Übersichten Z Gerontol Geriat 2014 DOI 10.1007/s00391-013-0591-8 Eingegangen: 12. Mai 2013 Überarbeitet: 9. November 2013 Angenommen: 26. November 2013 © Springer-Verlag 2014

N. Schüßler1 · M.W. Schnell2 1 Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg, Institut für Pflegewissenschaft und -praxis,

Aktionsbündnis Schmerzfreie Stadt Münster 2 Sozialphilosophie und Ethik, Fakultät für Kulturreflexion, Institut für Ethik und Kommunikation

im Gesundheitswesen, Fakultät für Gesundheit, Universität Witten/Herdecke

Forschung mit demenzkranken Probanden Zum forschungsethischen und rechtlichen Umgang mit diesen Personen

Forschung mit demenzkranken Probanden, die zur Entwicklung von Versorgungskonzepten in der stationären Altenpflege beiträgt, unterliegt besonderen forschungsethischen und rechtlichen Bedingungen. Deutschland ist 1999 nicht der Bioethikkonvention des Europarates beigetreten, um Forschung an nichteinwilligungsfähigen Personen zu limitieren. Neben Embryonen und Säuglingen sind in dieser Hinsicht auch heute noch alte Menschen, die mit kognitiven Einschränkungen wie Demenz im Altenheim leben, für Forschungsvorhaben von Interesse. Anhand von Fallvignetten aus dem Forschungsprojekt „Aktionsbündnis Schmerzfreie Stadt Münster“, das von der Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg in Deutschland durchgeführt wird, werden grundsätzliche forschungsethische sowie datenschutz- und betreuungsrechtliche Aspekte der Forschung mit demenzkranken Probanden dargestellt und aufgeklärt. Die Ausführungen münden in einen forschungsethischen Prüfplan.

Relevanz der Forschung mit Demenzbetroffenen Bekanntlich zählt der Umgang mit demenziellen Erkrankungen zu den großen

Herausforderungen der Gesundheitsversorgung. In Deutschland leben gegenwärtig etwa 1,4 Mio. betroffene Menschen. Bis 2020 werden voraussichtlich etwa 1,8 Mio. und bis zum Jahr 2050 etwa 3 Mio. Menschen an Demenz erkrankt sein [1]. An Demenz erkrankte Menschen und ihre Angehörigen benötigen in besonderer Weise Hilfe und Entlastung. Dazu gehört es auch, die Versorgungsforschung voranzutreiben, um Versorgungs- und Lebenskonzepte zu entwickeln [2]. Entsprechende Forschungen gelten der Frage, wie eine weitestgehend autonome Alltagsgestaltung für Menschen mit Demenz und deren Angehörige möglich ist. Der Deutsche Ethikrat sagt dazu in seiner Stellungnahme „Demenz und Selbstbestimmung“ von 2012: Wichtige Forschungsthemen im pflegewissenschaftlichen und psychologischen Bereich sind unter anderem die Wahrung und Verbesserung von Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Menschen mit Demenz sowie Möglichkeiten, die Wunsch- und Bedürfnisäußerungen von Menschen mit Demenz auch in einem fortgeschrittenen Erkrankungsstadium zu erkennen und zu interpretieren. ([3], S. 72) Die Forschung hat bereits zahlreiche relevante Ergebnisse erzielt. Ein Instrument ist CarenapD, das entwickelt wurde zur

Einschätzung des Bedarfs von Familien, die ein an Demenz erkranktes Mitglied im Privathaushalt pflegen und versorgen [4]. ReduFix entwickelte einen Leitfaden zur Vermeidung körpernaher Fixierung von Bewohnern in der stationären Altenhilfe [5]. Das Projekt H.I.L.DE entwickelte ein Instrument zur Erfassung von Lebensqualität für demenzkranke Menschen [6].

