Leitthema Orthopäde 2015 · 44:435–444 DOI 10.1007/s00132-015-3122-z Online publiziert: 30. Mai 2015 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

G. Dwornik1 · T. Weiß2 · G.O. Hofmann1,3 · L. Brückner1,4 1 Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Berufsgenossenschaftliche

Kliniken „Bergmannstrost“ Halle (Saale), Halle (Saale), Deutschland 2 Institut für Psychologie, Biologische und Klinische Psychologie, Friedrich-Schiller-Universität

Jena, Lehrstuhl für Biologische und Klinische Psychologie der FSU Jena, Jena, Deutschland 3 Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie, Friedrich-

Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland 4 Moritz Klinik Bad Klosterlausnitz, Bad Klosterlausnitz, Deutschland

Stumpf- und Phantomschmerzen Ursachen und Therapieansätze Die Amputation von Körperteilen kann mit verschiedenen Schmerzsensationen einhergehen. Dies ist keine Erkenntnis aus neuerer Zeit, sondern wurde schon in der Mitte des 16. Jahrhunderts durch den französischen Chirurgen und Militärarzt Ambroise Paré beschrieben. 1871 wurde erstmals der Begriff „Phantomschmerz“ in den medizinischen Studien zum Amerikanischen Bürgerkrieg durch S.W. Mitchell verwendet.

Einleitung Alle Schmerzen nach Amputationen dem Phantomschmerz gleichzusetzen ist nicht korrekt. Sie werden als Postamputationssyndrom zusammengefasst [7] und definieren sich in Stumpfschmerzen, Phantomsensationen und Phantomschmerzen [7, 20]. Diese Phänomene treten nicht nur an Extremitäten auf, wobei diese am häufigsten betroffen sind, sondern können auch bei Verlust anderer Körperteile, wie Zähne, Brust oder Rektum auftreten [20]. Stumpfschmerz und Phantomschmerzen werden nach Baumgartner [2] zu den schweren Komplikationen beim Amputierten gezählt, die auch bei bestmöglicher operativer Technik nicht immer vermeidbar sind. Dies sollte ins aufklärende Gespräch einbezogen und dem Patienten ausführlich erklärt werden. Die Patienten können einen langen Leidensweg durchlaufen. So wurde in einer Untersuchung der Schmerzambulanz am Klinikum Bergmannsheil Bochum an 379 Patienten

mit Phantomschmerzen im Jahr 1990 eine 14-jährige Vorbehandlungszeit festgestellt, ehe sich die Patienten in dieser Ambulanz vorstellten. Dabei waren sie im Schnitt von zehn Ärzten vorbehandelt [21]. Das Auftreten von postoperativen Schmerzen (post amputationem) muss demzufolge eindeutig differenziert werden. Daraus resultiert entweder eine konservative oder operative Behandlung. Wir haben im Folgenden eine klare Differenzierung in Stumpf- und Phantomschmerzen vorgenommen, wobei es auch gegenseitige Abhängigkeiten gibt. Im 1. Teil – Stumpfschmerz – wird aus unserer Erfahrung aus der Spezialsprechstunde für Amputierte und Prothesenversorgung an den Berufsgenossenschaftlichen Kliniken Bergmannstrost berichtet. Im 2. Teil – Phantomschmerz – wird Prof. Weiss/Uni Jena über seine theoretischen und praktischen Erfahrungen berichten. Zusammenfassend wird der Artikel von den umfangreichen klinischen Kenntnissen von PD Dr. L. Brückner begleitet.

55Phantomschmerzen.

Stumpfschmerz

Das Vorkommen von Stumpfschmerzen ist nicht selten

Wie stellen sich Stumpfschmerzen dar? Wie erwähnt, sind Stumpf- und Phantomschmerz nicht gleichzusetzen. Es ist zu unterscheiden in: 55Stumpfschmerz, 55Phantomsensationen/-gefühl,

Eine weitere Unterscheidung ermöglichen die folgenden Begrifflichkeiten: 55unmittelbarer postoperativer Schmerz, 55intrinsischer Schmerz, 55extrinsischer Schmerz. Unmittelbar postoperativer Schmerz ist mit dem chirurgischen Trauma an Knochen, Nerven und Weichteilen begründet. Er wird häufig als scharf beschrieben, befindet sich im Wundbereich und ist für gewöhnlich selbst limitierend. Der extrinsische Schmerz begründet sich in äußeren Faktoren, zumeist einer unzureichenden exoprothetischen Versorgung. Er ist Ausdruck einer Disharmonie zwischen der herabgesetzten Belastbarkeit des Stumpfes und der Belastung, die durch die Prothese entsteht. Der intrinsische Schmerz wiederum wird durch innere Faktoren, wie die eventuell bestehende Grunderkrankung, knöcherne Veränderungen, Narben, Neurome oder neuropathische Phänomene verursacht [34].

