Originalarbeit

Versorgungsvorstellungen von Migranten aus der früheren Sowjetunion mit Alkohol- oder Drogenproblemen in Deutschland Representations of Care of Migrants from the former Soviet Union with Alcohol or Drug Problems in Germany Autoren

Gundula Röhnsch1, Uwe Flick2

Institute

1 2

Schlüsselwörter

" Migranten aus der früheren ●

Sowjetunion

" Alkohol- und Drogenkonsum ● " Gesundheitsversorgung ●

Keywords

" migrants from the former ●

Soviet Union

" alcohol and drug use ● " health care ●

Alice Salomon Hochschule Berlin Freie Universität Berlin

Zusammenfassung !

Anliegen: Welche Versorgungsvorstellungen haben Migranten aus der früheren Sowjetunion mit Alkohol- oder Drogenproblemen, wie decken sich diese mit den Sichten des Hilfesystems? Methode: Episodische Interviews mit 46 Migranten, Experteninterviews mit 33 Mitarbeitern des Hilfesystems. Analyse: Thematisches Kodieren.

Einleitung !

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1370148 Online-Publikation: 28.7.2014 Psychiat Prax 2015; 42: 370–376 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 0303-4259 Korrespondenzadresse Dr. Gundula Röhnsch Alice Salomon Hochschule Berlin Alice Salomon Platz 5 12627 Berlin [email protected]

Migration, verstanden als „Verlegung des Lebensmittelpunkts über eine sozial bedeutsame Entfernung hinweg“ [1], gilt als (kritisches) Lebensereignis, das mit Herausforderungen in allen Lebensbereichen verbunden ist. An eine Migration richten sich einerseits viele Erwartungen und Hoffnungen auf ein „besseres Leben“ [2]. Andererseits geht die Übersiedlung in ein fremdes Land mit dem Abschied von der gewohnten Umgebung und Freunden und Verwandten ebenso einher wie mit dem Verlust von Gewissheiten und Gebräuchen. Zusätzlich zu solchen Belastungen erleben die Zuwanderer oft Ausgrenzung, Ablehnung und unverständliche Formalitäten im Aufnahmeland [1]. Der Konsum von Alkohol oder illegalen Drogen kann in solchen Stresssituationen als subjektive „Problemlösung“ erscheinen. Wie für alkoholabhängige russische Migranten diskutiert wird, ist der Substanzgebrauch funktional, um enttäuschte Erwartungen und eine „misslungene“ Integration zu kompensieren [3]. Im internationalen Kontext zeigt sich anhand von Studienergebnissen, dass Migranten aus Ländern der früheren Sowjetunion (FSU) signifikant häufiger intensiven Alkoholkonsum und -missbrauch aufweisen als die einheimische Bevölkerung [4]. Alkoholkonsum lässt sich hier als Kompensationsmöglichkeit von migrationsspezifischen Belastungen verstehen, aber

Röhnsch G, Flick U. Versorgungsvorstellungen von Migranten … Psychiat Prax 2015; 42: 370–376

Ergebnisse: Für Betroffene und Experten sind ganzheitliche Hilfen wichtig, die spirituell-religiöse Komponenten beinhalten, aber auch kontrollorientiert sind. Schlussfolgerung: Die Kulturspezifik von Versorgungsvorstellungen der Migranten sollte vom Hilfesystem stärker beachtet werden.

