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Praxis 2014; 103(1): 33-39

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Departement Innere Medizin, Abteilung Klinische Onkologie, Kantonsspital, St.Gallen Markus Joerger

Individualisierte Arzneimitteltherapie in der Onkologie: Was zählt die Dosis? Role of Individualized Dosing in Oncology: Are we there yet?

Zusammenfassung Die individualisierte Dosierung ist wesentlicher Teil der «personalisierten Onkologie». Von den klassischen Zytostatika ist bekannt, dass die Dosierung nach BSA keine Verbesserung der stark variablen, individuellen Plasmakonzentrationen bringt. Die neuen oralen Kinaseinhibitoren wie auch die endokrinen Substanzen weisen eine erhebliche Variabilität der individuellen Plasmakonzentrationen aus, bedingt durch variable Absorption, hepatische Metabolisierung, sowie eine Vielfalt möglicher Interaktionen. Therapeutisches Drug Monitoring und die Genotypisierung sind wichtige Werkzeuge, die in Zukunft eine individualisierte Dosierung in der Onkologie erlauben könnten. Die grosse Änzabl neu zugelassener und in Entwicklung sich befindender Onkologika bedeutet aber eine grosse Herausforderung an die Entwicklung entsprecbender Dosisalgorithmen. Nur wenn individualisierte Dosisstrategien bereits in die frühe klinische Entwicklung einbezogen werden, können Substanz-spezifische Empfehlungen rechtzeitig in die klinische Praxis einfliessen. Schlüsselwörter: Therapeutisches Drug Monitoring - Genotypisierung - Ghemotherapie - Orale Tyrosinkinaseinhibitoren - Pharmakokinetik

Ausgangslage Die molekulare Gharakterisierung einzelner Tumorentitäten in der Onkologie ® 2014 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern

war der Beginn der individualisierten oder personalisierten Behandlung. Tatsächlich basiert die medikamentöse Therapie der Grosszahl maligner Erkrankungen mindestens teilweise auf genetischen Markern und einer entsprechend zugeschnittenen Arzneimittelbehandlung. Mit der individualisierten Therapie stellt sich nun auch zunehmend die Frage nach dem Stellenwert einer Dosisoptimierung. Die Problematik beruht hauptsächlich auf folgenden Konditionen: 1. Der überwiegende Anteil der Onkologika zeichnet sich durch ein enges therapeutisches Fenster aus, definiert durch das Verhältnis zwischen therapeutisch wirksamer und toxischer Dosis. 2. Die Fortschritte der klinischen Pharmakologie ermöglichen ein vertieftes Verständnis der interindividueUen Unterschiede im Arzneimittelstoffwechsel (Pharmakokinetik, PK) und der Arzneimittelantwort (Pharmakodynamik, PD). 3. Fortschritte in der Bioanalytik ermöglichen die Implementierung kostengünstiger, wenig personalintensiver und schneller Nachweisverfahren von Onkologika in Plasma oder Vollblut, die auch fur konventionelle Analyseplattformen konzipiert sind (z.B. Immunoassays). 4. Das Prinzip der «maximal tolerierten Dosis», also der Dosis, die dosislimitierende Toxizitäten in rund einem Drittel der Patienten erzeugt, ist in Frage gestellt und zunehmend ersetzt durch die «biologisch effektive Dosierung». Dieser Artikel soll eine Übersicht auf

Aspekte der individualisierten Dosierung in der adulten Onkologie geben, wobei selektierte zytostatische und molekular-zielgerichtete Substanzen besprochen werden. Das wichtige Gebiet der pädiatrischen Onkologie ist nicht Inhalt des Artikels. Spezielle pharmakologische Gharakteristika gelten für die monoklonalen Antikörper, und da die Datenlage hier noch sehr dünn ist, werden diese Substanzen nicht aufgeführt.

Wie dosieren wir Onkologika zur Zeit? Klassische Zytostatika

Die klassischen Zytostatika weren traditionellerweise nach Körperoberfläche (BSA) dosiert. Die Berechnung der BSA Im Artikel verwendete Abkürzungen: 5-FU 5-Fluorouracil AUC Area under the concentration time curve BSA Body surface area CYP Cytochrom-P-450-System DPD Dihydropyrimidin-Dehydrogenase GIST Gastrointestinaler Stromatumor HDMTX Hochdosiertes Methotrexat HNO Hals-Nasen-Ohren PgP P-Glykoprotein PK Pharmakokinetik PD Pharmakodynamik TDM Therapeutisches DrugMonitoring TKI UGT ZNS

