Prävalenzen der Alkoholabhängigkeit von etwa 1,18 % auf, allerdings bezogen auf den Altersbereich der 15- bis 64-Jährigen.

Einleitung ▼ Die Therapie der Alkoholabhängigkeit und ihrer Folgeerkrankungen ist ein wesentlicher Kostenfaktor im Gesundheitswesen. Im Jahr 2010 gab es ■

in Deutschland etwa 1,3 Mio. Alkoholabhängige, darunter deutlich mehr Männer (etwa 930  000) als Frauen (370  000) [4].

Suchtmedizin Originalarbeit | Original article

Schlüsselwörter Adjustierung Alkoholabhängigkeit Prävention Prävalenz Trend

q q q q q

Keywords adjustment alcohol dependence prevalence prevention trend

q q q q q

eingereicht 20.01.2014 akzeptiert 05.06.2014 Bibliografie DOI 10.1055/s-0034-1387353 Dtsch Med Wochenschr 0 2014; 1390 0:2285–2289 · © Georg Thieme Verlag KG · Stuttgart · New York · ISSN 0012-04721439-4 13 Korrespondenz Kirsten van der Linde Schützenbahn 70 45127 Essen Tel. 0201/183-3532 Fax 0201/183-4073 eMail kirsten.vanderlinde@ medman.uni-due.de

Korrekturexemplar: Veröffentlichung (auch online), Vervielfältigung oder Weitergabe nicht erlaubt! ■

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Zusammenfassung ▼

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Neben den 1,3 Mio. als alkoholabhängig diagnostizierten, behandlungsbedürftigen Patienten betrieben weitere 2 Mio. Menschen schädlichen Alkoholmissbrauch und weitere 5 Mio. konsumierten in potenziell gesundheitsschädlichem Umfang Alkohol. Somit bestand im Jahr 2010 bei etwa 8,3 Mio. Menschen in Deutschland alkoholbedingter Beratungs- bzw. Behandlungsbedarf [9]. Alkoholische Getränke führen langfristig – in Abhängigkeit von Dauer und Menge des Konsums – zu Veränderungen aller Organsysteme. Somit ist Alkoholkonsum in vielen somatischen Fachdisziplinen ein Risikofaktor [6]. Die direkten Kosten des Alkoholkonsums wurden für 2007 auf etwa 8,4 Mrd. €, die indirekten Kosten auf etwa 16,7 Mrd. € geschätzt, wobei insgesamt nur wenige empirische Studien dazu existieren [1]. Die Behandlung alkoholabhängiger Erwachsener mit dem Ziel der Abstinenz erfolgt in Form eines (qualifizierten) Entzuges und einer anschließenden Entwöhnung in Deutschland vor allem stationär [2]. In Ergänzung dazu gibt es niedrigschwellige ambulante Angebote für Alkoholabhängige ohne entsprechende Compliance für einen Entzug und die folgende Entwöhnungstherapie, um zumindest eine Reduktion der Trinkmenge herbeizuführen [7, 8]. Die vorliegende Studie stellt die Prävalenzentwicklung der Alkoholabhängigkeit (in den Sekundärdaten mit der ICD-Diagnose F10.2 kodiert) in einem 5-Jahres-Zeitraum für einen repräsentativen Versichertenbestand von mehr als 3 Mio. Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) dar. Auf Basis der Fallzahlentwicklungen für die GKV soll die Bedeutung des Alkoholabusus bezogen auf die Gesamtgesellschaft dargestellt werden.

