Originalien Nervenarzt 2015 DOI 10.1007/s00115-015-4302-0 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

H. Helmchen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin, Berlin

Forschung mit Menschen,   die an Demenz erkrankt sind?

Ausgangspunkt von Überlegungen zur Forschung mit Menschen, die an Demenz erkrankt sind, sind zwei Feststellungen: 1. Der Forschungsbedarf zur Demenz ist erheblich, da die Demenz häufig ist und altersassoziiert deutlich zunimmt, aber eine ursächliche Behandlung noch nicht zur Verfügung steht. Das heißt konkret: a) Der demographische Wandel mit überproportionaler Zunahme der Zahl alter Menschen führt zu erheblicher Häufung altersassoziierter Demenzerkrankungen, von weniger als 4% bei unter 70-Jährigen auf fast 40% bei über 90-Jährigen [28], und von einer in Deutschland derzeitigen Prävalenz von 1,4 Mio. Kranker auf – so wird prognostiziert – 3 Mio. im Jahre 2050 [4] bzw. auf dann 115 Mio. weltweit [26]. b) Aber Verfahren, die aus dem Lebensstil oder anderen Erkrankungen resultierende Risikofaktoren [3, 20] für Demenz präventiv modifizieren können, sind erst in Ansätzen vorhanden und eine wirksame symptomatische Therapie ist nur für Begleitsymptome bekannt, während eine kausale Behandlung der neurodegenerativen Grunderkrankung bisher nicht möglich ist. c) Deshalb treten neben Forschungsinterventionen gegen die Krankheit („disease“) Maßnahmen gegen das Kranksein („illness“) von Menschen mit Demenz, die vor allem auf eine positive Selbstattribuierung (Coping), auf Veränderung des Verständnisses

ihrer sozialen Position und auf den Umgang mit ihnen einschließlich ihrer Pflege fokussiert sind. Aber auch diese Ziele einer humanen Patientenorientierung, die ein reines Defizitmodell der Demenz überwinden und verbleibende Fähigkeiten ansprechen, bedürfen einer wissenschaftlichen Prüfung ihrer Wirksamkeit und Folgen. 2. Demenz beeinträchtigt und zerstört schließlich die Einwilligungsfähigkeit. Damit entfällt eine wesentliche Voraussetzung für die Einbeziehung von Kranken in klinische Forschung. Denn jede medizinische Intervention bedarf der Einwilligung des individuellen Patienten, mit der er sein Selbstbestimmungsrecht in Anspruch nimmt.1 Erst recht bedarf Forschung, die auf supraindividuellen Erkenntnisgewinn, d. h. möglichen Nutzen auch für andere Menschen zielt und damit über den individuellen Nutzen für den Patienten hinausgeht, solcher gültigen Einwilligung nach Aufklärung. Die Frage muss also beantwortet werden, ob überhaupt und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen nicht einwilligungsfähige Kranke mit Demenz in Forschung einbezogen werden können. Di1

Mit der Fähigkeit zum Einwilligen wie zum Ablehnen kann ein Mensch sein Selbstbestimmungsrecht ausüben; insofern stellt der Terminus Einwilligungsfähigkeit eine juristische Reduktion für medizinische Interventionen dar.

es soll anhand zweier zentraler ethischer Probleme der klinischen Forschung erläutert werden, die für die Demenzforschung besonders relevant sind: F Einwilligung nach Aufklärung, F Nutzen-Risiko-Abwägung.

Einwilligung nach Aufklärung Zwei wichtige Fragen sind die nach der Feststellung der Einwilligungsfähigkeit und die zum Ersatz der Einwilligung.

Vorbemerkung Obwohl Einwilligungsunfähigkeit bei Demenz, besonders in fortgeschrittenen Stadien der Erkrankung häufig ist, darf sie nicht durch die Diagnose Demenz bestimmt werden; vielmehr muss sie bei jedem einzelnen Patienten festgestellt werden, weil sie von individuellen Gegebenheiten, dem Verlaufsstadium und der Schwere der Krankheit abhängt. Und obwohl die durch den demographischen Wandel bedingte altersassoziierte Zunahme der Demenzerkrankungen seit über 3 Jahrzehnten bekannt ist, sind Bemühungen, Standardverfahren zur Feststellung von Einwilligungsfähigkeit bzw. Einwilligungsunfähigkeit zu entwickeln, erst in der letzten Dekade in Gang gekommen, nachdem sich das Fehlen solcher Verfahren sowohl in der PraNach einem Vortrag auf der Tagung „Person und Demenz“ in Düsseldorf am 11.07.2014. Für Hans Lauter in dankbarer Erinnerung an die gemeinsame Publikation „Dürfen Ärzte mit Demenzkranken forschen?“ [14] vor 20 Jahren. Der Nervenarzt 2015 