Projekt „Aktionsbündnis Schmerzfreie Stadt Münster“ Das Projekt „Aktionsbündnis Schmerzfreie Stadt Münster“ verfolgt eine Versorgungsforschung, die auf eine Beschreibung und Verbesserung des Schmerzmanagements verschiedenster Leistungserbringer der Stadt Münster zielt. Innerhalb des Gesamtprojektes existieren 5 Projektstränge verschiedener Sektoren [7], wovon einer die stationäre Altenhilfe ist. Die Forschungserfahrungen dieses Projektstrangs bilden den Hintergrund der nachfolgenden forschungsethischen Überlegungen. Zu zwei Erhebungsphasen (September 2010 bis April 2011 und Juli 2012 bis März 2013) erfolgte im Rahmen eines ExPost-Facto-Designs jeweils eine mehrstufige Datenerhebung mit den Bewohnern: Das Ergebnis des zu Beginn durchgeführten Mini-Mental-Status-Tests (MMST) wurde zur Eingruppierung der BewohZeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 2014 

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Übersichten Gemeldete BewohnerInnen: 1067 20% nicht gesetzlich betreut, 39% gesetzlich betreut, 41% keine Angaben.

Ausschlüsse

Eingeschlossene BewohnerInnen: 937 Ablehnungen Befragte / untersuchte BewohnerInnen: 436

UG 1 Selbsteinschätzung 225 BewohnerInnen 72% weiblich, 36% betreut

UG 2 Fremd- / Selbsteinschätzung 61 BewohnerInnen 72% weiblich, 61% betreut

UG 3 Fremdeinschätzung 150 BewohnerInnen 85% weiblich, 83% betreut

Abb. 1 8 Stichprobe der Ersterhebung

ner in eine von drei Untersuchungsgruppen (UG) herangezogen (. Abb. 1). Daraufhin sind die Bewohner entweder standardisiert und computerunterstützt befragt oder, bei kognitiven Einschränkungen, die eine Selbstauskunft über Schmerzen entweder unsicher oder unmöglich machten, einer Beobachtung zu möglichen schmerzbezogenen Verhaltensweisen unterzogen worden. Leitend war der Erkenntnisgewinn über die Schmerzsituation der Bewohner aller kognitiven Leistungsspektren. Die Selbstauskunftsfähigen wurden ferner zu ihrer erlebten schmerzbezogenen Versorgung durch die Pflegenden sowie zur Schmerztherapie befragt. Die Datenerhebung erfolgte durch pflegerisch ausgebildete Studienassistenten in insgesamt 13 Einrichtungen unterschiedlicher Trägerschaft. Eine ausführliche Beschreibung der methodischen Vorgehensweise sowie zu schmerzbezogenen Ergebnissen der Ersterhebung wurde bereits publiziert [8]. Dem Forschungsprojekt wurde das ethische Clearing durch die Ethikkommission der Ärztekammer WestfalenLippe und der medizinischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster erteilt.

Betreute und nicht betreute Bewohner teilnehmender Münsteraner Pflegeheime Die Bewohner-Daten (. Abb. 1) der teilnehmenden Münsteraner Pflegeheime von 2010 zeigen, wie umfangreich und komplex das Phänomen des gesetzlich betreuten potenziellen Probanden in die-

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sem Setting ist: Von den 1067 gemeldeten Bewohnern (älter als 65 Jahre, vollstationär versorgt, ausreichende Deutschkenntnisse) waren F 20% nicht gesetzlich betreut, F 39% hatten einen bestellten Betreuer und F zu 41% wurden keine eindeutigen Angaben über den Betreuungsstatus gemacht. Von den 436 eingeschlossenen Bewohnern waren schließlich 55,7% gesetzlich betreut. In der Gruppe der Bewohner mit einem MMST-Ergebnis ≤10 zeigte sich ein Anteil betreuter Bewohner von 83%. Betreuer von potenziellen Probanden wurden durch ein Anschreiben um die Zustimmung zur Teilnahme des Bewohners gebeten. In 16 Fällen sprachen die gesetzlichen Betreuer dazu eine konkrete Ablehnung der Teilnahme am Projekt aus. In 596 Fällen konnte entweder F keine eindeutige Betreuungssituation bei mangelnder Einwilligungsfähigkeit von den Einrichtungen gemeldet werden oder F die gesetzlichen Betreuer reagierten nicht auf die Anschreiben der Einrichtung. In beiden Fällen wurden die Bewohner nicht einbezogen.