Patienten und Methoden ▼ Eine bundesweite Krankenkasse stellte für den 5-Jahres-Zeitraum von 2006 bis 2010 pseudonymisierte Daten zur Verfügung, deren Struktur den Daten für den Morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleiches (Morbi-RSA) ähnlich ist. Genutzt wurden die Stammdaten der Versicherten und deren ärzteseitig als gesichert gekennzeichnete ambulante und stationäre Hauptund Nebendiagnosen. Der Datensatz wurde (unter Verwendung von geschlechtsspezifischen Altersklassen) auf die Alters- und Geschlechtsverteilung der GKV adjustiert, um eine bessere Übertragbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten. Dabei wurden die Fallzahlen für die jeweiligen Jahre unter Nutzung der jahresspezifischen KM6-Altersklassen auf die GKV hochgerechnet [3]. Alkoholabhängige Versicherte wurden über gesicherte ambulante Diagnosen und stationäre Haupt- und Nebendiagnosen der F10.2-Diagnose „Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol (Abhängigkeitssyndrom)“ identifiziert. Weitere ICDs zur Identifikation von Alkoholabhängigkeit sowie alkohol-attributable Fraktionen wurden in den Analysen nicht berücksichtigt. Auch Verdachtsdiagnosen, Diagnosen im symptomlosen Zustand, Ausschlussdiagnosen oder sonstige Diagnosen aus dem ambulanten Bereich wurden nicht berücksichtigt. Für die durchgeführten Prävalenzanalysen wurde die Versichertenpopulation jeweils unterschiedlich abgegrenzt. Die Adjustierung der Daten an die Alters- und Geschlechtsstruktur der GKV erfolgte auf der Basis des Jahres 2008 (mittleres Jahr des Gesamtbeobachtungszeitraumes). Der adjustierte Mo-

delldatensatz wies für 2008 eine Gesamtpopulation von 3,13 Mio. Versicherten auf und repräsentierte somit etwa 4,5 % der gesamten GKV-Population dieses Jahres. Alle folgenden Analyseergebnisse gelten somit für eine mit der GKV vergleichbare Altersund Geschlechtsstruktur. Die Hochrechnung der Modellergebnisse auf GKV-Ebene zur Abschätzung der Gesamtfallzahlen in den jeweiligen Jahren erfolgte nur für Versicherte mit einem Alter von ≥ 18 Jahren im jeweiligen Analysejahr. Die Prävalenzraten beziehen sich somit jeweils nur auf die Subpopulation der über 17-Jährigen. Die Analysen erfolgten mit der Statistiksoftware SPSS Version 19 und teilweise in MS-Excel 2010.

Ergebnisse ▼ Prävalenzentwicklungen von 2006 bis 2010 In einer ersten Analyse wurden die Prävalenzen von Versicherten mit mindestens einer ICD F10.2-Diagnose im ambulanten Sektor als gesicherte Diagnose und/oder im stationären Sektor als Haupt- oder Nebendiagnose von 2006 bis 2010 getrennt nach Geschlecht (nw, nm) (q Tab. 1) sowie die geschätzten GKVVersichertenzahlen (Nw, Nm) eines jeden Jahres getrennt nach Geschlecht dargestellt. Zudem wurden die prozentualen Anteile der Frauen und Männer im Datensatz im Verhältnis zur Gesamtzahl der Alkoholabhängigen im Datensatz (nw/nAlk bzw. nm/nAlk) dargestellt. Im Untersuchungszeitraum wurde bei männlichen Versicherten mit gut 69 % der F10.2-diagnostizierten Personen deutlich häufiger eine F10.2-Diagnose kodiert als bei weiblichen Versicherten. In der Zeile „GKV-Bestand ≥ 18 Jahre“ wurde die für die Hochrechnung relevante GKV-Population des jeweiligen Jahres (NGKV) und die geschätzte F10.2-Gesamtprävalenz der GKV-Population abgebildet (NAlk/NGKV). Der Anteil von Versicherten mit einer F10.2-Diagnose im Gesamtdatensatz lag im Untersuchungszeitraum bei etwas mehr als 1 % und zeigte einen leichten kontinuierlichen Gesamtprävalenz-Anstieg von 1,04 % hinsichtlich der F10.2-Diagnose im Jahr 2006 bis auf 1,14 % in 2010. Hochgerechnet auf GKV-Ebene stieg die Zahl der Versicherten mit einer F10.2-Diagnose von 606 295 im Jahr 2006 auf 663 916 in 2010.