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Originalien xis wie in der Forschung störend bemerkbar machte [6]. Als Hinweis auf diese verzögerte Entwicklung kann man sehen, dass die einzige und recht vage Bemerkung dazu in Artikel 14, Absatz 3 des Zusatzprotokolls zur Biomedizinkonvention des Europarates aus dem Jahre 2005 zu finden ist: Where the capacity of the person to give informed consent is in doubt, arrangements shall be in place to verify whether or not the person has such capacity. [8] Die entsprechende Nr. 79 im Erläuternden Bericht stellt fest, dass es des Forschers Verpflichtung ist, der Ethikkommission mitzuteilen, wie er die Einwilligungsfähigkeit untersuchen will [9]. Jedoch ist bisher, zumindest in Deutschland, kein ausreichend praktikabler Test verfügbar, und fast nie enthalten wissenschaftliche Publikationen Informationen darüber, wie die Einwilligungsfähigkeit festgestellt wurde. Beispielsweise ist Veröffentlichungen über Forschung mit Demenzkranken oft nur zu entnehmen, dass die Patienten leichte bis mittelgradige Demenzzustände hatten und gelegentlich als einzige Spezifikation zusätzlich einen MMSE (Mini-Mental-State-Examination) -Score z. B. von 16–26 Punkten [18] oder 10–20 Punkten [24] aufwiesen. Aber ein „leicht bis mittelgradiger“ demenzieller Zustand sagt nichts über die Einwilligungsfähigkeit des individuellen Patienten im konkreten Fall aus; und bei Patienten mit einem MMSE-Wert unter 20 steht die Einwilligungsfähigkeit zumindest infrage [19, 23] und sollte spezifisch geprüft werden. Es wäre wünschenswert, wenn ausreichende Informationen über das jeweils angewandte Verfahren zu Aufklärung und Einwilligung als Bestandteil der Publikation wissenschaftlicher Ergebnisse veröffentlicht würden.

Feststellung der Einwilligungsfähigkeit Warum soll und wie kann die Einwilligungsfähigkeit festgestellt werden und was folgt aus einer festgestellten Einwilligungsunfähigkeit?

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Zur Frage, warum die Einwilligungsfähigkeit festgestellt werden soll, ist zu bedenken, F dass sich dies aus der Achtung vor dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten, seiner Selbstverantwortung und seiner Kooperationswilligkeit ergibt; F dass die gültige Feststellung der Einwilligungsfähigkeit ethisch relevant ist, weil ihre unzutreffende Einschätzung entweder zu einer ungültigen Einwilligung führt und damit die Verantwortung für Entscheidungen bei einem nicht einwilligungsfähigen Patienten belässt oder aber gegen einen einwilligungsfähigen Patienten diskriminiert; F dass sie festgestellt werden soll, um die Gültigkeit der Einwilligung zu sichern. Die Frage, wie die Einwilligungsfähigkeit festzustellen ist, wird damit beantwortet, 1. dass die den Aufklärungsinhalt erzählende Wiedergabe des Patienten beurteilt wird; 2. dass die Wiedergabe strukturiert werden kann, indem der Forschungspatient nach erfolgter Aufklärung gefragt wird, was gemacht werden soll (Tatsachenverständnis)? warum es gemacht werden soll (vernünftige Begründung)? und – als strengster Einzelstandard der Einwilligungsfähigkeit – was dies für den individuellen Patienten selbst bedeutet (warum ich? Würdigung)? 3. dass dann die Antworten kategorial bewertet werden, also: ob der Standard vorhanden oder nicht vorhanden ist. Die unter Punkt 2 genannten drei Standards – also Was? Warum? Warum ich? – haben unterschiedliches Gewicht und erlauben damit eine Graduierung der Einwilligungsfähigkeit entweder durch isolierte oder kombinierte Anwendung. Als strengster Standard wird die gemeinsame Berücksichtigung aller drei Standards angesehen, als schwächster Standard die alleinige Berücksichtigung des VerständnisStandards [7]. Diese Standards sind inzwischen allgemein anerkannt. Sie basieren auf dem

MacArthur Competence Assessment Tool for Clinical Research (MacCAT-CR). Dessen Anwendung ist mit einer Dauer von mehr als 30 min allerdings sehr zeitaufwendig. Deshalb wurde inzwischen für die Praxis eine große Zahl von Skalen zur Erfassung der Einwilligungsfähigkeit mit sehr viel kürzerer Anwendungsdauer entwickelt. Meist erfassen sie aber nur wenige Dimensionen der Einwilligungsfähigkeit, vorzugsweise die Verständnisfähigkeit, selten hingegen emotionale und intentionale Determinanten der Einwilligungsfähigkeit. Auch werden Zweifel geäußert, dass alle Dimensionen der Einwilligungsfähigkeit in einer einzigen Skala oder überhaupt messend erfasst werden können. Die Wahl des Standards beeinflusst die Schwelle zwischen Einwilligungsfähigkeit und Einwilligungsunfähigkeit. Deshalb ist die Entscheidung ethisch relevant, welche Stärke des Standards angewandt werden soll, um die Schwelle zu bestimmen [7]. Sie richtet sich vor allem nach dem Risikogehalt und der Komplexität der Forschungsintervention und dementsprechend auch danach, welche möglichen Fehler man reduzieren will: So sucht man mit einem schwachen Standard, z. B. nur dem Verständnis-Standard und diesen zudem mit einem niedrigen Skalenmesswert, d. h. mit niedriger Schwelle, die Zahl der fälschlich als einwilligungsunfähig beurteilten, also falsch-positiven Probanden klein zu halten, während umgekehrt ein strenger Standard, z. B. alle drei Kriterien mit hohen Skalenmesswerten, die Zahl der falsch-negativen Probanden minimieren soll [19]. Die Anwendung des höchsten Standards von Einwilligung würde wohl einen größeren Teil psychisch Kranker ebenso wie viele Patienten mit anderen somatischen Erkrankungen und sogar auch einige gesunde Personen als potenzielle Forschungsprobanden ausschließen, oder sie würde einen Betreuer für die Einwilligung zur Forschungsteilnahme erfordern. Deshalb ist zu begründen, welcher Standard angemessen ist, z. B. im Hinblick auf das Nutzen-Risiko-Verhältnis eines Forschungsprojektes. Niedrigere Einwilligungsstandards werden vermutlich implizit und häufig in der klinischen Praxis angewandt. Aus ethischen Grün-