Forschungsethische Aspekte Bevor die forschungsethischen Aspekte, die aus dem „Aktionsbündnis Schmerzfreie Stadt Münster“ resultieren, unter-

sucht werden, sollen zunächst einige Begriffe definiert werden. Die Probanden des Projektstranges sind pflegebedürftige, an Demenz erkrankte Personen, vielfach auch multimorbide. Sie sind vulnerable Personen [9] und dadurch definiert, aufgrund ihrer Situation nicht oder nur teilweise in der Lage zu sein, als Probanden an Forschungsprojekten mitwirken zu können [10]. Sofern die Personen als Bewohner eines Altenheims einen gesetzlich bestellten Betreuer haben, bedürfen sie besonderer forschungsethischer Berücksichtigung [11]. Forschungsethik umfasst alle ethischen und rechtlichen Maßnahmen, die bei der Vorbereitung, Durchführung und Beendigung eines Forschungsprojekts zu ergreifen sind, um Achtung, Schutz und Würde aller an einer Forschung beteiligten Personen gewährleisten zu können [10, 12]. Zu diesen Maßnahmen zählen mit Blick auf die Bewohner u. a. F Gewährleistung des „informed consent“, F Gespräch mit dem gesetzlich bestellten Betreuer, F Beachtung des Datenschutzes, F verantwortliche Einbeziehung der Gatekeeper. Ein Gatekeeper ist als Schlüsselperson einer Versorgungseinrichtung ein „Sprachrohr“ für das Forschungsvorhaben gegenüber Bewohnern und Mitarbeitern. Er verfolgt das Ziel, Probanden für das Vorhaben zu gewinnen und im Verlauf des Projekts kontinuierlich zu informieren. Die Gewährleistung eines „informed consent“ (informierte Zustimmung) beinhaltet, dass ein potenzieller Proband Informationen über Inhalt und Ziel des Projekts erhalten und verstanden hat. Dazu muss ein potenzieller Proband einwilligungsfähig sein, das heißt Grund, Bedeutung und Tragweite seiner möglichen Teilnahme am Projekt erkennen können und er muss für sich eine Nutzen/Risiko-Abwägung im Hinblick auf eine Teilnahme treffen können. Der potenzielle Proband muss schließlich faktisch einwilligen, ohne dabei Zwängen ausgesetzt zu werden [10]. Bei der Aufklärung vulnerabler Personen ist auf die Verständlichkeit der Informationen in mündlicher Form und in schriftlichen Dokumenten zu achten [13].

Zusammenfassung · Abstract Da vulnerable Personen, wie die an Demenz erkrankten Bewohner, nicht oder nur teilweise in der Lage sind, eine informierte Zustimmung zur Teilnahme an einem Projekt erteilen zu können, ist es möglich, dass sie durch einen gerichtlich bestellten Betreuer vertreten werden. In Deutschland legt der §1896 des BGB fest, dass, wenn ein Volljähriger aufgrund einer Krankheit oder Behinderung „seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen“ kann, das Betreuungsgericht für ihn von Amts wegen oder auf Antrag einen Betreuer bestellt und diesen mit einem Aufgabenkreis versieht. Zum Betreuer wird vom Gericht eine geeignete, natürliche Person bestellt. Dabei ist auf verwandtschaftliche Beziehungen Rücksicht zu nehmen. Personen, die Betreuungen im Rahmen einer Berufsausübung durchführen, werden bestellt, wenn keine andere geeignete Person zur Verfügung steht (§1897, Abs. 1, 5, 6). Ein „informed consent“ regelt in der Gesundheitsforschung den Umgang mit besonderen Arten personenbezogener Daten. Das deutsche Bundesdatenschutzgesetz erhebt personenbezogene Daten zum Schutzgut. Sofern es sich um Daten handelt, die etwa Angaben zu Herkunft, Gesundheit oder Sexualleben enthalten, spricht das Gesetz von „besonderen Arten personenbezogener Daten“ (BDSG §3 IX). Besondere Arten personenbezogener Daten bedürfen einer besonderen Beachtung: F einer Pseudonymisierung und danach einer Anonymisierung, sobald dieses nach dem Forschungszweck möglich ist (BDSG §40, Abs. 2), F die Einwilligung, besondere Arten personenbezogener Daten zu Forschungszwecken verwenden zu dürfen, muss sich ausdrücklich auf diese besonderen Daten beziehen (BDSG §4a, Abs. 3). Das Datenschutzgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen sieht in §28 II Nr. 3 sogar vor, dass auf eine Einwilligung potenzieller Probanden gänzlich verzichtet werden darf, wenn die Einholung der Einwilligung den Forschungszweck gefährden und damit das gesamte Projekt nicht durchführbar machen würde. Dieser

Sachverhalt tritt im Falle demenzkranker und betreuter Menschen vermutlich nicht oder eher selten auf. Im Zweifelsfalle sollte der Forscher das Gespräch mit dem Landesdatenschutzbeauftragten suchen.