q Tab. 2 weist die Ergebnisse für Versicherte aus, die im jeweiligen Jahr ausschließlich im ambulanten Bereich eine relevante F10.2-Diagnose und somit keine zusätzliche F10.2-Diagnose im stationären Bereich (weder als Haupt- noch als Nebendiagnose) aufwiesen. Diese Subpopulation der nur im ambulanten Sektor diagnostizierten Versicherten stellte einen Anteil von etwa zwei Drittel aller (ambulant und/oder stationär) mit einer F10.2-Diagnose kodierten Versicherten dar (siehe z. B. Jahr 2006: 18 039 Versicherte in q Tab. 2 von 28 025 Versicherten in q Tab. 1). In q Abb. 1 ist die Entwicklung von bundesweiten Patientenzahlen mit einer kodierten F10.2-Diagnose von 2006 bis 2010 – in Anlehnung an die Werte der q Tab. 1 und 2 – visuell dargestellt. Zu erkennen ist ein leichter, aber kontinuierlicher Prävalenzanstieg. Eine Tendenz leicht zunehmender F10.2-Prävalenz kann auch für Versicherte festgestellt werden, welche die relevante Diagnose ausschließlich im ambulanten Bereich erhielten – diese stieg von 0,67 % im Jahr 2006 auf 0,79 % im Jahr 2010 an (q Tab. 2).

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Tab. 1

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Prävalenzen von Versicherten mit mindestens einer gesicherten ambulanten oder stationären F10.2-Diagnose in den Jahren 2006 bis 2010. 2006

Weiblich

Männlich

Gesamt GKV-Bestand

2007

2008

2009

2010

nw

8536

8508

8580

8874

9417

Nw

184 668

186 717

192 784

200 000

204 510

nw/nAlk

30,50 %

30,20 %

30,40 %

30,30 %

30,80 %

nm

19 489

19 680

19 635

20 431

21 155

Nm

421 627

431 898

441 182

460 455

459 406

nm/nAlk

69,50 %

69,80 %

69,60 %

69,70 %

69,20 %

nAlk

28 025

28 188

28 215

29 305

30 572

NAlk

606 295

618 615

633 966

660 455

663 916

58 116 563

58 306 576

58 434 852

58 428 190

58 428 052

1,04 %

1,06 %

1,08 %

1,13 %

1,14 %

NGKV (geschätzt)

≥ 18 Jahre NAlk/NGKV

w= weiblich, m= männlich, Alk=Alkoholabhängige; weitere Abkürzungen s. Text Prävalenzen von Versicherten mit mindestens einer gesicherten ambulanten F10.2-Diagnose in den Jahren 2006 bis 2010 (ohne stationäre F10.2-Diag-

2006 Weiblich

2010

5687

5741

5878

6197

6732

123 038

125 993

132 070

139 653

146 188

31,5 %

30,9 %

31,3 %

31,0 %

31,6 %

nm

12 352

12 824

12 915

13 761

14 577

Nm

267 228

281 428

290 186

310 133

316 563

68,5 %

69,1 %

68,7 %

69,0 %

68,4 %

18 039

18 565

18 793

19 958

21 309

nAlk NAlk

GKV-Bestand

2009

Nw

nm/nAlk Gesamt

2008

nw nw/nAlk

Männlich

2007

NGKV (geschätzt)

390 266

407 421

422 256

449 786

462 751

58 116 563

58 306 576

58 434 852

58 428 190

58 428 052

0,67 %

0,70 %

0,72 %

0,77 %

0,79 %

≥ 18 Jahre NAlk/NGKV Abkürzungen s. Tab.1

F10.2-Diagnose auf, 8548 Versicherte hingegen in jedem der vier Quartale. Um sicherzustellen, dass unterjährig Versicherte (Kassenwechsler) die Quartalsanalysen nicht in relevantem Ausmaß verzerren, sind in Klammern jeweils die Versichertenzahlen bzw. -anteile dargestellt, die sich ergeben, wenn nur ganzjährig Versicherte (zzgl. Verstorbener) berücksichtigt werden. Die Anteilsverteilung in Abhängigkeit der Quartale zeigt sich allerdings robust.

700 000 650 000

Versicherte

600 000 550 000 500 000 450 000 400 000 350 000

2006

2007

2008

2009

2010

Patienten mit ambulanter oder stationärer F10.2-Diagnose Patienten mit ausschließlich ambulanter F10.2-Diagnose

Abb. 1 Schätzung bundesweiter Prävalenzen von Versicherten mit kodierter Alkoholabhängigkeit im Zeitverlauf von 2006 bis 2010 unter Berücksichtigung ambulanter und stationärer Diagnosen sowie ausschließlich ambulanter Diagnosen.