auch als kulturell gerahmtes Verhalten. So ist der Konsum von hochprozentigem Alkohol in verschiedenen (nichtmuslimischen) Ländern der FSU weit verbreitet. Er stellt zu bestimmten geselligen Anlässen eine soziale Verpflichtung dar und gilt als Ausdruck von „Tugenden“ wie (männlicher) Härte gegen sich und andere [5]. Wenn Alkohol oder Drogen zunehmend der Problembewältigung dienen, ist das Risiko einer physischen und/oder psychischen Abhängigkeit allgemein hoch. Zwar liegen zur Prävalenz von Alkohol- oder Drogenproblemen unter Migranten in Deutschland keine verlässlichen Zahlen vor [6]. Der Anteil der FSU-Migranten an den drogenbedingten Todesfällen ist jedoch vergleichsweise hoch [7]. Infolge riskanter intravenöser oder -nasaler Konsummuster leiden FSU-Migranten zudem häufiger als einheimische Klienten [8] unter Suchtfolgekrankheiten wie Hepatitis C. Die Belastung durch konsumbedingte Probleme spricht für einen hohen Versorgungsbedarf der Zielgruppe. Allgemein sind Migranten jedoch in allen Einrichtungen zur Behandlung von Suchtstörungen unterrepräsentiert [9]. Nach Erfahrungen von Praktikern der Suchthilfe meinen viele FSU-Zuwanderer, dass eine Abhängigkeit von Alkohol oder Drogen durch Therapeuten binnen Kurzem geheilt werden kann, ohne dass es eigenen Zutuns bedarf [6]. In dieser Ansicht sehen sich die Migranten durch Anzeigen im russischen Netz bestätigt, in denen massiv für eine schnelle

Heruntergeladen von: NYU. Urheberrechtlich geschützt.

370

Die hier vorgestellte Studie wird seit Februar 2012 für 3 Jahre vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Programm Versorgungsforschung gefördert (FKZ: 01GY1121). Sie untersucht Determinanten des Inanspruchnahmeverhaltens von FSU-Migranten mit Alkohol- oder Drogenproblemen und hohem Risiko für eine Hepatitis C. Für die Studie liegt ein positives Votum der Ethikkommission der Alice Salomon Hochschule Berlin vor. In der Studie werden die subjektiven Sichtweisen analysiert, die die Migranten auf ihren Substanzgebrauch sowie auf damit verbundene Gesundheitsrisiken, Versorgungsbedarfe und -bedürfnisse haben. Den Deutungs- und Handlungsmustern der Betroffenen werden die erfahrungsbasierten Sichtweisen von Mitarbeitern unterschiedlicher Sektoren des Versorgungssystems empiriegestützt gegenübergestellt.

se Mitarbeiter wurden schriftlich über Anliegen und Ablauf der Studie sowie über den Datenschutz in Kenntnis gesetzt, informierten auf dieser Basis die Migranten und versuchten, sie für ein Interview an die Forscher weiterzuvermitteln. Insgesamt wurden in die Studie 46 Migranten aus unterschiedlichen Ländern der früheren Sowjetunion (Russland, Kasachstan, Litauen, Lettland, Ukraine) einbezogen. 34 Migranten wurden in der Einrichtung interviewt, von der die Vermittlung ausging. 12 Migranten verabredeten sich selbstständig mit den Forschern zum Gespräch und kamen in die Hochschule, um sich dort interviewen zu lassen. In der Studie sollten Migranten in unterschiedlichen Stadien der Versorgungsnutzung befragt werden. Der Einbezug von Migranten in die Studie erfolgte zudem danach, ob sie von Hepatitis C betroffen oder bedroht waren. Als von Hepatitis C bedroht wurden Migranten angesehen, die nach ihren Selbstauskünften noch nicht erkrankt waren, jedoch aufgrund ihres intensiven intravenösen oder -nasalen Drogenkonsums ein hohes Infektionsrisiko hatten. Weitere Auswahlkriterien waren Alter und Geschlecht: In die Studie sollten schwerpunktmäßig Migranten im Jugendund frühen Erwachsenenalter sowie möglichst anteilig Frauen und Männer einbezogen werden. Von einer Studienteilnahme ausgeschlossen wurden zum Interviewzeitpunkt offenkundig intoxikierte Zuwanderer. Mangelnde Deutschkenntnisse waren kein Ausschlusskriterium: Jedem Befragten wurde angeboten, das Interview unter Einsatz von Dolmetschern auf Russisch zu führen. Die Probanden wurden mittels episodischer (Leitfaden-)Interviews [15] befragt. Schwerpunkte des Interviewleitfadens waren: ▶ sucht- und hepatitisbezogenes Krankheitserleben und -verhalten (z. B.: „Sie sagten ja, dass Sie Hepatitis haben. Was genau verstehen Sie unter dieser Krankheit? Sind Sie mit der Hepatitis in ärztlicher Behandlung?“) ▶ Abhängigkeitsverständnis (z. B. „Was verstehen Sie eigentlich unter einer Abhängigkeit von Drogen? Würden Sie sagen, dass Sie von […] abhängig sind, und woran machen Sie das fest?“) ▶ Hilfesuchverhalten (z. B.: „Wenn Sie sich zurückerinnern – aus welchen Gründen sind Sie hierher zu [jeweilige/n Einrichtung oder Ansprechpartner benennen] gekommen?“) ▶ Erfahrungen mit dem Hilfesystem (z. B.: „Inwiefern sind Sie mit [den Hilfen bzw. der Beratung/Behandlung], die Sie hier erhalten, zufrieden? Was gefällt Ihnen weniger gut?“) ▶ Versorgungsvorstellungen (z. B.: „Wenn Sie es sich aussuchen könnten, wie müssten Hilfen angesichts von Problemen mit Alkohol oder Drogen aussehen, damit Sie zufrieden sind?“ „Stellen Sie sich vor, Sie wären der Sozialarbeiter oder Therapeut, was würden Sie machen, um Abhängigen zu helfen?“) Insgesamt wurden den Probanden 13 Fragen gestellt, die je nach Interviewverlauf durch Nachfragen ergänzt wurden. Die Interviews dauerten im Durchschnitt 60 Minuten und wurden auf Tonband aufgenommen. 28 Interviews fanden in deutscher Sprache statt. 18 Interviews wurden konsekutiv deutsch-russisch/ russisch-deutsch gedolmetscht oder komplett russisch geführt, anschließend transkribiert und vollständig ins Deutsche übersetzt. Durch den Einsatz von Übersetzern wurde der Einfluss der Interviewerin auf den Gesprächsverlauf reduziert.