Fallvignetten Die forschungsethischen und rechtlichen Aspekte des Münsteraner Forschungsprojekts werden durch nachfolgende Vignetten in idealtypischer Weise verdeutlicht und kommentiert.

Fallvignette 1:  Der Umfang von Betreuung Für eine demenziell erkrankte Bewohnerin liegt bei Start der Datenerhebung keine Einwilligung durch den gesetzlich bestellten Betreuer vor. Auch eine Ablehnung der Teilnahme wurde nicht ausgesprochen. Bei einer Kontaktaufnahme zur Klärung durch die teilnehmende Einrichtung erklärt die gesetzlich bestellte Betreuerin, dass sie unsicher sei, ob es zu ihren Aufgaben gehört, Entscheidungen über die Teilnahme des Betreuten an Forschungsprojekten treffen zu dürfen. Frage: Wie erhält der Forscher eine Entscheidung in der Frage, ob die Bewohnerin an der Studie teilnehmen darf oder nicht?

Ein Betreuer darf nur für Aufgabenkreise bestellt werden, in denen Betreuung erforderlich ist. Bei älteren Menschen werden dem Betreuer sehr häufig Aufgabenkreise anvertraut, die mit der Gesundheitsversorgung des Betreuten (Untersuchung, Heilbehandlung, ärztlicher Eingriff) und der Regelung finanzieller Angelegenheiten (Zahlungen, Ankäufe) verbunden sind. In diesem Fall beinhaltet eine solche Bestellung nicht die Erlaubnis, eine Einwilligung zur Teilnahme an wissenschaftlicher Forschung erteilen zu dürfen. Wissenschaftliche Forschung im Gesundheitsbereich ist per se keine Heilbehandlung. Daher sollte der Forscher versuchen, den Betreuer vom Sinn des Forschungsprojekts zu überzeugen. Gleichzeitig sollte er ihn bitten, den Bereich wissenschaftliche Forschung beim Betreuungsgericht zu beantragen. Sobald die Einwilligungsmöglichkeit gegeben ist, kann sich der Forscher erneut an den Betreuer wenden.

Z Gerontol Geriat 2014 · [jvn]:[afp]–[alp] DOI 10.1007/s00391-013-0591-8 © Springer-Verlag 2014 N. Schüßler · M.W. Schnell

Forschung mit demenzkranken Probanden. Zum forschungsethischen und rechtlichen Umgang mit diesen Personen Zusammenfassung Anhand von Fallvignetten aus dem Forschungsprojekt „Aktionsbündnis Schmerzfreie Stadt Münster“ werden grundsätzliche forschungsethische, datenschutz- und betreuungsrechtliche Aspekte der Forschung mit demenzkranken Probanden dargestellt und aufgeklärt. Es wird ein forschungsethischer Prüfplan vorgeschlagen. Dieser zeigt auf, wie demenzkranke Bewohner als Probanden für Forschungsprojekte ethisch angemessen und rechtssicher rekrutiert werden können. Schlüsselwörter Stationäre Altenpflege · Demenz · Betreuungsrecht · Forschungsethik · Datenschutz

Research with participants suffering from dementia. Ethical and legal considerations in research involving human subjects Abstract Using case reports from the health services research project Action Alliance PainFree City Muenster, fundamental issues of research ethics, data protection and legal guardianship are shown and explained. A plan of important aspects to be considered while planning, conducting and recruiting for research with nursing home inhabitants suffering from dementia in a legally correct and safe manner is presented. Keywords Nursing homes · Dementia · Legal guardians · Ethics, research  · Data protection

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Übersichten Fallvignette 2:  Welche Entscheidung zählt? In der Datenerhebung in einer Pflegeeinrichtung befragt eine Studienassistentin eine Bewohnerin in einem Doppelzimmer. Die Bewohnerin im benachbarten Bett erfährt von der Befragung und möchte ihrerseits an der Befragung teilnehmen. Für die betreffende Nachbarin liegt keine Einwilligung durch den gesetzlich bestellten Betreuer vor. Auf Nachfrage bei dem Betreuer lehnt dieser die Teilnahme der betreuten Dame an der Studie ab. Frage: Welche Entscheidung ist für den Forscher maßgeblich?