Tyrosinkinase-lnhibitor UDP-Glukuronosyltransferase Zentrales Nervensystem DOl 10.1024/1661-8157/a001516

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geht auf die Formel von Du Bois zurück, die an neun Probanden entwickelt wurde [1] und bekanntermassen bei kleiner Körpermasse unzuverlässig ist. Eine wichtige Funktion nimmt die Dosierung nach BSA ein bei der Extrapolation präklinischer Dosierungen in Tiermodellen auf erste Humanstudien. Die BSA-basierte Dosierung der klassischen Zytostatika, vne wir sie im klinischen Alltag verwenden, berücksichtigt allerdings nicht die individuellen Unterschiede im Arzneimittelstoffwechsel, und innovativere Dosierungsalgorithmen sind gefragt. Bei den klassischen Zytostatika wurde gezeigt, dass die Dosierung nach BSA keine Verbesserung der individuellen Variabilität der Plasmakonzentrationen verschiedenster Zytostatikasubstanzen bringt [2]. In Abbildung 1 sind die verschiedenartigen Faktoren dargestellt.

die schlussendlich die systemische Exposition gegenüber einem Arzneimittel (Onkologikum) beeinflussen. Molekular-zielgerichtete Inhibitoren verschiedener Signaltransduktionen In diese Gruppe gehören die oralen Kinaseinhibitoren wie etwa Erlotinib (Tarceva®), Sunitinib (Sutent®), Vemurafenib (Zelboraf®) und Imatinib (Glivec®), die mTOR-Inhibitoren oder die endokrinen Substanzen wie etwa Tamoxifen (Tamec®), Letrozol (Femara®), Goserelin (Zoladex®) und Abirateron (Zytiga®). Diese Substanzen werden in einer Einheitsdosis verabreicht. Der überwiegende Teil dieser Arzneimittel wird hepatisch metabolisiert, wobei die hepatischen Phase-I-Enzyme des Cyto-

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chrom-p450-Systems (CYP) eine grosse Rolle spielen; zuweilen erfolgt auch eine hepatisch-vermittelte Aktivierung der Muttersubstanz, wie z.B. im Falle von Tamoxifen. Da der überwiegende Anteil dieser Arzneimittel oral verabreicht werden, ergeben sich zusätzliche Interaktionen, insbesondere mit gleichzeitiger Nahrungsaufnahme. Dabei ist die orale Absorption eines Arzneimittels abhängig von dessen physikahsch-chemikalischer Löslichkeit und Metabolisierungsstatus ('Abb. 2) [3]. Insgesamt ist die Absorption als Folge der gleichzeitigen Nahrungsaufnahme entweder verzögert, verringert (Klasse 3), gesteigert (BGasse 2) oder unbeeinflusst (Klasse 1). Die oralen TKI (Tyrosinkinase-Inhibitoren) sind Klasse-2-Arzneimittel mit tiefer Löslichkeit, guter Permeabilität und ausgeprägter hepatischer Metabolisierung, und die

Arzneimittel-Faktoren

Applikationsweg, Zykluslänge, Compliance

Vortherapie Krankheitsfaktoren Tumor, Lebermetastasen Aszites, ECOG, Kachexie, Infekte

Patientenfaktoren

Geschlecht, Ethnizität, Gewicht, Menopausenstatus etc.

Genotyp Körperoberfläche (BSA)

Systemische Exposition

DNA-Polymorphismen metabollsierender Enzyme Transporter

Patientenverhalten

Comedikation

CYP-Induktoren/-Inhibitoren, Antiepileptika Labor

Ernährung, alternativtherapeutische Massnahmen, Raucherstatus, Alkohol, Bewegun

Leber- und Nierenfunktion Bindungsproteine, Hämatokrit

Abb. 1: Einfluss verschiedenartiger Faktoren auf die individuelle, pharmakokinetische Variabilität onkologischer Behandlungen. Eastern Cooperative Oncology Group (ECOGj-Performancestatus.

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Biopharmaceutics Drug Disposition Classifikation System (BDDCS) Hohe Löslichkeit

Tiefe Löslicbkeit

Klasse 1

Klasse 2

Höbe Löslichkeit Ausgeprägter Metabolismus

Tiefe Löslichkeit Ausgeprägter Metabolismus

(U

00 Q-"5 tu J3



Klasse 3

Klasse 4

Hohe Löslichkeit Geringer Metabolismus

Tiefe Löslichkeit Geringer Metabolismus

Abb. 2: Biopharmaceutics Drug Disposition Classification System (BDDCS) und der Einfluss einer fettreichen Mahizeit auf Bioverfügbarkeit (F) und Zeitpunkt der Spitzenspiegel (Tmax). Modifiziert nach [2].

gleichzeitige Nahrungsaufnahme führt zu einer erhöhten Bioverfugbarkeit, teils vielfach erhöhten Plasmakonzentrationen und möglichen Nebenwirkungen.