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Stumpfschmerzen treten im noch verbliebenen Körperteil (Stumpf) auf und werden, entsprechend ihrer Ursache als scharf, brennend, elektrisierend oder druckempfindlich beschrieben und können im oberflächlichen Narbenbereich, Der Orthopäde 6 · 2015 

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Leitthema Tab. 1  Ursachen für Stumpfschmerzena Chirurgisch zu sanieren Knöcherne Ausziehungen/Exostosen (. Abb. 1) Hautläsionen/Ulzerationen Durchblutungsstörungen Osteitis/Osteomyelitis/Abszess Störendes Narbengewebe/flächenhafte Meshgraft Neurom oder nicht entfernte Nerven (. Abb. 5a und b) Hämatom/Serom Weichteilüberschuss (ohne physiologische Vorspannung der Muskulatur) (. Abb. 6) Schlechte Formung des knöchernen Stumpfendes Ungenaue Abstimmung der Knochenlängen bei Stümpfen mit zwei oder mehreren Knochen (z. B. Unterschenkel, Unterarm, Mittelfußknochen) Pseudobursabildung über knöchernen Stumpfende (. Abb. 7a und b)

Konservativer Therapie zugänglich Unzureichende exoprothetische Versorgung (. Abb. 2) Hautläsionen/Ulzerationen/Prothesenrandknoten (. Abb. 3 und 4) Narbengewebe/Meshgraft (. Abb. 4) Arthrose der angrenzenden Gelenke Hämatom/Serom Neurom (meist operative Therapie) (. Abb. 5a und b) Psychische Beeinflussung Hautallergien Weichteilüberschuss (durch neu geschaffene Unterstützung im Prothesenschaft oder Operation) (. Abb. 6) Stumpfschwankungen (entscheidend ist die Ursache, die die Therapie bestimmt)

Thrombose Hyperhidrose

aÜberschneidungen sind möglich. Eine Sonderstellung nimmt die psychische Beeinflussung bzw. Verstärkung

der Beschwerden ein.

in der Tiefe oder im gesamten Stumpf wahrgenommen werden. Wie Phantomschmerzen können Stumpfschmerzen über Jahre persistieren [19]. Das Vorkommen ist nicht selten, besonders in Verbindung mit unsachgemäßer Stumpfgestaltung.

Ursachen für Stumpfschmerzen Tabelle 1 gibt einen Überblick über mögliche Ursachen für Stumpfschmerzen.

Unzureichende Prothesenanpassung Das Thema der Prothesenanpassung füllt ganze Bücher. Die unzureichende Prothesenanpassung betrifft nicht nur den Orthopädietechniker, sondern auch die verordnende Ärzteschaft und letztendlich das ganze Therapeutenteam. Dabei ist es wichtig, dass Hand in Hand gearbeitet wird. Vor Anpassung der Prothese sollte die Frage gestellt werden, welche Prothese für die individuellen Bedürfnisse des Patienten die beste Lösung ist. Nützt dem Pa-

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tienten das beste (und teuerste) elektronische Kniegelenk, wenn er nicht damit zurecht kommt? Es ist also wichtig zu erfragen, welches Modell zuvor getragen wurde und welche Vor- und Nachteile dieses Modell bot. Ab und zu erfahren wir, dass die Patienten die Prothese in der Ecke stehen lassen. Aber auch nicht selten ist der Patient gut informiert und wünscht genau das Modell, welches er auf einer Messe präsentiert bekam. Hier gilt es, die Vorund Nachteile der einzelnen Modelle darzulegen und zu demonstrieren. Auch besteht die Möglichkeit, die verschiedenen Modelle im Alltag zu testen. Videoanalysen haben sich dabei nach unserer Erfahrung bewährt. Der Orthopädietechniker stellt für den Patienten einen der wichtigsten Vertrauenspersonen dar. Er wird stets bemüht sein, eine technische Lösung für die Bedürfnisse der Patienten zu finden. Aber er sollte auch genauso seine Grenzen kennen und frühzeitig intervenieren, wenn erkennbar ist, dass das ursächliche Problem nicht in der Prothese liegt und eine ärztliche Vorstellung notwendig wird. Dabei empfiehlt es sich grundsätzlich, den Tech-

niker in einer Spezialsprechstunde beiwohnen zu lassen und ihn über den Stand der ärztlichen Maßnahmen und Vorstellungen auf dem Laufenden zu halten. Kokegei [21] hat für den schmerzhaften Stumpf eine systematische Vorgehensweise aufgeführt: 55Allgemeinzustand des Patienten und Zustand des Stumpfes: zzAllgemeinerkrankungen, Medikamenteneinnahme, zzHautbeschaffenheit, Narben, zzStumpfbelastungs- oder Druckschmerz, zzDurchblutungssituation, zzEffloreszenzen, zzEntzündungszeichen, zztastbare Vorsprünge, zzBewegungseinschränkungen; 55Erwartungshaltung des Amputierten, 55Soziales Umfeld, 55Coping, 55Beschreibung der Schmerzen: zzStumpfschmerz/Phantomschmerz, zzDauerschmerz/Belastungsschmerz, zzLokalisation, zzzeitlicher Verlauf; 55Prothesenuntersuchung, 55Passformkontrolle, 55Gangbild.

Hautläsionen/Ulzerationen/ Prothesenrandknoten Die Qualität des Stumpfes steht und fällt mit der Haut [2]. Sie kann aufgrund von Hämatomen, Stumpfschwankungen, unzureichendem Sitz der Prothese – insbesondere bei Patienten mit Durchblutungsstörungen und Polyneuropathie –, Stauungsödemen durch falsche Wickeltechnik und Lagerungsschäden die Ursache für Probleme sein. Im Rahmen der konservativen Therapie sollten gewisse Voraussetzungen erfüllt sein: Geduld bei Patient und Behandler sowie eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Arzt und Orthopädietechniker. Die Wundbehandlung hat entsprechend der Wundheilungsstadien zu erfolgen (nach [13, 18]): 1. Beseitigung der Ursache und Debridement der Wunde: chirurgisch, enzymatisch, biologisch (z. B. Madentherapie) oder osmotisch (Hydrogele, Kalziumalginate).