Befragung der Migranten

Befragung der Mitarbeiter des Versorgungssystems

Um Zugang zu FSU-Migranten mit Alkohol- oder Drogenproblemen zu bekommen, wandten wir uns an Mitarbeiter sozialer Einrichtungen und Institutionen mit Kontakten zur Zielgruppe. Die-

Komplementär zur Befragung der Betroffenen wurden Experteninterviews [16] mit 33 Mitarbeitern des Versorgungssystems durchgeführt (26 Sozialarbeiter, 4 angestellte oder niedergelasse-

Heilung von Alkohol- oder Drogenproblemen geworben wird [10]. Angebote zur Alkohol- und Drogenberatung oder -therapie in Deutschland setzen demgegenüber auf die langfristige Stärkung von Eigenverantwortung, persönlicher Freiheit und Selbstreflexion zur Überwindung abhängigen Verhaltens. Solche Prinzipien rufen bei den Migranten aus der FSU oft Befremden hervor und lassen sie vor der Inanspruchnahme von Hilfen zurückscheuen [6]. Das Angebot an suchtspezifischen Hilfen in Deutschland ist weit gefächert und umfasst niedrigschwellige Hilfen (z. B. Drogenkonsumräume), Beratungsangebote, Substitution und psychosoziale Betreuung, Entzugs- und Entwöhnungsbehandlungen ebenso wie Nachsorge- und Adaptationsangebote [11]. Für die Gewährung der verschiedenen Hilfen sind unterschiedliche Einrichtungen und Kostenträger zuständig. Menschen aus anderen Herkunftsländern fällt es nicht immer leicht, sich in einem solch ausdifferenzierten System der Suchthilfe – verstanden als Oberbegriff für die unterschiedlichen Hilfen – zu orientieren und das passende Angebot zu finden [6]. Tiefergehende empirische Kenntnisse dazu, wie suchtspezifische Hilfen aus Sicht der Migranten gestaltet sein müssten (z. B. Vorhandensein muttersprachlicher Mitarbeiter), fehlen aber. Weitgehend unklar ist auch, wie nach Meinung von Mitarbeitern des Hilfesystems eine suchtspezifische Versorgung beschaffen sein sollte. Studienergebnisse sprechen dafür, dass diese auch ergänzende gesundheitliche Angebote beinhalten sowie Hilfen bei Familienproblemen, Verschuldung oder zum Thema Ausbildung bieten sollte [12]. Studien zur Erfassung des Hilfebedarfs von Menschen mit Alkohol- oder Drogenproblemen in Deutschland beziehen sich meist auf einheimische Klienten. Studien, die sich Migranten (auch) mit Alkohol- oder Drogenproblemen widmen, beschäftigen sich eher mit psychischen Krankheiten allgemein [13] oder mit der interkulturellen Ausgestaltung der Suchthilfe [14]. Auf die subjektiven Versorgungskonzepte von Migranten mit Alkohol- oder Drogenproblemen und von Professionellen wird nicht explizit eingegangen. An die hier dargestellten Lücken wird mit einer Studie zum Alkohol- und Drogenkonsum von FSU-Migranten angeknüpft.