Für den Forscher ist grundsätzlich die Entscheidung des Betreuers maßgeblich. Der Betreuer bringt den Willen der betreuten Person zum Ausdruck und regelt die Angelegenheiten zum Wohl der betreuten Person (BGB §1901, 2). Sofern eine nichteinwilligungsfähige Person ihren Willen zum Ausdruck bringt, wie im Beispiel geschehen, spricht man vom sog. natürlichen Willen. Wenn eine nichteinwilligungsfähige und unter Betreuung stehende Person etwa die Darreichung von Nahrung auf einem Löffel durch körperliche Gesten ablehnt, dann ist das Ausdruck des Nichteinverständnisses mit der beginnenden pflegerischen Versorgungshandlung. Die Darreichung von Nahrung hat zu unterbleiben, auch wenn sie vom Betreuer befürwortet wird. Das bedeutet analog, dass ein unter Betreuung stehender Bewohner, der an keiner Befragung teilnehmen will, nicht befragt wird, auch wenn der gesetzliche Betreuer zugestimmt hat. Eine Ablehnung oder Befürwortung von Nahrungsaufnahme kann spontan erfolgen. Ebenso spontan kann eine betreute Person ihren natürlichen Willen äußern, an einer Befragung im Rahmen von Forschung teilnehmen zu wollen. In diesem Fall sollte der Forscher den Betreuer ersuchen, zu prüfen, ob der natürliche Wille der betreuten Person (z. B. ein Interview führen zu wollen) bedeuten könnte, dass die betreute Person mit der Ablehnung zur Teilnahme nicht einverstanden ist. Der Betreuer könnte zum Wohl der betreuten Person seine Entscheidung revidieren und nunmehr eine Einwilligung erteilen.

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Die Willensäußerung der Bewohnerin in Münster konnte nicht als Äußerung eines „informed consent“ angesehen werden, weil die Bewohnerin keine Risikoabwägung über die Nutzung ihrer besonderen personenbezogenen Daten vornehmen konnte. Zu beachten ist ferner, dass ein Nichteinverständnis einer betreuten Person nicht identisch ist mit der Einwilligungsfähigkeit. Ein solches Nichteinverständnis könnte jedoch Anlass sein, die mögliche Einwilligungsfähigkeit der betreuten Person erneut zu überprüfen. Sofern die durch einen Arzt überprüfte Einwilligungsfähigkeit attestiert wurde, entfällt die Betreuung für den Aufgabenkreis Mitwirkung an wissenschaftlicher Forschung und der Forscher hat den notwendigen „informed consent“ vom potenziellen Probanden selbst einzuholen. Wenn eine Einwilligungsfähigkeit nicht festgestellt wird, ist der Forscher an die Entscheidung des Betreuers gebunden.

Fallvignette 3:  Der nicht unter gesetzlicher Betreuung stehende Bewohner mit kognitiven Einschränkungen Eine Studienassistentin sucht einen Bewohner in einer teilnehmenden Einrichtung auf, für den keine gesetzliche Betreuung bestellt wurde. Im vorbereitenden Gespräch mit den Pflegenden wird versichert, dass der Bewohner orientiert genug sei, über eine Teilnahme selbst entscheiden zu können. Beim Erstkontakt mit dem Bewohner erfasst die Studienassistentin nach wenigen Fragen zur Teilnahme, dass die Orientierung zur Situation zu dieser Zeit offenbar nicht gegeben ist. Frage: Was muss durch den Forscher getan werden, um eine rechtssichere Einbeziehung des Bewohners zu gewährleisten?