Zusammenfassung · Abstract 2. Unterstützung der Entwicklung eines Granulationsrasens, z. B. mit Hydrokolloiden, Polymer- und Polyurethanschaumstoffverbänden oder Vakuumverbänden. 3. Unterstützung der Epithelialisierung, z. B. durch Hydrokolloide, semipermeable Polyurethanfolien. Der Patient sollte meistens über die Zeit der Wundbehandlung die Prothese nicht tragen. Hierüber ist er vorab aufzuklären. Prothesenrandknoten sind multiple kleine, pigmentierte Knötchen. Sie bilden sich durch chronischen Reiz am zu harten und nicht ausreichend ausgekragten Prothesenrand. Die Knötchen können an Größe zunehmen und ein ganzes Höhlensystem bilden. Atrophie und Mikroblutungen sind die Folge. In logischer Konsequenz bedarf dieses Problem einer Verbesserung von Form und Material des Schaftes, insbesondere in der Eingangsebene [3]. Bei der operativen Entfernung von Prothesenrandknoten ist ohne Neugestaltung der Schafteingangsebene Zurückhaltung geboten (. Abb. 3).

Narbengewebe/Meshgraft Die Spalthauttransplantation ist eine bewährte Technik zur Deckung kleinerer und größerer Haut- und Weichteildefekte und nicht selten unumgänglich nach ausgedehnten traumatischen und thermischen Verletzungen, aber auch nach Infektverläufen. Das Transplantat wird dabei ohne Gefäßanschluss verpflanzt und wird anfangs über Diffusion via Transplantatbett ernährt. Minderperfusion des Transplantatbettes und zunehmende Transplantatdicke können sich negativ auf die Einsprossung der Meshgraft auswirken [33]. Nachteile der Meshgraft sind das Fehlen von Talg- und Schweißdrüsen sowie der Sensibilität. Ein weiterer Nachteil ist das fehlende Fettpolster, wodurch die Verschiebbarkeit beeinträchtigt wird. Nervenstümpfe unter dem Spalthautareal sind besonders empfindlich. Spaltlappenhaut kann mitunter den Anforderungen eines Amputationsstumpfes genügen [3]. Das ist aber nicht immer der Fall, besonders am Fußstumpf nicht, und führt zu Nachamputationen.

Die konservative Behandlung von Meshgraft und Narben gleicht der Therapie von Brandverletzungen. Die Hautpflege sollte mittels medizinischer Bäder, Narbenmassage und Einfetten erfolgen. Im Weiteren ist die Kompressionsbehandlung notwendig. So soll zum einen das Wuchern, Härten und das Einreißen des Narbengewebes verhindert werden, zum anderen reduziert die Kompression den Juckreiz [11] und fördert die Ausrichtung der Kollagenfasern.

Hämatom/Serom Hämatome bzw. Serome treten unmittelbar postoperativ, posttraumatisch – z. B. nach Sturz auf den Stumpf – oder zunehmend unter dauerhafter Antikoagulationsbehandlung auf. Hämatom- oder Serombildung sollte von vornherein vermieden werden, da diese die Infektionsgefahr erhöhen [18], die Wundheilung verschlechtern und in bestimmten Fällen die Durchblutung des Stumpfes reduzieren können. Die Diagnose sollte schnell gestellt werden. Greitemann [18] benennt folgende prophylaktische Maßnahmen und Therapieoptionen. Prophylaxe: 55suffiziente Drainage (großvolumige Redon-Drainagen, ggf. EasyflowDrainagen), 55frühzeitiger Verbandwechsel durch Operateur, ggf. noch am Operationstag. Therapeutische Optionen: 55Hämatom- oder Serompunktion (unter sterilen Kautelen), 55operative Stumpfrevision.

Neurom Von der Meinung, dass Nerven sich nach Durchtrennung oder Entfernung nicht regenerieren können, ist man seit langem abgekommen. Vielmehr „sucht“ der Nerv sein Erfolgsorgan, das Axon wächst in die Peripherie, wobei das Perineurium als Leitschiene genutzt wird. Dabei kann es sich an den Kollagenfasern des umliegenden Narbengewebes auffasern und verknäulen – es entsteht das Neurom, die „Narbe“ des Nerven.

Orthopäde 2015 · 44:435–444 DOI 10.1007/s00132-015-3122-z © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 G. Dwornik · T. Weiß · G.O. Hofmann · L. Brückner

Stumpf- und Phantomschmerzen. Ursachen und Therapieansätze Zusammenfassung Einleitung.  Stumpf- und Phantomschmerzen sind schwere Komplikationen nach Amputationen. Die Ursachen der Schmerzen sind vielfältig. Zu unterscheiden sind Stumpfschmerzen, Phantomsensationen und Phantomschmerzen. Ursachen und Therapie.  Unsere Arbeit benennt häufige Ursachen von Stumpfschmerzen und geht im Speziellen auf die Möglichkeiten der konservativen Therapie ein. Außerdem soll eine Übersicht über die Pathophysiologie und die Therapie des Phantomschmerzes gegeben werden. Hierbei fließen die Erfahrungen aus unserer interdisziplinären Prothesensprechstunde und Erkenntnisse aus der langjährigen Betreuung amputierter Patienten ein. Schlüsselwörter Amputation · Amputationsstumpf · Schmerzen · Phantomschmerzen · Phantomsensation