Methoden !

Röhnsch G, Flick U. Versorgungsvorstellungen von Migranten … Psychiat Prax 2015; 42: 370–376

371

Heruntergeladen von: NYU. Urheberrechtlich geschützt.

Originalarbeit

Originalarbeit

ne Ärzte, 3 Psychologen). Die Befragten arbeiten in unterschiedlichen Bereichen des Versorgungssystems: Gesundheit (Suchthilfe, Aidshilfe, hausärztliche Versorgung; n = 15), Sozialarbeit (n = 9), Migration (n = 3), Justiz (n = 3), Verwaltung (n = 2), Ausbildung (n = 1). Unterschiedliche Berufsgruppen wurden deshalb in die Studie einbezogen, weil suchtgefährdete und -kranke Menschen im Vorfeld der Inanspruchnahme von suchtspezifischen Hilfen zahlreiche Kontakte zu unterschiedlichen Versorgungssystemen wie dem Gesundheitssystem, sozialen Hilfen, der Justiz und je nach Alter zu Jugendhilfe oder Schule haben [17]. Bei der Auswahl von Mitarbeitern des Versorgungssystems für ein Experteninterview wollten wir dieses breite Spektrum an potenziellen Ansprechpartnern für die Zielgruppe berücksichtigen. Aus den Bereichen „Gesundheit“ und „Sozialarbeit“ sollten jeweils ca. 10 und aus weiteren Versorgungsbereichen insgesamt ca. 10 Mitarbeitende für ein Experteninterview gewonnen werden. Innerhalb dieser Kriterien erfolgte die Auswahl von Mitarbeitern für ein Interview nach dem Schneeballsystem. Die befragten Experten arbeiten im Mittel seit 12,2 Jahren in der Versorgung der Zielgruppe. Schwerpunkte der Interviews mit den Experten waren: ▶ Hepatitis (z. B.: „Wie gehen Migranten, die sich mit Hepatitis C infiziert haben, mit der Krankheit um?“) ▶ Inanspruchnahmebarrieren (z. B.: „Welche Faktoren hindern Migranten mit Alkohol- oder Drogenproblemen daran, Hilfe zu suchen und anzunehmen?“) ▶ Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen (z. B.: „Was verläuft Ihrer Ansicht nach gut an dieser Zusammenarbeit, was weniger gut?“) ▶ Versorgungsvorstellungen (z. B.: „Welche Vorstellungen haben Sie von einem guten Versorgungsangebot für die Zielgruppe? Wie müsste eine gute Versorgung beschaffen sein?“) Den Experten wurden insgesamt 12 Fragen gestellt, die in Abhängigkeit vom Interviewverlauf durch Nachfragen ergänzt wurden. Auch die Experteninterviews wurden auf Band aufgenommen und vollständig transkribiert.