Quartalsanalysen der kodierten Alkoholabhängigkeit Im Jahr 2010 wiesen 21 309 Versicherte ausschließlich (d. h. ohne eine zusätzliche stationäre F10.2-Diagnose) eine gesicherte ambulante F10.2-Diagnose auf (q Tab. 2). Für diese Versicherten zeigt q Tab. 3, in wie vielen Quartalen eine solche ambulante Diagnose mindestens einmal auftrat. Demnach wiesen 5709 Versicherte nur in einem Quartal des Jahres 2010 eine

Tab. 3 Verteilung der relevanten Versicherten nach der Anzahl von Quartalen mit mindestens einer gesicherten ambulanten F10.2-Diagnose nur im Jahr 2010 ohne stationäre F10.2-Diagnose (Werte nach Bereinigung um unterjährig Versicherte). Anzahl Versicherte

Prozent der Versicherten

1 Quartal

5709 (4863)

26,79 (25,04)

2 Quartale

3757 (3165)

17,63 (16,30)

3 Quartale

3295 (3054)

15,46 (15,72)

4 Quartale

8548 (8339)

40,12 (42,94)

21 309 (19 421)

100

Gesamt

Versichertenanteile mit stationären Haupt- und Nebendiagnosen In q Tab. 4 zeigt zunächst die hochgerechneten absoluten Zahlen für den Modelldatensatz und in Klammern die Zahlen bei Hochrechnung auf GKV-Niveau. Im unteren Teil werden die An-

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Tab. 2 nose).

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Tab. 4 Anteile von Versicherten mit F10.2 als stationäre Hauptdiagnose (HD) bzw. Nebendiagnose (ND) an allen Versicherten mit einer F10.2-kodierten Diagnose von 2006 bis 2010. 2006 Prävalenzen Versichertenzahl mit F10.2 HD

Versichertenzahl mit F10.2 ND

2007

2008

2009

2010

nAlk

28 025

28 188

28 215

29 305

30 572

NAlk

606 295

618 615

633 966

660 455

663 916

nHD

4066

3981

3840

3811

3741

NHD

87 963

87 376

86 275

85 891

81 241

nAlk/nHD

12,20 %

14,50 %

14,10 %

13,60 %

13,00 %

nND

7199

9558

6970

6854

6799

NND

155 748

209 761

156 615

154 462

147 651

25,70 %

33,90 %

24,70 %

23,40 %

22,20 %

nAlk/nND

teile der Versicherten mit einer Hospitalisierung (ICD F10.2 als stationäre Haupt- bzw. Nebendiagnose) an allen im jeweiligen Kalenderjahr betroffenen Versicherten von 2006 bis 2010 ausgewiesen. Zu erkennen ist, dass der Anteil der Versicherten mit einer stationären Hauptdiagnose F10.2 an allen F10.2-diagnostizierten Versicherten von 14,5 % im Jahr 2006 bis auf 12,2 % im Jahr 2010 kontinuierlich zurückging. Der Anteil stationärer Nebendiagnosen ging von 25,69 % im Jahr 2006 auf 22,2 % im Jahr 2010 zurück, wenngleich im Jahr 2007 ein einmaliger Anstieg bei den Nebendiagnosen mit einem Anteil von 33,9 % unter allen mit einer F10.2-Diagnose kodierten Versicherten auftrat. Dies kann auf eine veränderte Kodierpraxis oder eine Datenunplausibilität in den stationären Nebendiagnosen im Jahr 2007 zurückzuführen sein, ohne dass die Studie dieser Frage nachgehen kann.

Diskussion ▼ Die Datenbasis von mehr als 3 Mio. Versicherten stellt eine fundierte Grundlage der Analysen dar. Um eine Vergleichbarkeit mit der Bevölkerung in Deutschland zu erreichen, erfolgte eine Alters- und Geschlechtsadjustierung der Daten auf das GKV-Niveau. Ein Selektionsbias kann somit weitestgehend ausgeschlossen und eine Repräsentativität der Daten gewährleistet werden. Jedoch können Unterschiede in der Krankenkassenstruktur hinsichtlich weiterer Faktoren (Sozialstatus/Einkommensunterschiede o. ä.) bestehen, zu welchen keine Daten vorliegen und daher keine Adjustierung vorgenommen werden konnte. Mittels der Beschränkung auf die Diagnose F10.2 wird nur ein Teil der alkoholabhängigen Bevölkerung analysiert (schwerwiegende und leichter zu identifizierende Fälle). Dies stellt einen möglichen Selektionsbias dar. Die Prävalenz der Alkoholabhängigkeit zeigt sowohl in der Betrachtung der stationären und ambulanten Fälle, als auch im rein ambulanten Bereich von 2006 bis 2010 die Tendenz eines leichten Anstiegs. In allen Analysen dieser Studie beträgt das Verhältnis von alkoholabhängigen Frauen zu Männern etwa 30 % zu 70 %. Ein deutlich stärkerer Anteil betroffener männlicher Versicherter wurde in mehreren Studien bereits bestätigt und sogar mit einer mit einer höheren Frauen-Männer-Relation von 1 zu 3 quantifiziert [9].