Residual limb and phantom pain. Causes and therapeutic approaches Abstract Introduction.  Residual limb pain and phantom pain are severe complications following an amputation. Various reasons are responsible for these complaints. It must be distinguished between amputation stump pain, phantom sensations and phantom pain. Cause and therapy.  In this paper we describe the most common reasons for stump pain and propose some non-operative therapeutic approaches. Furthermore path physiology and phantom pain therapy will be discussed. The recommendations offered in this paper are based on practical experience over three decades in a specialized out-patient department for patients with amputation injuries. Keywords Amputation · Amputation stump · Pain · Phantom limb pain · Phantom sensation

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Leitthema

Abb. 2 9 Patient S.A. Der Tuberaufsitz der Prothese hebelt beim Sitzen nach vorn-oben, sodass der Patient z. B. im Auto fast liegen muss. Das Anziehen ist allein nicht möglich, da der Tuberaufsitz dorsal im Oberschenkel hemmt

Abb. 1 8 Patient O.B. Im Rahmen der Unterschenkelamputation keine Anschrägung der Fibula nach mediocaudal. Unzureichendes Ausspülen des dabei entstehenden Knochenmehls und liegen gebliebenes Periost begünstigen die Ausbildung von Ossifikationen an den knöchernen Stumpfenden

Schon im Rahmen des Primäreingriffes müssen Nerven soweit proximal wie möglich abgesetzt werden, um das Neurom nicht in der Stumpfbelastungszone zu haben.

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Die Behandlung von Neuromen kann sich schwierig gestalten Sowohl bei der Amputation als auch bei der Prothesenanpassung sollte darauf geachtet werden, dass Nerven nicht eingeengt werden [3]. Die Behandlung von Neuromen kann sich mitunter schwierig gestalten. Das Spektrum der medikamentösen Schmerztherapie reicht von den nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) über Opioide bis hin zu Antidepressiva und Antikonvulsiva, die sich durchaus bewährt haben. Ebenso lassen sich mit der Infiltration von Lokalanästhetika um das Neurom gute bis sehr gute Ergebnisse erzielen. Die operative Entfernung des Neuroms ist von einer Rezidivrate belastet. Dies ist aber bei ausreichender Kürzung des Ner-

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ven und seiner Verlegung außerhalb der Belastung von geringerer Bedeutung. Neuere Methoden gehen dahin, dem Nervenstumpf ein Erfolgsorgan zuzuordnen und ihn in tiefe Muskelschichten zu verankern.

Psyche In einer Untersuchung zur Angst und Depression nach Amputation der unteren Extremität fanden Seidel et al. [30] heraus, dass nur 9,1 % der Teilnehmer tatsächlich schmerzfrei sind. Psychisch belastende Situationen, Ängste oder psychische Vorerkrankungen können sich gegenseitig in ungünstiger Weise beeinflussen. Eine Reihe individueller Faktoren fließen dabei ein. Lange [23] zeigte dabei ein Modell der psychosozialen Anpassung auf, das den Grund für die Amputation, die Einschränkung der Funktionsfähigkeit, die soziale Unterstützung, psychische Vorerkrankungen, den sekundären Krankheitsgewinn und die posttraumatische Belastungsstörung bei der Entwicklung von Coping-Strategien berücksichtigt. Geschlechtsunterschiede bestehen dabei nicht [24, 30]. Hohes Alter kann sich sowohl positiv als auch negativ auswirken [24]. Wichtig ist, im Rahmen der Anamneseerhebung psychische Vorerkrankungen zu erkennen und ggf. entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Im schlimmsten Fall muss dem Patienten die Prothesenanpassung vorerst versagt bleiben. Genauso wichtig ist es, den normalen psychischen Bewältigungsprozess vor oder nach einer

Amputation zu kennen. Drei Phasen werden dabei benannt [29]: 1. Phase der Abwehr: Das belastende Ereignis wird verdrängt oder verleugnet. 2. Phase der Konfrontation: Es erfolgt die bewusste Verarbeitung. Emotionale Reaktionen, wie Trauer, aber auch Wut und Aggressivität sind möglich. 3. Phase der Akzeptanz. Die Phasen müssen nicht in strenger Reihenfolge ablaufen. Sie können auch mehrfach auftreten. Auch sollte man sich bewusst machen, dass Phase 1 durchaus Schutz vor psychischer Überlastung bietet. In Phase 2 muss der Betroffene dabei unterstützt werden, eine neue Sichtweise zu entwickeln. Panning [29] bemerkt im Weiteren, dass eine erfolgreiche Bewältigung nicht mit Phase 3 gleichzusetzen ist, sondern vielmehr ein dynamischer und flexibler Wechsel zwischen den Phasen stattfindet.