Datenauswertung Alle Namen der befragten Migranten und Experten wurden anonymisiert. Die Analyse aller aus den Interviews mit Migranten und Experten gewonnenen Daten erfolgte mittels Thematischen Kodierens [15]. Dabei wurden zunächst alle Aussagen zu einem Bereich fallspezifisch kategorisiert. Fallübergreifend wurden dann Vergleichsdimensionen bestimmt, anhand derer die Fälle gruppiert und bezüglich bestimmter Merkmalskombinationen untersucht wurden. Mittels Fallkontrastierungen wurden die Fälle zunächst innerhalb einer Gruppierung auf Ähnlichkeiten verglichen. Fallvergleiche zwischen den Gruppen dienten dazu, die bestehenden Unterschiede zwischen diesen herauszuarbeiten. So entstehende Typen von Deutungs- und Handlungsmustern wurden in ihren Sinnzusammenhängen interpretiert. In die Auswertung der Interviews waren Projektmitarbeiter mit und ohne russischsprachigem Hintergrund einbezogen, um Diskrepanzen bei der Zuordnung von Interviewpassagen zu den einzelnen Kategorien zu überprüfen. Bei Besprechungen in der Gruppe wurde Unstimmigkeit thematisiert und geklärt.

Tab. 1

Soziodemografische Merkmale der befragten Migranten.

Alter

Geschlecht männlich n = 33

weiblich

total

n = 13

n = 46

bis 20 Jahre

5

2

7

21 – 30 Jahre

14

6

20

31 – 40 Jahre

14

4

18

0

1

1

älter als 40 Jahre

Ergebnisse !

Beschreibung der Stichprobe der befragten Migranten Unter den befragten Migranten waren 13 Frauen und 33 Männer " Tab. 1). Das Durchschnittsalter der Befragten lag bei 29 Jahren. (● Es handelte sich mehrheitlich um Migranten der 1. sowie im Ausnahmefall um Migranten der 2. Generation. Im Interviewzeitraum konsumieren 18 Befragte fortlaufend Alkohol oder Drogen, die übrigen 28 Interviewten sind aktuell clean bzw. trocken. Diese Gruppe der Abstinenten ist sehr heterogen: Sie besteht aus Befragten, die aus dem Alkohol- oder Drogenkonsum ausgestiegen sind, ebenso wie aus Interviewten, die gezwungenermaßen (Gefängnisaufenthalt) abstinent sind. Unter den Migranten finden sich demnach Befragte, die mit Problemen der Motivation für Beratung und Behandlung konfrontiert sind, ebenso wie Interviewte, die vor dem Erfordernis der Rückfallprophylaxe stehen. 33 Befragte konsumieren oder konsumierten schwerpunktmäßig Heroin intravenös, 13 Studienteilnehmer sehen oder sahen Alkohol als bevorzugte Substanz an oder greifen bzw. griffen zu Amphetaminen und Cannabis. Ärztliche Diagnosen einer Abhängigkeitserkrankung und möglicher komorbider Störungen wurden nicht erfasst. Wie an anderer Stelle bereits diskutiert wurde [18], gehen die befragten Migranten bis auf 3 Ausnahmen jedoch selbst davon aus, abhängig von Drogen wie Heroin oder von Alkohol zu sein. Die Studienteilnehmer befinden sich in unterschiedlichen Stadien der Versorgungsnutzung. Unter ihnen sind Befragte, die ▶ über keinerlei Anbindung an das Hilfesystem verfügen (n = 15) ▶ niedrigschwellige Hilfen in Anspruch nehmen (n = 7) ▶ sich in der Beratung/Substitution befinden (n = 4) ▶ eine Entwöhnungstherapie oder komplementäre Hilfen kirchlicher Gruppen beanspruchen (n = 14) ▶ sich in der Nachsorge befinden (n = 6). Im Verlauf ihres Alkohol- oder Drogenkonsums haben die Befragten in unterschiedlichen suchtspezifischen Einrichtungen (Behandlungs-)Erfahrungen gemacht: niedrigschwellige Hilfen (n = 11); Entzugsbehandlung (n = 20); Beratung (n = 19); Substitution (n = 15); Entwöhnungstherapie (n = 23). Acht Befragte verfügen über keine gültige Krankenversicherung und konnten daher keine Hilfen in Anspruch nehmen. Im Mittel leben die Interviewten seit 10,2 Jahren in Deutschland. Die große Mehrheit der Befragten (n = 42) hat einen Schulabschluss oder geht (wieder) zur Schule. 15 Interviewte haben zudem eine Lehre abgeschlossen. Die Lebensverhältnisse erscheinen gleichwohl als prekär: 11 Interviewte sind obdachlos, 23 weitere sind arbeitslos, nur 12 gehen einer Ausbildung oder (niedrig bezahlten) Arbeit nach.