Zusammenfassung · Summary den wäre es jedoch vorzuziehen, für jedes Forschungsprojekt explizit zu bestimmen, welcher Einwilligungsstandard ethisch akzeptabel ist, z. B. ein niedrigerer Standard bei Studien mit nicht mehr als minimalem Risiko. Bleibt die Einwilligungsfähigkeit unsicher, dann sollte eine Einwilligung mit Vorsicht interpretiert werden, z. B. wenn sie schwankt, indem sie durch den Kontext der Situation beeinflusst werden kann [12], wie einige Untersuchungen zur emotionalen und sozialen Dimension der informierten Einwilligung deutlich machen konnten [36]. Deshalb erscheint es transparenter und ethisch leichter vertretbar, wenn – entsprechend einem strengen Standard der Einwilligungsfähigkeit – möglicherweise oder fraglich nicht einwilligungsfähige Patienten eben als solche deklariert und die Forschung unter den Schutzvoraussetzungen für nicht einwilligungsfähige Patienten durchgeführt würde, d. h. dass die Einwilligung nicht nur vom Patienten – als Akzeptanz des Vorschlages („assent“) oder nur als (schweigendes) Gewährenlassen („acquiesence“) oder gar als fehlende Ablehnung („no refusal“) –, sondern auch von einer autorisierten Person, z. B. einem bevollmächtigten Angehörigen oder einem Betreuer, eingeholt wird. Aber auch dann, wenn der Forschungspatient nicht einwilligungsfähig ist und seine Einwilligung durch einen autorisierten Vertreter ersetzt wird, soll sich der Forscher bemühen, die Zustimmung („assent“) auch des Patienten selbst zu erhalten, als Ausdruck seines Respekts für den Patienten und als vertrauensbildende Maßnahme. Dieses Vorgehen ist vor allem bei Patienten mit „leichter bis mittelgradiger Demenz“ angezeigt, bei denen „eine gewisse Aufklärungsfähigkeit noch vorhanden ist“ [15]. Dabei ist das Risiko der „Überredung“ des Patienten zu bedenken und in jedem Fall muss die Ablehnung auch eines nicht einwilligungsfähigen Patienten respektiert werden. Empirische Befunde zeigen, dass weitere Forschung erforderlich ist, um Verfahren zur Feststellung der Einwilligungsfähigkeit zu differenzieren und um die Anwendung der damit erhobenen Befunde ethisch qualifizieren zu können [7]. Denn die Alzheimer-Krankheit beeinträch-

Nervenarzt 2015 · [jvn]:[afp]–[alp]  DOI 10.1007/s00115-015-4302-0 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 H. Helmchen

Forschung mit Menschen, die an Demenz erkrankt sind? Zusammenfassung Der zwingende Bedarf an Demenzforschung ist durch die große und dem demographischen Wandel assoziierte Zunahme von Demenzerkrankungen begründet, für die es zudem keine ursächliche Behandlung gibt. Aber die Demenz zerstört in ihrem progredienten Verlauf die Selbstbestimmbarkeit des Erkrankten und damit eine wesentliche Voraussetzung für die Teilnahme an Forschung, nämlich die gültige Einwilligung in eine Forschungsintervention. Dementsprechend ist nicht nur die ausreichende Aufklärung des potenziellen Forschungsteilnehmers über alle entscheidungsrelevanten Sachverhalte wichtig, sondern ebenso auch die einwandfreie Feststellung seiner Einwilligungsfähigkeit; diese ist aber bisher noch nicht befriedigend mög-

lich. Damit zusammenhängende Fragen nach dem Wie der Feststellung von Einwilligungsfähigkeit einschließlich der des Ersatzes einer durch den potenziellen Forschungsteilnehmer selbst nicht mehr möglichen Einwilligung sucht der Beitrag zu beantworten. In einem zweiten Abschnitt wird auf die ebenfalls noch unterentwickelte Nutzen-Risiko-Abwägung anhand zweier konkreter Forschungsbeispiele, einer diagnostischen und einer therapeutischen Forschungsintervention bei Patienten mit Demenz, eingegangen. Schlüsselwörter Demenzforschung · Einwilligungsfähigkeit · Forschungsteilnehmer · Nutzen-Risiko-Abwägung · Forschungsbeispiele