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Gruppentherapeutische Maßnahmen haben sich bewährt Wie ist es möglich, den Patienten zu unter­ stützen? Bewährt haben sich gruppentherapeutische Maßnahmen und eine multi­ disziplinäre Behandlung. In der Gruppe haben die Patienten die Möglichkeit, Erfahrungen auszutauschen und gegenseitig voneinander zu lernen. Hier besteht aber auch die Möglichkeit „emotionalen Frust“ loszuwerden. Patienten, die Ihren Frust unterdrücken, schieben ihn nicht selten

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Leitthema

Abb. 4 8 Patient M.W. Traumatische Amputation des rechten Unterschenkels. Einmalige Revisionsoperation. Vulnerable Narbenverhältnisse und Bildung eines Ulkus über der Stumpfspitze bei incomplianten Patienten Abb. 3 8 Patient N.W. operierte Prothesenrandknoten

Abb. 5 8 a, b Patient W.K. Neurom des N. tibialis, Nn. peronei und N. suralis. Zunächst konservativer Therapieversuch, bei Therapieresistenz operative Entfernung durchgeführt

Abb. 6 9 Patient A.B. Deutlicher Weichteilüberschuss. Hier wäre eine Revision ohne Kürzung des knöchernen Stumpfes möglich

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auf die unzureichende Prothesenanpassung [29]. Die Gruppentherapien können durch Einzelsitzungen ergänzt werden. In die Planung der Behandlung sollten möglichst alle Beteiligten eingeschlossen werden: Patient, Ärzte, Pflege, Orthopädietechniker, Physio- und Ergotherapeuten. Aber auch die Familie (und der Freundeskreis) sollten einbezogen werden. Sie bieten einen wichtigen Rückhalt. In der eigenen interdisziplinären Sprechstunde wird ebenso die Anwesenheit von Familienmitgliedern, aber auch die von Reha-Managern der Berufsgenossenschaften und Krankenkassen zugelassen. Oft sind mehrfache Vorstellungen notwendig, der Patient sollte zu keiner Entscheidung gedrängt werden. Es ist anzustreben, dass Rehabilitationsmaßnahmen in Einrichtungen stattfinden, die mit den Qualitätsanforderungen im Umgang mit Amputierten vertraut sind. Gefordert ist die rehabilitative Behandlung von mindestens 50 Patienten mit Majoramputation jährlich [10]. Aus wirtschaftlichen Aspekten heraus drängen die Kostenträger immer wieder zu vermeintlich günstigeren Rehabilitationseinrichtungen. Diese Sparmaßnahmen führen zu einer verzögerten Stumpfkorrektur, zu frühen prothetischen Versorgungen und fehlender Supervision durch den orthopädietechnisch erfahrenen Arzt, was sich am Ende in höheren Kosten niederschlägt.

Allergien Allergische Reaktionen sind auf viele Materialen möglich. Generell sollte das auslösende Agens detektiert und behandelt werden. Therapeutisch stehen die lokalen und systemischen Antiallergika zur Verfügung. Außerdem besteht aus orthopädietechnischer Sicht die Möglichkeit der Versorgung mit antiallergenen Weichwandinnenschäften.

Weichteilüberschuss Weichteilüberschuss ist häufig ein Zeichen unzureichender physiologischer Vorspannung der Muskulatur und/oder eines Hautüberschusses. Der Patient empfindet dabei eine zunehmende Empfindlichkeit des Stump-

Abb. 7 8 Patient M.F., a Auftreten von Schmerzen nach kurzer Belastung aufgrund fehlender ventraler Anschrägung des knöchernen Stumpfes. Dadurch Flüssigkeitsansammlung (Pseudobursa) ventral und schmerzhafter Druckpunkt ventrocaudal. Bis zur Vorstellung mehrfache frustrane Versuche der Prothesenanpassung. Operative Korrektur erfolgte. b Durch die fehlende Anschrägung der Tibia bildet sich an der Vorderkante eine schmerzhafte Pseudobursa (Pfeil)

fes, bis hin zum Stumpfschmerz [6], hervorgerufen durch zunehmende Fetteinlagerung in die Muskulatur mit Abnahme der Durchblutung. Häufig ist die operative Korrektur unumgänglich, zumindest sollten jedoch zuvor, aufgrund der periund postoperativen Risiken, auch konservative Maßnahmen in Form von Prothesenschaftanpassungen in Betracht gezogen werden. Zusätzlich wird die lokale Zirkulation beeinträchtigt. Infolgedessen kommt es zur Unterkühlung, lividen Verfärbung, Ödembildung und Druckempfindlichkeit [3]. Brückner [6] gibt eine Übersicht zur orthopädietechnischen Versorgung bei Weichteilüberschuss. Von einem Liner mit Pin ist dringend abzuraten, da es durch Bewegungen des Liners bei festgestelltem Pin – wo sehr oft nicht einmal die Stumpfachse mit dem Pinloch im Schaft übereinstimmt – im Schaft zur zusätzlichen Elongation der Weichteile kommt. Man wird erst konservativ vorgehen, d. h. durch entsprechende Wickelung bzw. anderweitige Kompression (angepasster Kompressionsstrumpf), um die Weichteile in eine günstige Form zu bringen. Dies lässt sich nicht immer realisieren. Dann wird vor einer operativen Korrektur über eine Probeprothese versucht, das Problem zu lösen. Zeigt sich, dass es nicht möglich ist, dann steht eine operative Korrektur zur Diskussion. Beachtet der Chirurg die physiologi­ sche Vorspannung der Muskulatur schon