Laut Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung für das Jahr 2010 galten in Deutschland etwa 1,3 Mio. Personen als alkoholabhängig [4]. Dieser Wert weicht deutlich von den geschätzten Fallzahlen der hier dargestellten GKV-Hochrechnung für das Jahr 2010 mit gut 660  000 Versicherten ab (Faktor 2), wobei die Abweichung primär auf zwei unterschiedlichen Ursachen beruht: Zum einen werden im Drogen- und Suchtbericht die Fallzahlen für Gesamtdeutschland (nicht nur für die GKV) ausgewiesen, zum anderen sind im Modelldatensatz nur abrechnungsrelevante Daten enthalten. Demnach erfasst der Datensatz nur bei einem niedergelassen Arzt oder im Krankenhaus vorstellig gewordene Personen, bei denen eine abrechnungsrelevante F10.2-Diagnose kodiert wurde. Für Personen, bei denen eine Alkoholabhängigkeit unbekannt ist (Dunkelziffer) oder bei denen eine bekannte, aber nicht therapierte Alkoholabhängigkeit vorliegt, existiert dementsprechend keine relevante Kodierung der F10.2-Diagnose, sodass eine systematische Unterschätzung in den vorgenommenen Analysen vorliegen muss. Des Weiteren können Unterschiede zwischen den Studien ggf. auf unter dem Bundesdurchschnitt liegende alters- und geschlechtsadjustierte Prävalenzen der Alkoholabhängigkeit im Modelldatensatz zurückgeführt werden, die aufgrund von Merkmalen der kassenspezifischen Versichertenstruktur außerhalb von Alter und Geschlecht existieren und daher durch eine Alters- und Geschlechtsadjustierung nicht egalisiert werden können. Studienergebnisse auf der Basis von Abrechnungsdaten einer bundesweit tätigen Krankenkasse aus dem Jahr 2010 weisen vergleichbare Prävalenzen zu den hier dargestellten Daten auf – in den Gesundheitsreports der BARMER GEK liegen die auf Basis von ambulanten und stationären Diagnosen ermittelten Prävalenzen der Alkoholabhängigkeit unter Erwerbstätigen bzw. allen Versicherten (unter Verwendung der Diagnosen F10.2 bis F10.4 im Vergleich zur Verwendung der F10.2 in der vorliegenden Studie) bei bundesweit 0,69 % bzw. 1,18 % [5]. Die Prävalenzen eines allgemeinen Alkoholproblems ohne zwingend manifeste Alkoholabhängigkeit unter Erwerbstätigen bzw. allen Versicherten (unter zusätzlichem Einbezug der Diagnosen F10.0 und F10.1) liegen bei etwa 1,17 % bzw. 1,82 %. Eine direkte Vergleichbarkeit zu den hier vorliegenden Studienergebnissen ist allerdings nicht gegeben, da neben der unterschiedlichen ICD-Definition der Alkoholabhängigkeit auch die genutzten Altersgrenzen für die Analysen abweichen. Während in der vorliegenden Analyse alle Versicherten ≥ 18 Jahre berücksichtigt werden, erfolgt im Gesundheitsreport der BARMER GEK eine Konzentration auf Versicherte zwischen 15 und 64 Jahren [5].

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Um genauere Informationen darüber zu erhalten, bei welchen Subpopulationen deutlich steigende Prävalenzzahlen vorliegen, müssten in weitergehenden Analysen altersklassenspezifische Prävalenzentwicklungen der F10.2-Diagnose ermittelt werden. Die Ergebnisse könnten anschließend vor dem Hintergrund bereits publizierter Werte in Publikationen im Gesamtkontext interpretiert und eingeordnet werden.