Research on humans suffering from dementia Summary The urgent necessity for dementia research is justified by the prevalence and increase in dementia associated with the demographic changes, for which no causal treatment is available; however, during the progressive course dementia destroys the capacity for self-determination of persons affected and thereby an essential prerequisite for participation in research, i.e. a valid consent to a research intervention. Accordingly, not only sufficient information about all issues which are relevant for decision making by potential participants but also a flawless assessment of the capacity to consent are important; however, currently this is not satisfactorily possible. This article attempts to answer ques-

tigt verschiedene seelische Funktionen mit möglichem Einfluss auf die Einwilligungsfähigkeit unterschiedlich, so etwa die Selbstwahrnehmung kognitiver und mnestischer Leistungseinbußen deutlich stärker (bis hin zur Anosognosie) als die Selbstwahrnehmung der eigenen Identität und des eigenen Körpers [11]. Insgesamt ist die Bedeutung emotionaler und intentionaler Determinanten der Einwilligungsfähigkeit noch unzureichend untersucht, so etwa, „ob diese nichtkognitiven Faktoren bei der klinischen Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit durch den Arzt implizit eine Rolle

tions associated with these problems, such as how consent can be established, including that of a surrogate for consent of potential research participants by whom consent is no longer possible. In a second section the benefit-risk evaluation, which is also underdeveloped, will be dealt with using two concrete research examples, a diagnostic and a therapeutic research intervention for patients with dementia. Keywords Dementia research · Assessment of capacity to consent · Research participants · Benefit risk evaluation · Research examples

spielen und damit die klinische Einschätzung vielleicht die ethisch angemessenere Methode darstellt“ [38]. Auch sollte dem Arzt bewusst sein, dass die Grenze zwischen Motivation und Manipulation unscharf ist und leicht übertreten werden kann, z. B. durch unreflektierte Drohungen oder Belohnungen [37]. Zusammengefasst ist Voraussetzung für die Gültigkeit einer Einwilligung nicht nur die ausreichende Aufklärung über alle entscheidungsrelevanten Sachverhalte, sondern auch die Einwilligungsfähigkeit des potenziellen Forschungsteilnehmers. Sie festzustellen ist wichtig, um eiDer Nervenarzt 2015 

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Originalien nen nicht einwilligungsfähigen Patienten nicht mit einer Verantwortung zu überlasten, die er nicht tragen kann. Aber sie ist schwierig und bedarf der Erfahrung und Sorgfalt. Die Einwilligungsfähigkeit muss im Hinblick auf einen konkreten Sachverhalt festgestellt werden und hängt von dessen Komplexität und Bedeutung ab, z. B. vom Risikogehalt der Intervention; die Einwilligungsfähigkeit ist also nur dimensional, d. h. graduiert (in Ausprägungsgraden) zu erfassen und nur in Bezug auf einen konkreten Sachverhalt (also relational) als vorhanden oder nicht vorhanden (d. h. kategorial) zu beurteilen. Was folgt nun aus der so festgestellten Einwilligungsunfähigkeit eines potenziellen Forschungsteilnehmers für die Demenzforschung? 1a: Bei noch erhaltener Einwilligungsfähigkeit … F sollte ein Patient mit Demenz angemessen über Krankheitsverlauf, Behandlungs- und Lebensoptionen aufgeklärt werden sowie dabei – wenn möglich – auch über Forschungsbedarf, Methoden und Risiken (Belastungen) der Demenzforschung; F sollte des Weiteren eine Einwilligung zur Prüfung der Einwilligungsfähigkeit sowie die prinzipielle Einstellung zur Demenzforschung mit einem selbst in einer Vorausverfügung („advanced research directive“) angeregt werden bzw. F eine entsprechende Patientenverfügung und/oder Bevollmächtigung einer vertrauten Person für den Fall eines Verlustes der Einwilligungsfähigkeit vorbereitet werden. 1b: Bei fehlender Einwilligungsfähigkeit … F sollen Art und Umfang der Beeinträchtigung differenziert festgestellt werden als Voraussetzung für gezielte Maßnahmen, noch vorhandene Fähigkeiten zu verstärken, F sollen insbesondere Maßnahmen zur Verbesserung der Einwilligungsfähigkeit und zur Unterstützung einer selbstbestimmten Einwilligung eingesetzt werden. F So kann die Selbstbestimmungsfähigkeit von Menschen mit Demenz gestärkt werden, indem man …

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1 ihnen ernsthaft zuhört, 1 ihnen respektvoll begegnet und als individuelle Person achtet, 1 unzureichend wiedergegebene Aufklärungsinhalte korrigierend zurückmeldet [25], 1 bei der Abfassung von Vorausverfügungen assistiert („facilitated psychiatric advance directive“, F-PAD; [37, 38]), 1 soziale Beziehungen und Wohlbefinden fördert sowie 1 sozialen Ausschluss und Diskriminierung bekämpft und damit 1 gesellschaftliche Teilnahme ermöglicht. Der von Martin Prince, einem der führenden englischen Demenzforscher verantwortete Alzheimer-Report 2013 empfiehlt: Autonomy and choice should be promoted at all stages of the dementia journey, prioritising the voices of people with dementia and their caregivers. [26] Eine systematische Übersicht zu 42 Prüfungen von Verfahren, die Einwilligungsfähigkeit zu fördern, ergab allerdings …only limited success. Having a study team member or a neutral educator spend more time talking one-to-one to study participants appears the most effective available way of improving research participants‘ understanding; however; further research is needed. [10] Das als wirksamstes Verfahren beurteilte Gespräch weist aber auch auf die Bedeutung personal-affektiver Einflüsse und damit auf das bereits erwähnte Risiko hin, die Grenze von der Motivation zur Manipulation zu überschreiten. Aber auch andere Verfahren wurden bei Kranken mit Demenz als wirksam befunden [21]. Ein Verfahren der „erfahrenen Einwilligung“, d. h. Forschung durch eine einwöchige Erprobungsteilnahme potenzieller Forschungsteilnehmer zu erleben, wurde als vielversprechend angesehen [40]. Eine Studie fand, dass kontextbezogenes kognitives Training „improved cognitive abilities specific to the abilities trained and continued 5 years after the initiation of the intervention“ [42].