Wenn ein Proband an einem wissenschaftlichen Forschungsprojekt teilnimmt, dann ist dessen informierte Zustimmung („informed consent“) erforderlich. Der Forscher hat den potenziellen Probanden zu informieren und der Gefragte stimmt einer Teilnahme ggf. zu. Bei Unklarheiten, ob die Person einwilligungsfähig ist, ist dieses zu überprüfen. Eine Einwilligungsfähigkeit umfasst, dass die Person

Grund, Bedeutung und Tragweite einer Teilnahme erwägen kann. Die Prüfung der Einwilligungsfähigkeit „obliegt dem jeweils behandelnden Arzt bzw. dem ärztlichen Leiter einer medizinischen Studie“ ([14], S. 91). Bei attestierter Einwilligungsfähigkeit der Bewohnerin kann der Forscher sie um ihre Einwilligung zur Teilnahme an der Forschung bitten. Im Falle älterer Menschen, deren Gesundheitszustand zeitlich nicht konstant ist und tageweise wechseln kann, empfiehlt sich zusätzlich die Einholung einer fortlaufenden Zustimmung („ongoing consent“). Ongoing consent: F Das Einverständnis wird direkt vor der Datenerhebung eingeholt, F Daten werden generiert, F Probanden, Pflegende, Angehörige überlegen, ob die Forschungsteilnahme dem Probanden geschadet haben könnte, F entsprechende Konsequenzen werden gezogen. Eine Zustimmung zur weiteren Teilnahme wird nach jeder Überlegung dieser Art eingeholt [6].

Fallvignette 4:  Zugang zu Daten von Bewohnern und deren Betreuern Zu Beginn der Datenerhebung wurden die teilnehmenden Einrichtungen der stationären Altenhilfe gebeten, zu den jeweiligen Betreuern der Bewohner und den Vorsorgebevollmächtigten Kontakt aufzunehmen und um deren schriftliche Einwilligung zur Teilnahme zu bitten. Von mehr als der Hälfte der Betreuer erfolgte keine Reaktion auf entsprechende Anschreiben. Daraufhin kontaktierten die Einrichtungen die Betreuer erneut per Telefon. Dabei stellten die Betreuer den Mitarbeitern der Einrichtungen Fragen (Datenschutz, Ablauf der Forschung, Risiken der Forschung etc.), die von diesen nicht immer beantwortet werden konnten. Die Forscher des „Aktionsbündnisses Schmerzfreie Stadt Münster“ und die Mitarbeiter der Einrichtungen überlegten, ob Heimverträge dahingehend geändert werden könnten, dass die Kontaktdaten der potenziellen Probanden und ihrer Betreuer direkt an die Forscher weitergeleitet werden können und somit ein direkter Kontakt zwischen Forschern und gesetzlichen Betreuern möglich ist.

Zeit- und Personalressourcen für die Klärung der Einwilligungssachlagen

Vor Beginn der Forschung

Prüfung des Forschungsprojekts durch eine Ethikkommission

Entwicklung eines Datenaustauschplanes zwischen Pflegeeinrichtung und Forschern zur Regelung des Zugangs zu personenbezogenen Daten von Bewohnern und Betreuern.

Einholung des "informed consent" mit dem Bewohner. Je nach Vulnerabilität des Probanden zusätzlich "ongoing consent".

Potenzieller Proband ist einwilligungsfähig

Mit Beginn der Forschung

Ist der potenzielle Proband einwilligungsfähig? Ja/Nein? Prüfung: Gespräch mit dem Bewohner, den Angehörigen und Gatekeeper

Potenzieller Proband ist nicht sicher einwilligungsfähig

Potenzieller Proband ist nicht einwilligungsfähig

Gespräch mit Angehörigem und Gatekeeper hinsichtlich Prüfung der Einwilligungsfähigkeit des Bewohners.

Prüfung der Einwilligungsfähigkeit durch einen Arzt. Ergebnis: Ja/Nein. Forscher verfährt gemäß „Antwort: Ja“ oder „Antwort: Nein“.