Röhnsch G, Flick U. Versorgungsvorstellungen von Migranten … Psychiat Prax 2015; 42: 370–376

Heruntergeladen von: NYU. Urheberrechtlich geschützt.

372

Tab. 2

Versorgungsvorstellungen von Experten und Migranten.

Versorgungsvorstellungen (Mehrfachnennungen)

Experten

Migranten

n = 33

n = 46

interkulturelle Öffnung

21

6

ganzheitliche Versorgung

18

14

Arbeitsweise

11

23

0

15

Selbstverantwortung

Ausgestaltung suchtspezifischer Versorgungsangebote Unter den Experten lassen sich drei, unter den Migranten vier Deutungs- und Handlungsmuster identifizieren, die sich auf die Ausgestaltung von suchtspezifischen Hilfen beziehen. Diese Deutungs- und Handlungsmuster werden im Weiteren übergreifend " Tab. 2). Die jeweiligen Deutungsmuster finden sich dargestellt (● niemals bei allen Befragten. Welchen und wie vielen Mustern diese sich zuordnen lassen, ist unterschiedlich.

Interkulturelle Öffnung Ein großer Teil der befragten Mitarbeiter erachtet eine interkulturelle Öffnung von suchtspezifischen Hilfen als wichtig, um Migranten zu erreichen. Eine interkulturelle Öffnung gilt als Alternative zu einer (ausgrenzenden) Spezialversorgung von Zuwanderern. Sie sollte als Gemeinschaftsaufgabe begriffen und nicht nach dem Motto delegiert werden, „(…) und dann ham wir halt den Kollegen, der russisch spricht“ (Herr A). Interkulturelle Offenheit setzt aus Sicht der Experten kulturelle Kompetenzen von Mitarbeitern voraus. Diese sollten anerkennen, dass sich Migranten in Bezug auf ihr Krankheitsverständnis und -verhalten von Klienten ohne Migrationshintergrund unterscheiden. Mitarbeiter des Hilfesystems sollten sich auf die Migranten in ihrem „Anderssein“ einlassen. Aufgeschlossenheit gegenüber den Migranten ist für diese Experten wichtiger als kulturelles Detailwissen. Empathisches Verhalten von Mitarbeitern des Hilfesystems betrachtet auch ein kleinerer Teil der befragten Migranten – tendenziell eher Frauen und ausschließlich Heroinkonsumenten – als Voraussetzung für die Annahme von Hilfen. Für diese Interviewten ist es wichtig, dass sich die professionellen Mitarbeiter in den Hilfeprozess einbringen und an ihrer Situation persönlich Anteil nehmen. „Das Wichtigste für einen Menschen ist, wenn jemand ihn versteht (…) er, dieser Mensch [Sozialarbeiter] (…) hakt das einfach ab ,Ich habe vermerkt, dass der Patient hier war. Und jetzt muss er gehen‘. Da gibt’s keinen Sinn, mit ihm [dem Sozialarbeiter] zu sprechen. Er wird dich nicht verstehen.“ (Herr B)

Ganzheitliche Versorgung Experten, für die eine ganzheitliche Versorgung der Migranten wichtig ist, verweisen darauf, dass solche Hilfen aus einer Kette von miteinander vernetzten Versorgungsleistungen bestehen und sowohl präventive als auch therapeutische Angebote umfassen sollten. Ziel ist die Integration der Betroffenen in tragfähige soziale Lebenswelten. Integration setzt die Förderung von Sprachkompetenzen voraus. Wichtig ist aus Sicht der Befragten zudem, dass Abschlüsse, die von den Migranten in den Herkunftsländern erworben wurden, hierzulande anerkannt werden. Dass Hilfen nicht nur auf die Behandlung der Abhängigkeit fokussieren, sondern auch die soziale Integration fördern sollten, wird auch von Migranten – sowohl von Drogen- als auch von Alkohol-