Ersatz der Einwilligung2 Nun zum Ersatz der Einwilligung in die Teilnahme an einem Forschungsprojekt durch einen Vertreter, wenn die Einwilligungsfähigkeit nicht (mehr) vorhanden ist. Ein rechtlich autorisierter Vertreter kann ein vom Patienten bevollmächtigter Vertrauter oder ein vom Gericht eingesetzter Betreuer sein. Im konkreten Fall hat er die Passgenauigkeit einer beispielsweise durch eine Vorausverfügung belegten Bereitschaft zur Teilnahme an Forschung zu überprüfen und kann ersatzweise einwilligen. In Deutschland ist Forschung mit volljährigen Einwilligungsunfähigen grundsätzlich nur möglich, wenn eine Betreuung, die die Sorge um den Aufgabenkreis „Forschung“ mit abdeckt, eingerichtet wurde und es sich um eine Forschungsintervention mit potenziellem individuellem Nutzen handelt. Wenn die Teilnahme an der Forschungsintervention keinen Individualnutzen erwarten lässt, darf eine bevollmächtigte Vertrauensperson oder ein Betreuer nur dann in sie ersatzweise einwilligen, wenn sie dem festgestellten Willen des Betreuten entspricht. Bei Arzneimittelstudien sind demgegenüber die strengeren Voraussetzungen des Arzneimittelgesetzes (AMG) zu berücksichtigen. Eine stellvertretende Einwilligung kommt nach § 41 III Nr. 1 AMG nur in Betracht, wenn die Anwendung des zu prüfenden Arzneimittels medizinisch indiziert ist, um das Leben des Kranken zu retten, seine Gesundheit wiederherzustellen oder sein Leiden zu erleichtern. Ausschließlich gruppenspezifische oder rein fremdnützige Arzneimittelforschung ist demnach bei volljährigen Einwilligungsunfähigen unzulässig. Zu klären ist dabei allerdings, ob sich eine in Gesundheitsangelegenheiten eingerichtete Betreuung auch auf die Teilnahme an medizinischer Forschung erstreckt. (Taupitz: „Bisher ist unklar, wann die Kompetenz des Betreuers auch die Einwilligung zur Teilnahme an Forschung umfasst“). Möglicherweise müsste eine Erweiterung der Betreuung auf Teilnah2

Herrn Prof. Dr. Jochen Taupitz danke ich für konstruktive Beratung zu diesem Abschnitt.

me an einem solchen Forschungsprojekt beim Gericht beantragt werden. Es ist aber unklar, ob der Richter einer solchen (im Gesetz nicht vorgesehenen) Ausweitung der Betreuungszuständigkeit auf den Bereich Forschung zustimmen darf. Diese Frage stellt sich erst recht, wenn eine Betreuung (nur) zu diesem Forschungszweck eingerichtet werden soll: Aufgrund der nicht eindeutigen Rechtslage ist es empfehlenswert, auch bei einem bereits in Gesundheitsangelegenheiten bestellten Betreuer eine Erweiterung des Aufgabenkreises zur Teilnahme an medizinischer Forschung beim Betreuungsgericht anzuregen; immerhin wurden dafür schon einige Verfahrensweisen wie im Heidelberger Schlaganfallprojekt entwickelt [35]. Mit den vorstehend genannten Regeln sind hierzulande die Grenzen für Forschung mit nicht einwilligungsfähigen Patienten höher gezogen als in anderen Ländern, in denen Forschung mit nicht einwilligungsfähigen Patienten auch zulässig ist, wenn sie ohne potenziellen individuellen Nutzen nur auf gruppenspezifischen Nutzen zielt, wie in den Niederlanden, die den diese Forschung regelnden Artikel 17.2 aus der Biomedizinkonvention in ihr nationales Forschungsgesetz übernommen haben, oder in Ländern, in denen – wie in den USA – auch Angehörige von Gesetzes wegen zur Erteilung der Einwilligung befugt sind.

Nutzen-Risiko-Abwägung [13] Eine ethische Grundvoraussetzung klinischer Forschung ist, dass das Verhältnis ihres möglichen Nutzens zu ihren möglichen Risiken für den Forschungsteilnehmer vernünftig und gerechtfertigt sowie mit ihrer für die Heilkunde erwarteten Bedeutung vertretbar ist (AMG, § 40,1 [5]; Zusatzprotokoll zur Biomedizinkonvention, Art. 6 [8]). Verschiedene Vorschriften spezifizieren u. a., dass die Risiken angemessen festgestellt wurden und befriedigend kontrolliert werden können (Deklaration von Helsinki, §§ 20, 21 [43]). Bei der Abschätzung von Nutzen zu Risiken geht es zunächst um die für das teilnehmende Individuum (z. B. Wirksamkeit gegen Nebenwirkungen), dann aber auch um die Abwägung von diesen individuellen Nutzen und Risiken zu Nut-