- Einholung des "informed consent" vom Betreuer (der ggf. kein Angehöriger sein kann). - Sicherstellung, dass sich der Aufgabenkreis des Betreuers auf wissenschaftlicher Forschung erstreckt. - Je nach Vulnerabilität des Probanden zusätzlich "ongoing consent" . - Beachtung des natürlichen Willens des Probanden

Abb. 2 8 Forschungsethischer Prüfplan

Wenn ein Forscher Kontakt zu potenziellen Probanden durch einen Gatekeeper als Repräsentant eines Leistungserbringers im Gesundheitswesen aufnimmt, dann ist für den Forscher nur das Verhältnis zum Gatekeeper rechtlich relevant. Sofern der Gatekeeper Vertreter einer Einrichtung der stationären Altenhilfe ist und Kontaktdaten seiner Bewohner an Forscher weiterleitet, ist allein die betreffende Pflegeeinrichtung in der Verantwortung, diese Weiterleitung datenschutzrechtlich korrekt durchgeführt zu haben. Wenn auch nicht aus rechtlichen Gründen, so sollte der Forscher aus ethischen Gründen dem Gatekeeper mitteilen, nur an Daten interessiert zu sein, die rechtlich korrekt veröffentlicht werden. Der Heimvertrag regelt den Datenschutz im Verhältnis zwischen Bewohnern, gesetzlichen Betreuern, der Pflegeeinrichtung und Dritten und schützt in der Regel personenbezogene Daten der Bewohner vor einer Veröffentlichung. Heimverträge mit entsprechenden Pas-

sagen erlauben keine direkte Weitergabe von Kontaktdaten der Bewohner an Dritte. Dazu zählt meist auch die Weitergabe der Kontaktdaten gesetzlicher Betreuer. Da Forschungen zur Versorgung alter Menschen einen immer größeren Stellenwert erhalten, ist es möglich, dass Heimträger in ihre Verträge künftig Paragrafen aufnehmen, die eine Kooperation mit Forschungseinrichtungen zum Gegenstand haben.

Ergebnisse Unter der Prämisse, dass Probanden für Forschungsvorhaben rechtssicher und forschungsethisch akzeptabel um Einverständnis gebeten werden sollen, ergeben sich für die Forschungspraxis mit Bewohnern der stationären Altenhilfe oft unklare Situationen. Zu den als Gütekriterien von Versorgungsforschung mit vulnerablen Gruppen anzusehenden Anforderungen methodischer, ethischer und rechtlicher Art kommt hinzu, bei Unsicherheiten, wie etwa bei Unklarheiten hinsichtlich der

Einwilligungsfähigkeit, korrekt zu reagieren. Forschungsethisch unverzichtbar ist der Einsatz von kompetenten Personen, die im direkten Kontakt mit den vulnerablen Personen sensibel und fachlich adäquat auf die an Demenz erkrankten Bewohner eingehen können. Der erhebliche Ressourcenaufwand für die Ermittlung von Einwilligungssachlagen und die Einholung eines „informed“ und „ongoing consent“ ist bereits beschrieben worden [15]. Bei jeder Projektplanung sind daher zusätzliche Ressourcen einzukalkulieren. Es kann gar als Gütekriterium gelten, wenn entsprechende Zeit- und Personalressourcen für diese Prozesse eingeplant sind.

Forschungsethischer Prüfplan Es ist sinnvoll, einen Prüfplan zu entwickeln, der aufzeigt, was bei der Forschung mit betreuten Personen zu beachten ist. Ein solcher Prüfplan bedarf einer klinischen Testung. Vorbehaltlich einer solchen schlagen wir nachfolgende KriteZeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 2014 

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Übersichten rien für einen forschungsethischen Prüfplan vor.

Diskussion Forschung mit vulnerablen Probanden ist nicht per se unethisch, sondern bedarf besonderer Umsicht, wie das auch im Versorgungsforschungsprojekt des „Aktionsbündnisses Schmerzfreie Stadt Münster“ erfahren werden konnte. Ein Bewohner kann nicht als Proband in eine wissenschaftliche Forschung einbezogen werden, wenn der Bewohner bzw. der Betreuer dieses verweigert oder wenn unklar bleibt, wer den entsprechenden „informed consent“ erteilen darf (da etwa die Prüfung der Einwilligungsfähigkeit unterbleibt oder zu keinem klaren Ergebnis kommt). Es ist in diesem Fall zu empfehlen, die Ethikkommission zur forschungsethischen Nachberatung zu nutzen. Die Versorgungsforschung im Bereich von Demenz erfordert umfassende Auseinandersetzungen der Schlüsselpersonen mit F dem Datenschutz und F dem Betreuungsrecht. Eine Einwilligungsfähigkeit wird durch einen Arzt festgestellt. Das gewachsene Selbstverständnis der Pflegewissenschaft und anderer Wissenschaften der Heilund Therapieberufe führt dazu, dass auch Personen, die keine Ärzte, sondern etwa Pflegeforscher sind, die Einwilligungsfähigkeit von potenziellen Probanden überprüfen wollen. Es bleibt zu diskutieren, ob der Arztvorbehalt in dieser Sache bestehen bleiben muss.