bei der Amputation, so lässt sich dem Pro­ blem schon im Voraus entgegenwirken. Leider geschieht das noch zu selten. Das exakte Wickeln des Stumpfes hat trotzdem einen Einfluss auf die spätere Form des Stumpfes. Die exoprothetische Anpassung sollte nicht vor einer ausreichenden Stabilität der Narbe erfolgen. In der unmittelbaren postoperativen Phase ist besonders bei Unterschenkelstümpfen bei der Verordnung von Linern Vorsicht geboten. Die Patienten ziehen die Liner von ventral/distal nach dorsal/ distal an und lösen dabei durch Zug auf das Stumpfende die unter physiologischer Vorspannung stehenden, neuen Muskelansätze ab. Damit geht die physiologische Vorspannung verloren und die Muskulatur hängt schlaff nach dorsal durch (.  Abb. 6). Das ergibt einen erheblichen Qualitätsverlust des Stumpfes. Wir verordnen bei Unterschenkelstümpfen in der unmittelbar postoperativen Phase einen Weichwandinnenschaft, wobei der Spalt für den Einzugsstrumpf ventral liegen muss, um zusätzlich den dorsalen HautMuskel-Lappen zu unterstützen. Außerdem kann in der Frühphase (bis 6 Monate) der Prothesenversorgung besser nachgearbeitet werden. Im Rahmen der Definitivversorgung kann man evtl. auf einen Liner ohne Pin übergehen.

Stumpfschwankungen Die Ursachen für Stumpfschwankungen sind vielfältig (Herzinsuffizienz, Nierenerkrankungen/Dialysepatienten, prothesentechnisch bedingt, belastungsabhängig). Sie sind schwierig diagnostizierbar. Wichtig ist die Anamnese. Die Therapie richtet sich nach der Ursache. Bedeutung erlangt dabei die entstauende Therapie in der Frühphase nach der Amputation. Die richtige Wickeltechnik – diese wird selten indikationsgerecht gelehrt – oder der Stumpfstrumpf nach Maß sind gute Hilfsmittel. Der Patient und Angehörige müssen in der Wickeltechnik geschult werden [18].

Thrombose Postoperativ ist, aufgrund der erheblichen Weichteil- und Gefäßschäden, der Immobilisation des Patienten bzw. der verminderten Muskelpumpe, bei akut auftretendem Stumpfschmerz an die tiefe Venenthrombose (TVT) zu denken. Die Symptome sind: 55Schmerzen (eher dumpf, anhaltend bohrend), 55Schwellung, 55Spannungsgefühl, 55livide Verfärbung, 55vermehrte Gefäßzeichnung. Hinzu kommen die klinischen Zeichen (Homanns, Payr, Meyer, Sigg, Bisgaard usw.), die jedoch aufgrund der besondeDer Orthopäde 6 · 2015 

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Leitthema ren Situation beim Amputierten nur eingeschränkt zu erheben sind. Den Symptomen und klinischen Zeichen ist gemein, dass sie zwar sehr sensitiv, jedoch rela­ tiv unspezifisch sind. Zur weiteren Diag­ nostik sind laborchemische Untersuchungen (D-Dimere) durchzuführen, die aber einer vorherigen Abschätzung der klinischen Wahrscheinlichkeit bedürfen [9]. Die Kompressionssonografie gilt heute als diagnostisches Mittel der Wahl. Auch die Phlebografie ist möglich, wenn sie auch aufgrund der Invasivität, Strahlenbelastung und der Gefahr allergischer Reaktionen auf das Kontrastmittel in den Hintergrund tritt. Weitere bildgebende diagnostische Maßnahmen sind die MR- und CT-Phlebografie. Eine nachgewiesene Phlebothrombose ist, sofern keine Kontraindikationen bestehen, leitliniengerecht zu behandeln: 55sofortige therapeutische Antikoagulation (mit Heparin oder Fondaparinux), 55frühzeitiger Beginn der Sekundärprophylaxe (Vitamin-K-Antagonisten), 55ggf. thrombusentfernende Maßnahmen, 55Kompressionstherapie. Vom Dogma der Immobilisation wurde mittlerweile Abstand genommen [9].

Hyperhidrose Es wird zwischen der primären und der sekundären Hyperhidrose unterschieden. Die Genese der primären Hyperhidrose ist unbekannt. Eine Ausnahme bildet das Frey-Syndrom. Hier liegen der sekundären Hyperhidrose verschiedene Ursachen zugrunde, die abklärungsbedürftig sind: hormonelle Störungen und Diabetes mellitus, Malignome, chronische Infektionen, Übergewicht, Kreislaufstörungen, neurologische Hyperhidrose, exogene Ursachen, wie z. B. Arzneimittelnebenwirkungen und psychogene Ursachen [32]. Die übermäßige Schweißneigung kann lokal begrenzt und generalisiert auftreten. Probleme am Amputationsstumpf sind vor allem die Geruchsbildung, das Anschwellen der feuchten Haut und die damit verbundene leichtere Verletzbarkeit. Daraus resultiert eine höhere Infektionsgefahr [3]. Ein weiteres Problem ist mit

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der zunehmenden Feuchtigkeit zwischen Stumpf und Schaft die instabile Führung des Stumpfes. Neben der Abklärung und Beseitigung der o. g. Ursachen sind weitere Therapiemaßnahmen möglich: topische Therapie mit Antiperspiranzien (Schweißhemmer), Leitungswasseriontophorese, systemische Therapie mit Antihydrotika und Psychopharmaka, Denervierung mit Botulinumtoxin A und als Ultima Ratio die thorakale Sympathikotomie (operative Maßnahme). Es gibt Erfahrungsberichte zur systemischen Anwendung von Salbei. Wissenschaftliche Studien liegen hierzu nicht vor [8]. Aus eigener Erfahrung empfehlen wir auch Eichenrindenbäder und tägliche Stumpfwaschungen bzw. Wechselbäder. In der Prothesenversorgung sollten Hohlräume im Vollkontaktschaft und Lufteinschlüsse im Liner möglichst vermieden werden.