Konsequenz für Klinik und Praxis 3Alkoholkonsum gilt in vielen somatischen Fachdisziplinen als Risikofaktor und verursacht hohe Folgekosten bei den Gesundheitsausgaben. 3Die Prävalenz von Versicherten mit kodierter Alkoholabhängigkeit (F10.2-Diagnose) stieg im Zeitraum von 2006 bis 2010 kontinuierlich an, was auf eine größere Anzahl mit einer F10.2-Diagnose kodierter Versicherter im ambulanten Bereich zurückzuführen ist. Allerdings sank der Anteil der Versicherten mit stationär kodierten F10.2-Diagnosen an der Gesamtheit der mit einer F10.2-Diagnose kodierten Versicherten im Betrachtungszeitraum deutlich. 3Das Verhältnis von alkoholabhängigen Frauen zu Männern beträgt etwa 30 % zu 70 %. 3Im Modelldatensatz werden nur abrechnungsrelevante Daten behandelter Alkoholabhängiger berücksichtigt. Es kann jedoch angenommen werden, dass die Dunkelziffer sehr hoch ist (systematische Unterschätzung in den Analysen).

tiveness. The analyses of each single year only allude to insured persons aged ≥ 18 years. With the help of the statistics of the insured of statutory health insurance, for each calendar year, projections of the detected prevalence rates were determined to estimate the number of cases on the statutory health insurance level and their development over time. Results: The results show a tendency of slightly increasing prevalence of alcohol dependence from 2006 to 2010. For insured persons with at least one inpatient or outpatient F10.2 diagnosis, the prevalence continuously rises from 1,04 % in 2006 to 1.14 % in 2010; the prevalence of insured persons who received an alcohol dependence diagnosis only in the outpatient sector, increased from 0,67 % to 0,79 % in that time scale. In all analyzes, there was a ratio of 30 % affected women to 70 % affected men. From 2006 to 2010, the proportion of insured persons with hospitalization caused by alcohol dependence decreased steadily from 14,51 % to 12,24 %. Conclusion: For the analyzed group of persons aged ≥ 18 years, the present analysis results show a tendency of slightly increasing prevalences of alcohol abuse, however at the same time combined with a decreasing proportion of hospitalized patients. Similar nationwide studies from 2010 on the basis of secondary data of a health insurance company and inclusion of outpatient and inpatient diagnoses also indicate prevalences of alcohol dependence of about 1.18 %, but they base on the age range of 15to 64-year-old insurants. Literatur

Autorenerklärung: Die Veröffentlichung basiert auf einem Projekt, das von der Lundbeck GmbH finanziert wurde.

Abstract

Secondary data analysis of the prevalence of alcohol dependence (F10.2) in Germany ▼ Background and aim: Compared to other European countries, alcohol consumption and abuse in Germany is on a high level. Even in smaller quantities, frequent alcohol consumption can generate organic damages and thus lead to secondary diseases that have a significant societal relevance regarding direct and indirect costs for the healthcare system. After several publications have already addressed the prevalence of acute alcohol intoxication and alcohol abuse in adolescents, the question arises how the prevalence of alcohol abuse develops on the basis of the accounting data of outpatient and inpatient care providers in the population of adults aged 18 and over and what tendency can be observed within a multi-year period. Within this study, the coding of alcohol abuse (F10.2 diagnosis) was analyzed separately for outpatient and inpatient sector in the insured population ≥ 18 years and presented over time. Patients and methods: The development of the prevalence of alcohol abuse was analyzed on the basis of secondary random sample data from one nation-wide working statutory health insurance with a total population of more than 3 million insurants in the 5-year period from 2006 to 2010. For the presentation of the prevalences, insurant numbers were used. For the identification of the relevant insurants, only confirmed outpatient F10.2 diagnoses or inpatient F10.2 diagnoses were used. The age and sex distributions of the dataset were adjusted to the distribution in the statutory health insurance to ensure representa-

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[Secondary data analysis of the prevalence of alcohol dependence (F10.2) in Germany].

Compared to other European countries, alcohol consumption and abuse in Germany is on a high level. Even in smaller quantities, frequent alcohol consum...
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