zen und Risiken für die Gesellschaft (z. B. Erkenntnisgewinn, Enttäuschungen bzw. Vertrauensverlust). Allerdings wird bezweifelt, dass es überhaupt möglich sei, das Verhältnis individueller gegen gesellschaftliche Nutzen und Risiken anders als qualitativ und persönlich einzuschätzen. Denn es existiert „überhaupt kein operationalisierbares Kriterium für die Entscheidung, dass dieser Nutzen die Stärke jenes Schadens hat. Zudem gibt es keinen Weg, den gesellschaftlichen Nutzen gegen das individuelle Risiko ohne weitere Annahmen zu berechnen“ [41]. Auch können sowohl Manifestation als auch Intensität von Risiken und Nutzen nur als Wahrscheinlichkeiten geschätzt werden, etwa als „kann nicht ausgeschlossen werden“, „ist möglich“, „ist wahrscheinlich“. Darüber hinaus können diese Wahrscheinlichkeiten zwischen einzelnen Individuen erheblich variieren. Solche interindividuellen Unterschiede sind relevant, wenn ein Risiko als „individuelles Alltagsrisiko“ definiert wird. Weil zudem zweifelsfrei erfassbare, also vornehmlich quantitative Kriterien für das Ausmaß von Nutzen und von Risiken sowie ebenso klare Algorithmen für die Einschätzung ihres Verhältnisses zueinander in der Regel nicht vorhanden sind [29], kann die Rechtfertigung des jeweiligen Nutzen-Risiko-Verhältnisses von individuellen Dispositionen (Prägungen oder Vorurteilen) wie auch vom situativsozialen Kontext der Beurteiler, z. B. des forschenden Arztes, des potenziellen Forschungspatienten oder der Mitglieder von Ethikkommissionen, beeinflusst werden [30]. Die Beurteiler sollten dessen zumindest gewahr sein und Hintergrundeinflüsse auf ihre Urteile reflektieren. So könnte ein eher gemeinschaftsoder staatsorientierter Beurteiler (vom Forscher selbst ganz zu schweigen) den gesellschaftlichen Nutzen des erhofften Wissensgewinns höher und mögliche Belastungen des Probanden geringer einschätzen als ein eher liberal-individualistisch oder forschungsskeptisch eingestellter Beurteiler (oder behandelnder Arzt). Rid et al. [29] führen sechs Gründe für die Unzuverlässigkeit solcher intuitiver Beurteilungen an, u. a., dass sie die relevanten empirischen Daten nicht systematisch berücksichtigen und dass sie sub-

jektivem Bias unterliegen, z. B. indem sie Risiken von dem Beurteiler vertrauten Interventionen niedriger einstufen als diejenigen von Interventionen, mit denen er nicht vertraut ist, und dass deshalb Schätzungen akzeptabler Risiken zwischen Ethikkommissionen in einem weiten Bereich variieren [34]. Um den damit einhergehenden subjektiven Einfluss intuitiver Bewertungen zu begrenzen, wurden kürzlich Empfehlungen zur Strukturierung und Standardisierung des Verfahrens der Abwägung von Nutzen und Risiken in Ethikkommissionen publiziert [27]. Da jedoch trotz verbleibender Unsicherheiten Forscher und Ethikkommissionen – um den gesetzlichen Vorschriften Rechnung zu tragen – das Nutzen-RisikoVerhältnis einer Forschungsintervention bestimmen müssen, sollten sie um der Nachvollziehbarkeit ihrer Beurteilungen willen deren Begründungen mitteilen.

Beispiele Die ethischen Implikationen der Bewertung von Nutzen und Risiken und der Abwägung ihres Verhältnisses zueinander sollen nun am Beispiel zweier konkreter Forschungsprojekte, einer diagnostischen und einer therapeutischen Forschungsintervention, bei Patienten mit Demenz illustriert werden:

Diagnostische Untersuchung der Einwilligungsfähigkeit bei Patienten mit fraglicher Einwilligungsunfähigkeit bei Verdacht auf Demenz [39]

Bei der Einholung der Einwilligung bei Patienten einer Gedächtnissprechstunde zur Teilnahme an dieser diagnostischen Untersuchung musste die Problematik beachtet werden, dass die Einwilligungsfähigkeit einerseits die Voraussetzung für die Teilnahme an der Studie darstellt und andererseits gleichzeitig Forschungsfrage ist. Aus diesem unausweichlichen ethischen und konzeptionellen Dilemma ergibt sich, dass die empirisch-wissenschaftliche Untersuchung der Einwilligungsfähigkeit auf eine Aporie stößt: Sie muss sich auf eine Population stützen, die wahrscheinlich auch nicht einwilligungsDer Nervenarzt 2015 