Phantomschmerz Phantomsensationen und Phantomschmerz Nahezu alle Patienten geben nach einer Amputation an, das amputierte Glied wahrzunehmen. Diese Wahrnehmung wird durch den Begriff Phantomsensation oder Phantomgefühl beschrieben und muss vom Phantomschmerz abgegrenzt werden. Am häufigsten berichten die Patienten über propriozeptive Wahrnehmungen und/oder im Phantomglied Bewegungen initiieren zu können. Eine Sonderform ist das sogenannte Telescoping. Dabei empfindet der Betroffene das Phantomglied verkürzt. So kann er beispielsweise das Gefühl haben, dass die Hand am Ellenbogenstumpf ansitzt. Klinisch bedeutsamer ist, dass viele Amputierte z. T. erhebliche Schmerzen beklagen. Diese Schmerzen werden als Phantomschmerzen bezeichnet; sie sind definiert als schmerzhafte Empfindungen, die in das nicht mehr vorhandene, virtuelle Körperteil projiziert werden.

Häufigkeit und Charakteristika Phantomschmerzen nach Amputationen von Gliedmaßen sind häufig. 60–85 % aller Gliedmaßenamputierten empfinden

Phantomschmerzen innerhalb von Stunden bis wenige Wochen nach der Amputation. Allerdings treten Phantomschmerzen nicht nur nach Amputationen von Gliedmaßen auf, sondern auch nach Amputationen anderer Körperteile (etwa nach Brustamputation, Zahnextraktion u. a.), wenngleich deutlich seltener. Sherman [31] fand in einer umfangreichen Befragung persistierende Phantomschmerzen bei 18 % der Patienten, bei 33 % tägliche Schmerzepisoden; ein weiteres Drittel der Patienten berichtete über Phantomschmerzen, die seltener als täglich auftraten. Bei etwa der Hälfte der Patienten nahmen die Schmerzen mit Bezug zum Amputationszeitpunkt ab, bei den verbleibenden 50 % blieben die Schmerzen gleich oder nahmen sogar zu. Der Charakter des Phantomschmerzes variierte stark. Die häufigsten Beschreibungen sind brennend, krampfend, einschießend, elektrisierend, schockartig oder stechend. Vom Phantomschmerz sind Stumpfschmerzen abzugrenzen. Während die Phantomschmerzen klar im amputierten Körperteil empfunden werden, ist die Lokalisation vom Stumpfschmerz auf den Stumpf beschränkt. Klinisch ist die Differenzierung nicht immer einfach, da das Auftreten beider Schmerzarten hoch miteinander korreliert und es vielen Patienten schwer fällt, zwischen diesen Schmerzarten zu unterscheiden.

Pathophysiologische Mechanismen Nach aktuellem Verständnis tragen diverse pathophysiologische Mechanismen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Phantomschmerz bei [16, 36]. Diese können grob in periphere und zentrale Mechanismen unterteilt werden. Zu den peripheren Mechanismen gehören die erhöhte Aktivität von nozizeptiven C-Nervenfasern, das regenerative Aussprossen und Anschwellen der geschädigten Neurone in den Nervenendigungen (wodurch sich Neurome bilden können), ektope Entladungen in den Neuromen oder Hinterhornganglien sowie die Expression neuer Kanäle und Rezeptoren, die eine Erregung in den nozizeptiven Fasern fördern können. Zentrale Mechanismen werden auf allen Ebenen des ZNS diskutiert. Im Rü-

ckenmark finden sich erhöhte Spontanfeuerrate nozizeptiver Neurone, strukturelle Veränderungen der Synapsen, eine zentrale Übererregbarkeit, auch durch reduzierte Aktivität verschiedener inhibitorischer Interneuronenpopulationen in Lamina I, eine Reduktion von Opiatrezeptoren u. a. Supraspinale Veränderungen finden sich in allen Schaltstationen der Neuromatrix des Schmerzes, etwa im Hirnstamm, im Thalamus und in verschiedenen Gebieten des Kortex, beispielsweise den primären und sekundären somatosensorischen Kortizes, dem anterioren Zingulum und der Insula. Zu den zentralen Mechanismen gehören auch ein zentrales Remapping [15], eine persistierende Schmerzrepräsentation [4, 25] – für eine Koexistenz der beiden genannten Phänomene: siehe [5] –, mögliche Inkongruenz motorischer Intention und resultierendem sensorischen Feedback sowie die Entstehung eines spezifischen Schmerzgedächtnisses, das mit dem (traumatischen) Ereignis der Amputation verknüpft ist. Es wird vermutet, dass den zentralen Veränderungen mit Fortdauer chronischer Schmerzen immer höhere Bedeutung durch maladaptive Anpassungsvorgänge zukommt [16, 36]. Dies könnte eine mögliche Erklärung für die schlechten Therapieerfolge sein, weil der Großteil der Therapieansätze auf periphere, und nicht zentrale Mechanismen abzielt.