Mögliche Massnahmen zur individualisierten Dosierung Genotypisierung Fluoropyrimidin Klassisches Beispiel für den Wert einer prätherapeutischen Genotypisierung ist die Behandlung mit Fluoropyrimidinen (intravenöses 5-FU (Fluorouracil Sandoz®), orales Capezitabine (Xeloda®)). Diese Substanzklasse wird über das Enzym DPD (DihydropyrimidinDehydrogenase) abgebaut, und verschiedene Polymorphismen der Keimbahn-DNA führen zu eingeschränkter DPD-Funktion, supratherapeutischen Plasmakonzentrationen und möglichen Nebenwirkungen. Rund 50-70% der Träger eines DPD-Risikoallels (Muta-

tionen, welche zu einer verminderten DPD-Funktion fuhren) erlitten schwere Toxizitäten unter einer Behandlung mit Capezitabine, und diese Patienten bedürfen einer 25-50%igen Dosisreduktion von Gapezitabine [4]. Aktuell laufen auch in der Schweiz Studien zur Testung und Implementierung einer prätherapeutischen Genotypisierung in Patienten mit fortgeschrittenen, kolorektalen Tumoren (FloxTox, NCT01641458). Irinotecan (Campto®) Es gibt in der Onkologie weitere Beispiele wie etwa der *28 Polymorphismus in der Promoterregion von UGTIAI, einem Enzym, das den aktiven Metaboliten von Irinotecan (SN-38) glukuronidiert und damit ausscheidungsfähig macht. Ein partieller Verlust der UGTl AI-Aktivität führt zu einer verzögerten Ausscheidung und damit supratherapeutischen Plasmakonzentrationen von SN-38, und einem hohen Risiko febriler Neutropenien und schwerer Diarrhö [5]. Aktuell wird die prätherapeutische UGTIAI-Geno-

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typisierung in den USA mindestens bei der dreiwöchigen Applikation von Irinotecan empfohlen. Tamoxifen (Tamec®) Tamoxifen wird durch GYP2D6, weniger CYP2C19, in die aktiven Metaboliten 4-Hydroxy-Tamoxifen und Endoxifen umgesetzt. Individuen mit einer genetisch bedingten Minderaktivität von GYP2D6 (rund 10% der kaukasischen Bevölkerung) könnten also eine eingeschränkte klinische Wirksamkeit von Tamoxifen erfahren, wobei die Resultate retrospektive Studien in Brustkrebspatientinnen uneinheitlich sind [6], was dazu führte, dass gemäss St. Gallen-Konsensuskonferenz 2013 eine GYP2D6-Testung für Brustkrebspatientinnen nicht empfohlen wird. Hauptsächliche methodologische Ursachen für die uneinheitlichen Datenlage sind: 1. Inkonsistente und teils fehlerhafte phänotypische Interpretation des CYP2D6-Genotyps, 2. unvollständige Erfassung des CYP2D6 (2G19) Genotyps, 3. inadäquate Bioanalytik, insbesondere Genotypisierung in archiviertem Tumorgewebe, 4. Einschluss älterer Studien mit hohem Anteil an ER-unbekannten Tumoren, 5. fehlende Erfassung von CYP2D6-interagierender Komedikation. Die erste prospektive Studie bei >250 Brustkarzinompatientinnen steht kurz vor der Beendigung der Rekrutierungsphase (GYPTAMBRUT-2, NGT00965939). Sollte sich ein klinisch-relevanter Einfluss des CYP2D6-Genotyps auf die klinische Aktivität von Tamoxifen erhärten lassen, könnte die Genetik als Zusatzfaktor zur Selektion zwischen Tamoxifen respektive Aromataseinhibitoren herangezogen werden. Unklar bleibt ebenfalls, ob Patientinnen mit genetisch eingeschränkter Aktivierungskapazität von einer höheren Tagesdosis Tamoxifen profitieren.