Korrespondenzadresse Prof. Dr. M.W. Schnell Sozialphilosophie und Ethik Fakultät für Kulturreflexion Institut für Ethik und Kommunikation   im Gesundheitswesen, Fakultät für Gesundheit, Universität Witten/Herdecke Alfred-Herrhausen-Str. 50, 58448 Witten [email protected]

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Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  M. W. Schnell und N. Schüssler geben an, dass das Projekt „Aktionsbündnis Schmerzfreie Stadt Münster“ unter anderem von Mundipharma gefördert wird. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

Literatur   1. Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend: Ältere Menschen. Demenz. http:// www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Aeltere-Menschen/demenz.html. Zugegriffen: 05. Mai 2013   2. Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland Altersbilder in der Gesellschaft. Bericht der Sachverständigenkommission an das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Berlin, im Juni 2010. http://www.das-alter-hat-zukunft.de. Zugegriffen: 05. Mai 2013   3. Deutscher Ethikrat (Hrsg) Demenz und Selbstbestimmung. Stellungnahme. http://www.ethikrat. org/dateien/pdf/stellungnahme-demenz-undselbstbestimmung.pdf. Zugegriffen: 05. Mai 2013   4. Lötzerich U (2009) CarenapD - needs assessment of families with dementia patients: sophisticated assessment for the health care system of tomorrow. Pflege Z 62(11):648   5. Viol M (2009) Fixierungen möglichst vermeiden. Heilberufe 61(11):24–25   6. Becker S, Kruse A, Schröder J (2005) Das Heidelberger Instrument zur Erfassung von Lebensqualität bei Demenz (HIL DE.). Z Gerontol Geriatr 38(2):108–121   7. Osterbrink J, Ewers A, Nestler N (2010) Versorgungsforschungsprojekt „Aktionsbündnis Schmerzfreie Stadt Münster“. Zielsetzung und Methodik. Schmerz 24:613–620   8. Osterbrink J, Hufnagel M, Kutschar P et al (2012) Die Schmerzsituation von Bewohnern in der stationären Altenhilfe – Ergebnisse einer Studie in Münster. Schmerz 1(12):27–25. doi:10.1007/ s00482-011-1127-z   9. Stocking CB, Houghan GW, Baron AR (2004) Ethics reporting in publications about research with Alzheimer’s disease patients. J Am Geriatr Soc 52:305–310 10. Schnell MW, Heinritz C (2006) Forschungsethik. Huber, Bern 11. Schnell MW (2010) Die Weisheit des alten Menschen. Z Gerontol Geriatr 43:393–398 12. Schnell MW (2013) Pflegeforschungsethik. In: Brandenburg H, Panfil E, Mayer H (Hrsg) Pflegewissenschaft 2. Huber, Bern, S 136–152 13. Perruchoud A, Brauchli P, Gunz D, Hirschel B (2012) Schriftliche Aufklärung im Zusammenhang mit Forschungsprojekten. Schweizerische Ärztezeitung 93 14. Fröhlich U (1999) Forschung wider Willen? Rechtsprobleme biomedizinischer Forschung mit nichteinwilligungsfähigen Personen. Springer, Berlin, Heidelberg, New York 15. Hall S, Longhurst S, Higginson IJ (2009) Challenges to conducting research with older people living in nursing homes. BMC Geriatrics 9:38. doi:10.1186/1471-2318-9-38

[Research with participants suffering from dementia. Ethical and legal considerations in research involving human subjects].

Using case reports from the health services research project Action Alliance Pain-Free City Muenster, fundamental issues of research ethics, data prot...
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