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Originalien fähige Patienten enthält, deren Einbeziehung ohne valide Einwilligung in eine vornehmlich dem überindividuellen Erkenntnisgewinn dienende Forschung jedoch ethisch fragwürdig ist. In der Untersuchung erwiesen sich einige Patienten nach klinischer Einschätzung tatsächlich als nicht einwilligungsfähig bezüglich der Einwilligung in eine (als Beispiel angebotene) psychopharmakologische Behandlung. Ihre Einbeziehung in die Untersuchung wurde jedoch mit den folgenden Argumenten vertreten: 1. Alle Patienten kamen von selbst in die Gedächtnissprechstunde mit der Frage, ob bei ihnen ein „Alzheimer“ vorliege. 2. Die routinemäßig durchgeführten neuropsychologischen Tests dienten dieser diagnostischen Klärung. 3. Die zwei über die Routinediagnostik hinausgehenden formalen Tests der Einwilligungsfähigkeit selbst (MCATT [Medical College Admission Test] und HCAT [Hopkins Competency Assessment Test]) enthielten durch die zusätzliche Belastung von zusammen ca. 35 min das Risiko einer stärkeren als diagnostisch notwendigen Ermüdung, die bei stärkerer Ausprägung zur Unterbrechung der Untersuchung führte. 4. Diesem somit begrenzten und kontrollierbaren Risiko stand der mögliche Gewinn einer genaueren Abschätzung der Einwilligungsfähigkeit sowohl für jeden teilnehmenden Patienten wie auch zukünftig für die Gruppe von Patienten mit fraglicher Einwilligungsfähigkeit gegenüber. 5. Die Feststellung der Einwilligungsunfähigkeit mit einem gegenüber der bisher üblichen Praxis differenzierteren Urteil und damit auch eine definitivere Feststellung der Invalidität ihrer gegebenen Einwilligung konnte nur das Ergebnis der Untersuchung sein. 6. Dementsprechend wäre auch eine ersatzweise Einholung der Einwilligung eines Betreuers vorab kaum möglich gewesen, ganz abgesehen davon, dass bei keinem der Patienten eine Betreuung bestand, wohl aber in den meis-

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Der Nervenarzt 2015

ten Fällen Angehörige den Patienten bei der Untersuchung begleiteten. 7. Nach den Kriterien der Zentralen Ethikkommission (ZEKO) bei der Bundesärztekammer „Zum Schutz nicht einwilligungsfähiger Personen in der medizinischen Forschung“: a) Subsidiarität (die Forschungsfrage kann nicht an anderer Population untersucht werden), b) Bedeutung dieses spezifischen Erkenntnisgewinns, c) Vertretbarkeit der Risiken im Verhältnis zum erwarteten Nutzen, d) kein ablehnendes Verhalten des Patienten und e) Zustimmung der zuständigen Ethikkommission wurde die Untersuchung als ethisch vertretbar angesehen.

Klinische Prüfung einer therapeutischen Intervention: Impfung gegen Demenz

Eine Nutzen-Risiko-Abschätzung der Prüfung eines Arzneimittels gegen Demenz fällt positiv aus, wenn es nach den präklinischen Voruntersuchungen keine Toxizität, aber eine therapeutische Wirksamkeit gegen die neurodegenerative Demenzkrankheit oder die mit ihr verbundene Symptomatik und keine erheblichen Nebenwirkungen erwarten lässt. Ein Beispiel sind Impfversuche zur Immuntherapie der Alzheimer Demenz. So wurde klinisch geprüft, ob die durch Tierversuche mehrfach nachgewiesene immuntherapeutische Verminderung von Amyloid im Gehirn die kognitive Leistungsverminderung beeinflusst. Tatsächlich konnte bei der ersten, 2002 in Zürich durchgeführten Umsetzung dieser positiven Tierversuchsergebnisse in einen klinischen Versuch mit Patienten mit Alzheimer-Demenz zwar eine signifikante Verlangsamung der kognitiven Leistungsverschlechterung festgestellt werden. Jedoch musste die Studie wegen der schweren Nebenwirkung einer Meningoenzephalitis bei 6% der Versuchsteilnehmer abgebrochen werden [17, 18]. Aus den Publikationen geht nicht hervor, wie die Einwilligungsfähigkeit geprüft wurde und ob die einwilligenden Patien-

ten über das schwerwiegende Risiko einer Hirnentzündung aufgeklärt wurden. Aus einer späteren Untersuchung [33] ist zu entnehmen, dass die Patienten oder ihre Angehörigen („next-of-kin“) eingewilligt hatten, dass ihre Gehirne nach ihrem Tode untersucht werden. Möglicherweise wurde für diese Untersuchung der potenzielle Nutzen einer Verlangsamung, eines Stillstandes oder gar einer Verbesserung der progredienten kognitiven Verschlechterung als größer bewertet als das Risiko der entweder nicht bekannten oder als unwahrscheinlich eingeschätzten Nebenwirkung einer Hirnentzündung. Aber es stellt sich auch die Frage, ob Menschen mit einer unweigerlich zu Pflegebedürftigkeit, Siechtum und Tod führenden – und insoweit einer therapieresistenten Krebserkrankung vergleichbaren – Alzheimer-Krankheit auch ein weitaus mehr als minimales, also ein erhebliches Risiko für die Chance einer Besserung ihres Zustandes in Kauf nehmen würden. Selbst wenn bei Patienten mit leichtbis mittelgradiger Demenz die Einwilligungsfähigkeit noch nicht eindeutig einschränkt wäre, sollte bei einem erheblichen Risiko eine autorisierte Person zum Schutze des Patienten die Entscheidung mittragen; der Vertreter müsste wissen, ob überhaupt und unter welchen Bedingungen der Kranke in einen therapeutischen Versuch einwilligen würde. Würde z. B. ein Patient, der in einer Patientenverfügung festgelegt hat, dass bei einem schweren Erkrankungszustand ohne Lebensqualität keine lebensverlängernden Maßnahmen durchgeführt werden sollen, in einen Behandlungsversuch einwilligen, der mehr als nur ein minimales Risiko einer Verschlechterung enthält, aber auch den Krankheitsprozess stoppen und seine