konsumenten – betont. Aus deren Sicht sollten die Betroffenen befähigt werden, ein sozial halbwegs abgesichertes Leben zu führen und alltägliche Belange selbst zu regeln. Förderlich für die soziale Integration sind nach Meinung dieser Befragten Werte und Ziele, für die es sich lohnt, aus dem Heroinoder Alkoholkonsum auszusteigen. Verwiesen wird speziell auf religiöse Werte, die das Gefühl von innerer Lehre, das durch den Verzicht auf Drogen oder Alkohol ausgelöst wird, kompensieren. Ganzheitliche Hilfen sollten insofern auch spirituelle Komponenten beinhalten. Religiös-spirituelle Werte, die mit anderen geteilt werden, erscheinen als soziales Bindemittel an eine drogenfreie Gemeinschaft. „(…) die Bibel hilft wirklich zu gucken (…) wie man in dieser Welt leben soll (…) Gott hat bestimmt nicht die Menschen erschafft, damit wir hier Drogen nehmen (…) für was Anderes uns erschaffen, ne? Ja. Und das ist das Erste und das hilft wirklich (…), dass Jesus einfach (…) unsere ganzen Sünden, ganzen Krankheiten mitgenommen hat.“ (Herr D) Aus Sicht von Befragten, wie Herrn D, sollten suchtspezifische Hilfen auch subjektiv sinnvolle Freizeitangebote machen. Ein Sinn ergibt sich vorrangig aus Aktivitäten, die einer (Erwerbs-) Arbeit gleichkommen, wie diese Befragten unter Bezug auf Erfahrungen in den Herkunftsländern verdeutlichen. Sie verweisen darauf, dass sie dort in der Freizeit Spaß, Entspannung und das Gefühl erlebt haben, ein „richtiger Mann“ zu sein, der sich in der Natur behauptet. Zugleich sind sie aber auch einer „nützlichen“ Tätigkeit nachgegangen und haben Verantwortung übernommen. Während die Interviewten dafür Dankbarkeit ernteten, verdienten sie erstes Geld. Solchen Erfahrungen wird eine heilsame Wirkung auch bei Drogenproblemen zugeschrieben. „(…) in Kasachstan, wo noch Sowjetunion war, haben Schüler auch Geld gekriegt dafür, dass die Pferde bewegt wurden. Also in Ferien sind wir immer geritten (…) hat viel Spaß gemacht, hat man noch Geld gekriegt (…) dort ist das reiner Männersport (…) freie Steppe, und alle sind einfach rausgeritten.“ (Herr E) Tendenziell halten vor allem Migranten – Frauen und Männer – die aktuell eine Entwöhnungstherapie oder komplementäre Hilfen in Anspruch nehmen, eine ganzheitliche Versorgung für wichtig.

Arbeitsweise Die Arbeitsweise und -philosophie von Hilfeangeboten sieht ein Drittel der befragten Experten als entscheidend dafür an, dass die Migranten erreicht werden. Aus Sicht der Befragten sollten Hilfen die Konsumenten von Alkohol oder Drogen in ihrer Lebenswelt aufsuchen. Für die Betroffenen habe das den Vorteil, dass sie sich, anders, als wenn sie professionelle Unterstützung, z. B. in Beratungsstellen, suchen, nicht als abhängig outen müssen. Stigmatisierungen könnten so weitgehend vermieden werden. Prinzipiell gehört es zum Arbeitsansatz der befragten Experten, den Konsum von Alkohol oder Drogen in seiner lebensweltlichen Verankerung zu betrachten und ihn nicht per se infrage zu stellen. Migranten, die den Substanzgebrauch nicht beenden wollen oder können, sollten lernen, Alkohol oder („leichtere“) Drogen sozial kontrolliert zu konsumieren. Die Experten sprechen sich meist für akzeptierende, niedrigschwellige Hilfen für abhängigkeitskranke Migranten aus, nur in Ausnahmen kommen für sie Kontrolle und Sanktionen infrage. Restriktive Maßnahmen sollten angewandt werden, wenn für die Migranten der Konsum von Alkohol oder Drogen wichtiger wird als sonstige Regeln und Absprachen. Sie werden zum letzten

Röhnsch G, Flick U. Versorgungsvorstellungen von Migranten … Psychiat Prax 2015; 42: 370–376

373

Heruntergeladen von: NYU. Urheberrechtlich geschützt.

