Leitthema Ophthalmologe 2014 · 111:10–14 DOI 10.1007/s00347-013-2911-1 Online publiziert: 19. Januar 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

N. Feltgen1 · P. Franko Zeitz2 1 Universitäts Augenklinik, Göttingen 2 Praxis Zeitz Franko Zeitz, Düsseldorf

Vaskuläre Netzhauterkrankungen als Spiegel generalisierter Gefäßveränderungen Was können wir voneinander lernen?

Bei vaskulären retinalen Veränderungen sind die zugrunde liegenden Systemerkrankungen entweder bereits bekannt oder diese werden erstmals durch die retinalen Veränderungen festgestellt. Patienten mit vaskulären Funduserkrankungen müssen meistens interdisziplinär betreut werden, sodass sich die Frage stellt, welche Untersuchungen erforderlich sind und welche Fachdisziplinen in die Abklärung der Risikofaktoren oder die Behandlung mit einbezogen werden müssen.

Hypertensive Retinopathie Die hypertensive Retinopathie entsteht auf dem Boden einer arteriellen Hyper­ tonie mit vaskulären Veränderungen der Netzhautgefäße, der Aderhautgefäße und des N. opticus. Man unterscheidet die rein vaskuläre Form (retinale arterielle Hyper­ tension) von der selteneren parenchyma­ tösen Form (hypertensive Retinopathie; [1, 2]). Unter einer hypertensiven Retinopa­ thie versteht man direkte Gefäßverän­ derungen, die mit Cotton-wool-Herden, harten Exsudaten, retinalen Blutungen und einem zystoiden Makulaödem ein­ hergehen können. In der Folge und mit steigendem Blutdruck kann es dann auch zu einer Beeinträchtigung der Aderhaut und des Sehnerven kommen. Die hyper­ tensive Chorioidopathie umfasst fleckför­ mige Chorioidalinfarkte mit konsekutiver fibrinoider Nekrose des Pigmentepithels

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(Elschnig-Flecken im Zentrum) oder mit pigmentierten Flecken entlang der Ader­ hautgefäße (Sigrist-Streifen in der Peri­ pherie). Die hypertensive Optikoneuro­ pathie ähnelt einer Stauungspapille. Die neuste Einteilung nach Wong und Mitchell [3] ist anhand der Ausprägung dreigeteilt und ermöglicht auch Aussagen zum kardiovaskulären Risiko (. Tab. 1). In einer 2005 publizierten Metaana­ lyse betrug die Prävalenz der arteriel­ len Hypertonie der erwachsenen Bevöl­ kerung im Jahr 2000 ungefähr 26%, was ca. 1 Mrd. Menschen entspricht. Bis zum Jahr 2025 wurde eine Wachstumsrate um 60% prognostiziert [4]. Die Inzidenz hy­ pertensiver Fundusveränderungen be­ trägt ca. 10%. Die Bedeutung der Fundusuntersu­ chung hat in den vergangenen Jahren im­ mer wieder zu Diskussionen zwischen den Fachdisziplinen geführt. Dabei stand die Frage des systematischen Fundus­ screenings bei Hypertonikern im Fokus. Die Aussagekraft der Befunde als Hinweis auf eine arterielle Hypertonie hängt vor allem vom Ausmaß ab [5]. Die Sensitivi­ tät der retinalen arteriellen Hypertension zum Nachweis einer arteriellen Hyperto­ nie ist niedrig und beträgt zwischen 3 und 21%. Selbst bei Auswertung von Fundus­ fotografien können rein vaskuläre retina­ le Veränderungen nicht zuverlässig nach­ gewiesen werden. Veränderungen im Sin­ ne einer hypertensiven Retinopathie be­ sitzen eine wesentlich höhere prognos­ tische Bedeutung. Falls parenchymatöse Veränderungen nachweisbar sind, ist das

Risiko einer ischämischen Herzerkran­ kung verdoppelt, das Risiko einer zereb­ ralen Ischämie sogar um den Faktor 2–4 erhöht [6]. Von der anderen Seite betrach­ tet ist das relative Risiko für die Entwick­ lung einer moderaten oder malignen hy­ pertensiven Retinopathie beim Vorliegen einer arteriellen Hypertonie sowohl für Frauen (Faktor 1,6) als auch für Männer (Faktor 2,3) relativ gering. Diese Befun­ de haben dazu geführt, dass in den euro­ päischen Richtlinien zur Diagnostik und Therapie der arteriellen Hypertonie die Fundusuntersuchung nicht mehr routi­ nemäßig bei allen Patienten mit arteriel­ ler Hypertonie durchgeführt wird, son­ dern nur noch bei fortgeschrittenen Sta­ dien der arteriellen Hypertonie und bei Hypertonikern mit Sehstörungen [7]. Vereinzelt stellen sich Patienten mit Bluthochdruckentgleisung oder hyper­ tensiver Krise aufgrund der Sehstörungen primär beim Augenarzt vor, ohne dass die arterielle Hypertonie bislang bekannt ist. Häufig werden dann auch Kopfschmer­ zen angegeben. Bei einem beidseitigen Befund mit hypertensiven vaskulären und parenchymatösen Veränderungen, Kopf­ schmerzen und Sehstörungen ist eine hy­ pertensive Krise sehr wahrscheinlich. Die Verdachtsdiagnose kann mittels einer Blutdruckmessung bereits in der augen­ ärztlichen Praxis erhärtet werden.