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Ein Großteil der Therapieansätze zielt auf periphere Mechanismen ab Therapie In der Literatur werden mehr als 60 verschiedene Therapien von Phantomschmerzen beschrieben [1, 31]. Leider zei­ gen groß angelegte Untersuchungen, dass die meisten Ansätze wenig effizient sind, wenn eine substanzielle permanente oder langfristige Reduktion der Schmerzen erreicht werden soll. So berichten von ca. 5000 Amputierten weniger als 1 % von einer permanent oder wenigstens lang andauernden substanziellen Reduktion des Phantomschmerzes [31]. Der Phantom-

schmerz bleibt auch heute noch ein medizinisches Problem. Ein wichtiger Ansatz ist zunächst prophylaktisch, indem durch sogenannte präemptive Analgesie der afferente Zustrom nozizeptiver Information verhindert und somit die Entstehung eines Schmerzgedächtnisses während der Amputation reduziert wird. Die präemptive Analgesie führte zu einer Reduktion der Zahl der von Phantomschmerzen betroffenen Patienten bzw. einer Verringerung seiner Intensität im ersten Jahr nach der Amputation, jedoch nicht längerfristig [28, 38, 39]. Für die Frühphase von Phantomschmerzen liegen inzwischen zahlreiche positive Ergebnisse von Calcitonininfusionen (3–5 Tage mit 100–200 I.E) vor [39]. Neue Befunde zur längeren Applikation von Calcitonin sind nicht einheitlich [1]. Die pharmakologische Behandlung chronischer Phantomschmerzen entspricht weitgehend der Behandlung neuropathischer Schmerzen mit einigen Besonderheiten – sie zielt z. B. auf die Reduktion der Erregbarkeit der läsionierten peripheren Neuronen (etwa durch Gabapentin, Carbamazepin oder durch trizyklische Antidepressiva bei Dauerschmerzen) oder die Reduktion sympathischer Aktivierung ab. Eine hohe Evidenz existiert auch für die Therapie mit Opioiden [1, 26]. Die Therapie erfolgt mit retardierten Opioiden strikt nach Zeitschema. Die besten Ergebnisse erbringen bislang Morphin und Ketamin i.v. mit kurzfristigem Erfolg (Evidenzniveau 2) und Medikation mit Opioiden per os für mittel- bis längerfristige Effekte (8 Wochen bis 1 Jahr; [1, 26]. Aufgrund insgesamt doch nur mäßiger Erfolge der Pharmakotherapie sucht man in den letzten Jahren verstärkt nach Ansätzen, die auf die Reduktion der zentralen amputationsbedingten Veränderungen abzielen. So zeigen somatosensorisches Diskriminationstraining [14], die Nutzung verhaltensrelevanter Prothesen [12, 22, 35, 37] oder Spiegeltherapie [17, 27] positive Effekte hinsichtlich einer Reduktion von Phantomschmerzen. Weitere Behandlungsoptionen stellen u. a. Schwellstrombehandlung, Hochvolttherapie, TENS (transkutane elektrische Nervenstimulation), Akupressur, Aku-

punktur, Liner mit Metallgeflecht (zur Abschirmung „schädlicher Strahlen“) dar. Es liegen positive Einzelfallberichte, aber keine strengen wissenschaftlichen Belege vor.

Fazit für die Praxis 1. Stumpfschmerz: 55Eine genaue anamnestische und klinische Differenzierung zwischen Stumpf- und Phantomschmerzen ist notwendig; gegenseitige Abhängigkeiten sind möglich. 55Spätere Komplikationen sind oft schon bei der Amputation vermeidbar. 55Die Stumpfqualität ist abhängig von Amputationshöhe, knöchernen und Weichteilverhältnissen. 2. Phantomschmerz: 55Interdisziplinäre Sprechstunden: Orthopäde/Unfallchirurg, Schmerztherapeut, Orthopädietechniker, Sozialarbeiter. 55Beachtung der psychischen Situation. 55Die Prophylaxe ist wesentlicher Bestandteil der Verhinderung (Reduzierung) von Phantomschmerzen, z. B. präemptive Analgesie, die den afferenten Zustrom nozizeptiver Informationen und damit ein Schmerzgedächtnis verhindert. 55Sensomotorisches Diskriminationstraining. 55Die Pharmakotherapie ist individuell interdisziplinär abzustimmen. 3. Allgemein: 55Notwendige Stumpfkorrekturen sollten von Spezialisten in ausgewiesenen Kliniken durchgeführt werden.

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Leitthema Korrespondenzadresse G. Dwornik Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie Berufsgenossenschaftliche Kliniken „Bergmannstrost“ Halle (Saale) Merseburger Strasse 165, 06112 Halle (Saale) [email protected] Prof. Dr. T. Weiß Institut für Psychologie Biologische und Klinische Psychologie Friedrich-Schiller- Universität Jena, Lehrstuhl für Biologische und Klinische Psychologie der FSU Jena, Am Steiger 3, Haus 1, 07743 Jena [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  G. Dwornik, T. Weiss, G.O. Hofmann und L. Brückner weisen auf folgende Beziehung hin: Die Angaben zum Phantomschmerz beruhen unter anderem auf Erkenntnissen aus durchgeführten Studien, die teilweise durch die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) finanziell unterstützt wurden. Alle beschriebenen Untersuchungen am Menschen wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethik-Kommission, im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt. Von allen beteiligten Patienten liegt eine Einverständniserklärung vor.

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[Residual limb and phantom pain : Causes and therapeutic approaches].

Residual limb pain and phantom pain are severe complications following an amputation. Various reasons are responsible for these complaints. It must be...
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