Lebensqualität verbessern könnte?3 Welche Belastungen würde eine Aufklärung zur Teilnahme an solcher Forschungsintervention mit sich bringen? Weitere Fragen ergäbe eine präventive Impfung von Personen, bei denen Biomarker ein erhöhtes Demenzrisiko anzeigen, deren Konversionsrate jedoch bei vielleicht nur 15–20% liegt, sodass bei der Mehrzahl solcher Risikopersonen den Risiken einer Impfung kein Gewinn, d. h. eine Demenzvermeidung, gegenübersteht; diese Überlegung bleibt relevant, selbst wenn die Konversionsraten durch biomarkerbasierte Stratifizierung deutlich steigen sollten. Es sind schwerwiegende Fragen, die – wenn überhaupt – nur mit erheblicher Unsicherheit und nur sehr individuell beantwortet werden können. Aber sie müssen bei den Risiken für die Nutzen-Risiko-Abwägung berücksichtigt werden, insbesondere bei vielleicht kommenden Therapieversuchen mit interventionellen Stimulationsverfahren wie tiefe Hirnstimmulation [2, 32] oder regenerativen bzw. Stammzellentherapien. Wenn notwendige Forschung aus moralischen Gründen nicht möglich oder rechtlich nicht zulässig ist, z. B. Forschung mit potenziell nur gruppenspezifischem, aber keinem individuellen Nutzen mit nicht einwilligungsfähigen Patienten mit Demenz, dann muss nach Alternativen gesucht werden, auch wenn dadurch Zeit verloren geht. Als Alternativen zu prüfen wären z. B. die Suche nach validen Tiermodellen für kognitive Störungen oder zumindest die präzise Definition von Bedingungen, unter denen eine Einbeziehung solcher Patienten in Forschungsinterventionen ohne potenziellen individuellen Nutzen ethisch vertret3

Die Züricher Studie [16] mit einer passiven Antiamyloidimmunotherapie wurde und wird wegen ihrer klinischen Wirksamkeit nach dem Abbruch weiter verfolgt und ergab eine Fülle von positiven wie negativen (z. B. vermehrte Amyloideinlagerung in Gefäße, [1]) Einflussfaktoren sowohl auf die Biomarker wie auf die klinische Symptomatik. Nach Überwindung ihrer Nebenwirkungen wird in ihr eine zukunftsweisende Therapie gesehen [22]. Hingegen zeigten vor allem US-amerikanische Studien mit Antiamyloidimmunotherapie Wirkung zwar auf die Biomarker, jedoch keinerlei Wirkung auf die neurokognitiven Defizite [31].

bar erscheint: Die Biomedizinkonvention (§ 17,2) und die Deklaration von Helsinki (§ 27) halten z. B. eine Einbeziehung von nicht einwilligungsfähigen Patienten in eine Forschungsintervention mit nur gruppenspezifischem Nutzen dann als Ausnahme für ethisch vertretbar, wenn sie … a) allenfalls minimale Risiken enthält, b) nicht an einwilligungsfähigen Patienten durchgeführt werden kann und c) eine autorisierte Person nach Aufklärung ersatzweise eingewilligt hat. Paragraph 29 der Deklaration von Helsinki lässt eine Forschungsintervention sogar ohne Einwilligung dann zu, wenn der körperliche oder psychische Zustand, der die Einholung der informierten Einwilligung verhindert, neben den genannten Kriterien ein notwendiges Charakteristikum der Forschungspopulation ist. Die Biomedizinkonvention ist jedoch von Deutschland nicht ratifiziert worden, sodass hier als forschungsspezifisch rechtlicher Rahmen nur das AMG gilt, wonach zumindest Arzneimittelforschung mit nur gruppenspezifischem Nutzen ausschließlich mit Minderjährigen, nicht aber mit einwilligungsunfähigen Erwachsenen rechtlich zulässig ist. Andere Forschung, etwa sozialwissenschaftlicher Art, außerhalb des AMG wäre zwar möglich, wohl aber in Analogie zu den Schutzkriterien der Biomedizinkonvention nur als Ausnahme. Die Nutzen-Risiko-Abwägung ist das strengste Kriterium der Einwilligungsfähigkeit. Dementsprechend dient sie als erheblicher Bestandteil einer pragmatischen Validierung der Einwilligung in drei Schritten: in einem ersten Schritt bietet der Forscher seine eigene Nutzen-Risiko-Abwägung der Ethikkommission an, die sie im zweiten Schritt auf ihre ethische Akzeptabilität und rechtliche Zulässigkeit prüft, während der potenzielle Forschungsteilnehmer sie im dritten Schritt nach seinen eigenen Werten und Interessen bewerten soll.

Korrespondenzadresse Prof. Dr. H. Helmchen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin Hindenburgdamm 30, 12200 Berlin [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  H. Helmchen gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

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[Research on humans suffering from dementia].

The urgent necessity for dementia research is justified by the prevalence and increase in dementia associated with the demographic changes, for which ...
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