Diabetische Retinopathie Obwohl die Diagnose als auch die Be­ handlung des Diabetes mellitus deutlich

Tab. 1  Einteilung der okulären hypertensiven Veränderungen. (Nach Wong und Mitchell [3]) Einteilung nach Wong and Mitchell Milde hypertensive – Verdünnte Arterien Retinopathie – Arteriovenöse Kreuzungszeichen – Verbreiterte Reflexe (Kupfer-, Silberdrahtarterien) Moderate hyperten- – Retinale Blutung sive Retinopathie – Mikroaneurysmen – Cotton-wool-Herde –Harte Exsudate (Makulastern) – Retinales Ödem Maligne hyperten­ – Zusätzlich Papillenschwellung sive Retinopathie

verbessert wurden, stellt die diabetische Retinopathie aufgrund der demografi­ schen Entwicklung und der geänderten Ernährungsgewohnheiten weiterhin eine häufige Erblindungsursache in Industrie­ nationen dar. In Deutschland ist die Prä­ valenz von 4,9% im Jahr 1988 bis 6,9% im Jahr 2001 gestiegen [8, 9]. Weltweit wird ein Anstieg von derzeit ca. 200 Mio. Be­ troffenen auf 366 Mio. im Jahr 2030 er­ wartet. Diese Zahl ist deshalb bedeutsam, weil ca. 30% aller Menschen mit Diabe­ tes mellitus Zeichen einer Retinopathie zeigen. Die Erkrankungsdauer hat einen entscheidenden Einfluss auf das Ausmaß der diabetischen Retinopathie [10]: Nach 25 Jahren entwickeln nahezu alle Diabe­ tiker (89%) eine Form der Retinopathie, 29% haben ein Makulaödem in der Fluo­ reszenzangiographie und 17% ein klinisch relevantes Makulaödem mit Visusverlust. Das Lebenszeitrisiko einer visusbedro­ henden Retinopathie ist bei Typ-1-Diabe­ tes (50%) höher als bei Typ-2-Diabetikern (33%; [11]).

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Nach 25 Jahren entwickeln nahezu alle Diabetiker eine Form der Retinopathie Hauptindikator für die Blutzuckereinstel­ lung ist das Glykohämoglobin (HbA1c), der das Niveau der Blutzuckereinstellung während der vergangenen 8 Wochen an­ gibt, was der Lebenszeit der Erythrozyten entspricht. Der Normbereich eines NichtDiabetikers liegt zwischen 4 und 6%. Au­ ßerhalb der Augenheilkunde galt eine schnelle und konsequente Blutzuckersen­ kung als erstrebenswert. Seit den Ergeb­ nissen der Action to Control Cardiova­

Geringes Risiko   für kardiovaskuläre Mortalität Hohes Risiko für   kardiovaskuläre   Mortalität

Mit Mortalität   assoziiert

scular Risk in Diabetes (ACCORD)-Stu­ die muss diese generelle Empfehlung hin­ terfragt werden, da bei schneller Blutzu­ ckersenkung eine erhöhte Mortalität be­ obachtet wurde [12]. Vor allem junge Pa­ tienten ohne Begleiterkrankungen schei­ nen aber von einer konsequenten Blutzu­ ckereinstellung zu profitieren. Diese Op­ timierung sollte nicht zu schnell erfolgen, da es sonst zu einem Fortschreiten der Re­ tinopathie kommen kann („early worse­ ning“). In diesem Zusammenhang ist be­ sonders zu beachten, dass bei Patienten im proliferativen Stadium die panretina­ le Laserung zunächst abgeschlossen wird, bevor die konsequente Blutzuckereinstel­ lung erfolgt, wie es im Diabetes Control and Complications Trial (DCCT) emp­ fohlen wurde, weil es sonst zu einer Zu­ nahme der Proliferationen kommen kann. Alle größeren Diabetesstudien konnten einen klaren Zusammenhang zwischen der Blutzuckereinstellung und der verminderten Progression der Reti­ nopathie/des dia­betischen Makulaödems zeigen (DCCT [13], DRS [14], ETDRS [15], WESDR [16, 17] und UKPDS [18]). Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um einen Typ-I- oder Typ-II-Diabetiker handelt. In der WESDR konnte auch gezeigt wer­ den, dass bereits eine Senkung des HbA1c um 1% das Risiko signifikant reduziert, innerhalb von 6 Jahren eine Progression der Retinopathie, einen Visusverlust, eine Nephropathie, eine Amputation der Ext­ remitäten oder eine kardiovaskuläre Mor­ talität zu erleiden. Die Grenze des schä­ digenden HbA1c scheint ungefähr bei 8% zu liegen. Auch nach Umstellung auf eine konsequente Therapie braucht der Patient Geduld. In der Regel zeigen sich die Er­ folge der intensivierten Blutzuckereinstel­