Therpeutisches Drug Monitoring Die TDM soll gewährleisten, dass die Exposition gegenüber dem Arzneimit-

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tel (Onkologikum) mittels Bestimmung der Plasmakonzentration ins therapeutische Fenster fällt, also den mittleren Bereich zwischen minimal-effektiver Exposition und maximal-tolerierter Exposition. Dies führt schlussendlich zu einer Verbreiterung der Dosisverteüung, und zu einer Maximierung des klinischen Effektes (Abb. 3) [7]. Fluoropyrimidine Eluoropyrimidine werden in der Onkologie sehr breit eingesetzt, v.a. bei gastrointestinalen Tumoren, HNO- und Brusttumoren. Das therapeutische Drug Monitoring (TDM) bezeichnet die Bestimmung von Plasmaspiegeln verabreichter Arzneimittel zur Dosisanpassung mit dem Ziel, eine vorbestimmte Arzneimittelexposition zu erreichen. Letztere kann z.B. eine bestimmte Plasmakonzentration im «steady-state» sein

(kontinuierlich verabreichte Onkologika), Spitzenkonzentrationen unmittelbar nach Verabreichung des Arzneimittels, eine angestrebte Exposition gemessen an der AUC, oder die Zeit über einem bestimmten Schwellenwert. Für die Anwendung von TDM müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein, etwa starke individuelle Schwankungen der Arzneimittelkonzentrationen im Plasma oder Blut, das Vorhandensein eines validierten Testverfahrens zur Bestimmung der Plasmakonzentration, ein fundiertes Verständnis bezüglicb des angestrebten PKZielbereiches und den Zeitpunkten, an welchen die Arzneimittelkonzentration gemessen werden soll. Die Arbeitsgruppe um Gamehn konnte 2008 zeigen, dass die randomisierte Anwendung von TDM gemäss einem vordefmierten Dosisalgorithmus zu einer besseren Wirksamkeit bei geringerer Toxizität von intravenös

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verabreichtem 5-FU führt [8]. Im Falle von 5-FU werden die Plasmaspiegel typischerweise am Ende der Zweitagesinfusion (Schema nach deGramont) bestimmt, wenn der Patient zum Abbängen der Infusionspumpe ins Spital kommt. Hier hat sich über die Zeit ein entsprechender Algorithmus zur Dosisanpassung von 5-FU etabliert (Tab. 1) [9]. Hochdosiertes Methotrexat (Methotrexat Farmos®) HDMTX (hocbdosisertes Metbotrexat) ist die einzige Situation in der adulten Onkologie, in welcber routinemässig tberapeutisches Drug-Monitoring eingesetzt wird. Bezweckt wird die Früberkennung von Patienten mit verzögerter renaler Elimination von HDMTX, wodurch es zu lebensgefährlicher Toxizität, insbesondere Mukositis und Myelosuppression kommen kann. Um solche Nebenwirkungen zu vermeiden, wird 24 Stunden nach Gabe von HDMTX das natürliche Antidot «Leukovorin» verabreicht. Zeigt sich in den tägHch ab dem zweiten Tag durchgeführten TDM-Messungen ein

Aktivität, Toxizität

Tab. 1: Dosisalgorithmus für 5-FU EKpositioii

Frequenz

(a) Aktuelle Dosierung: MTD

17%

EKpositior

Dosis

Therapeutisches Drug Monitoring

5-FU AUC (mg*h/L)

Dosisanpassung

>40

-30%

37-39

-25%

34-36

-20%

31-33

-10%

20-30

keine Dosisänderung

17-19

+^0%

14-16

+20%

11-13

(b) Optimierte Dosierung

-1-30%

Exposition

Abb. 3: Konventionelle a) gegenüberTDM-basierter b) Dosierung in der Onkologie, a) Die konventionelle Dosierung mit der maximal tolerierten Dosis (MTD) führt - bei einer durchschnittlichen PK-Variabilität von 35% - zu einem Anteil von 45% innerhalb des therapeutischen Fensters, während 38% der Patienten unterhalb der minimal-eftektiven Exposure (MEE) und 17% über der maximal-tolerierten Exposure (MTE) liegen, b) Die MTD-basierte Dosierung führt zu einer Reduktion der PK-Variabilität auf 10%, und einer deutlichen Verbesserung des Anteils an Patienten innerhalb des therapeutischen Fensters. Modizifiert nach [7].

5-FU-spezifische Toxizität CTC Grad >2: - CTC Grad 2 Toxizität: -10% Dosis - CTC >3 Toxizität: -25% Dosis (nach Erholung) Bei AUC

[Role of individualized dosing in oncology: are we there yet?].

Il n'existe pas de traitement personnalisé du cancer sans individualisation de la dose. La détermination de la dose de chimiothérapie tenant compte de...
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