lung erst nach einer Zeitspanne von 3 Jah­ ren. Die Ergebnisse der DCCT und der UKPDS haben auch bei der Formulierung der amerikanischen Leitlinien zur Diabe­ testherapie dazu geführt, dass ein mittle­ rer HbA1c von 7% als Zielwert angestrebt werden sollte. Allerdings erreichen auch heute noch deutlich weniger als die Hälfte aller Patienten einen solchen Wert. Die Rolle der begleitenden arteriel­ len Hypertonie wurde in Risikoanalyse­ studien mit langer Nachbeobachtungs­ zeit untersucht. In der WESDR erhöhte ein Anstieg des diastolischen Blutdrucks um 10 mmHg das Risiko, innerhalb von 4 Jahren ein Makulaödem zu entwickeln, um den Faktor 3 bei Typ-I-Patienten und um den Faktor 2 bei Typ-II-Patienten. In der englischen UKPDS konnte pro mitt­ lere Senkung des systolischen Blutdrucks um 10 mmHg das Risiko für mikrovasku­ läre Komplikationen um 13% gesenkt wer­ den. In einer Teilstudie mussten durch die konsequente Senkung des Blutdrucks im Vergleich zur Kontrollgruppe 42% Pa­ tienten weniger mittels Photokoagulati­ on behandelt werden, 25% hatten weni­ ger Progression der Retinopathie. Die Er­ gebnisse wurden durch die kürzlich pu­ blizierte ADVANCE-Studie verifiziert, die den mittleren und maximalen systo­ lischen Blutdruck als Risikofaktor für ma­ kro- und mikrovaskuläre Komplikationen bei Patienten mit Typ-II-Diabetes identi­ fizierte [19]. In einer kleinen prospektiven dänischen Publikation zeigte eine inten­ sivierte Behandlung (Ernährungsumstel­ lung, konsequente Optimierung von Blut­ zucker, Bluthochdruck, Lipidämie und Mikroalbuminurie) nach 3 Jahren signifi­ kant weniger Fortschreiten der Retinopa­ thie als bei einer nach Leitlinien behandel­ ten Patientengruppe [20]. Ein prognostischer Effekt wurde der Anzahl der bei Erstuntersuchung festge­ stellten Mikroaneurysmata zugeschrie­ ben. In einer Studie aus Dänemark korre­ lierte die Krankheitsprogression mit der Anzahl der initial festgestellten Mikroan­ eurysmata. Die milden Formen der Re­ tinopathie konnten in der DIRECT-Pro­ tect-Studie durch die Gabe des Angioten­ sin-II-Rezeptorantagonisten Candersar­ tan zurückgedrängt werden [21]. Die Er­ gebnisse sind allerdings nicht unumstrit­ ten, sodass eine Candersartan-Behand­ Der Ophthalmologe 1 · 2014 

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Zusammenfassung · Abstract lung nur in Absprache mit dem Diabeto­ logen erfolgen sollte.

Retinaler Venenverschluss Der retinale Venenverschluss stellt nach der diabetischen Retinopathie die zweit­ häufigste vaskuläre retinale Erkrankung dar. Weltweit sind ca. 16 Mio. Menschen betroffen, die Prävalenz liegt zwischen 0,3 und 3,7%, die 10-Jahres-Inzidenz beträgt zwischen 1,6 und 2,1%, und der Altersgip­ fel liegt zwischen 60 und 70 Jahren [22]. Die systemischen Begleiterkrankungen entsprechen denen arterieller Verschluss­ erkrankungen, weshalb man auch die ty­ pischen kardiovaskulären Risikofaktoren nachweisen kann. Patienten mit kardio­ vaskulären Risikofaktoren erleiden nicht nur 3- bis 5-mal häufiger einen retinalen Venenverschluss (RVV), diese sind auch häufiger ischämisch. In absteigender Häu­ fung bestehen begleitend arterielle Hyper­ tonie, Nikotinabusus, koronare Herzer­ krankung, Hyperlipidämie und Diabetes mellitus. In einer aktuellen Metaanaly­ se der Framingham-Studiengruppe wur­ de der Einfluss bestimmter Risikofakto­ ren auf die Entstehung eines RVV unter­ sucht (Alter, Geschlecht, Cholesterinwer­ te, arterielle Hypertonie und Nikotin­ abusus; [23]). Der Framingham-RisikoScore (FRS) zur Beurteilung des Risikos, innerhalb von 10 Jahren eine kardiovas­ kuläre Erkrankung zu erleiden, kann in 3 Kategorien eingeteilt werden: 1. niedriges kardiovaskuläres Risiko (

[Retinal vascular diseases reflecting generalized vascular alterations. What can be mutually learnt?].

Retinal vascular diseases are mostly caused by systemic vascular diseases. In some cases the systemic disease is already known but in other patients o...
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