Originalarbeit

Originalarbeit

Mittel, um die weitere soziale Desintegration der Betroffenen zu verhindern. Im Unterschied zu den Experten betrachten die befragten Migranten vor allem eine sehr engmaschige Unterstützung mit eindeutigen Vorgaben, die wenig Handlungsspielraum lassen, als hilfreich. Eine solche Ansicht findet sich vor allem unter männlichen Migranten. Nach ihrer Meinung sollte genau kontrolliert und, wenn nötig, sanktioniert werden, ob therapeutische Regeln eingehalten werden. Sie würden es billigen, wenn Regelverstöße den Ausschluss von weiteren Hilfen zur Folge hätten. „(…) wenn die sich gut benehmen, ohne Alkohol, ohne Drogen leben, dann können die vielleicht mal hier bleiben, und wenn die sich schlecht benehmen, würd’ ich die in die Geschlossene oder vielleicht in den Knast schicken, damit sie mal überlegen können, was sie eigentlich wollen aus dem Leben machen.“ (Herr F) Für Befragte, wie Herrn F, ist ein System aus Belohnung und Strafe wichtig, damit sie (therapeutische) Absprachen einhalten. Die Betroffenen sollten zu ihrem „Glück“, drogenfrei zu leben, notfalls gezwungen werden und auch dann Unterstützung in Anspruch nehmen müssen, wenn sie das (noch) nicht wünschen. Aus Sicht dieser Studienteilnehmer ist es unerheblich, wenn Hilfeangebote drakonisch ausfallen. Die Annahme einer solchen „Hilfe“ wird zur Selbstinszenierung, zum kulturell tradierten Beleg, viel aushalten zu können. Indem subjektiv zufrieden stellende Versorgungsangebote in ihrer Härte exotisch wirken, werden sie zu einer identitätsrelevanten Bestätigung kultureller Zugehörigkeiten. „Falls die Dosis nicht groß ist, könnte man ihn mit Handschellen an den Heizkörper ketten (…) ich würde ihm eintausend Euro anbieten für den Fall, dass er ein halbes Jahr keine Drogen nimmt, um ihm einen Anreiz zu geben. Irgendwas in der Richtung. Und innerhalb eines Jahres noch einmal tausend.“ (Herr J)

Selbstverantwortung Darüber hinaus findet sich bei ca. einem Drittel der interviewten Migranten (nicht jedoch bei den Mitarbeitern), die Sichtweise, dass es nahezu unerheblich ist, wie suchtspezifische Hilfen gestaltet sind. Entscheidend ist, dass die Betroffenen selbst ihren Umgang mit Drogen oder Alkohol überdenken wollen. Versorgungsangebote können den Einzelnen in dem Entschluss, den Drogen- oder Alkoholkonsum zu reduzieren oder zu beenden, zwar stärken. Letztlich aber ist es Sache des Betroffenen, diese Absicht umzusetzen. Tendenziell sind es eher Männer, eher Heroinkonsumenten und eher Befragte, die aktuell keine Anbindung an das Hilfesystem haben, die meinen, für die Lösung ihrer Drogen- oder Alkoholprobleme allein verantwortlich zu sein. „(…) wie da Hilfen aussehen müssten (…) es gibt keine Hilfe für einen Junkie, er muss es selber wissen, er muss es alles selber machen, helfen kann ihm keiner (…) jede Hilfe ist nützlich, jede, aber das muss er auch wollen.“ (Herr L) Interviewte wie Herr L halten aufgrund bisheriger Erfahrungen suchtspezifische Hilfen für wenig wirksam. Sie meinen, dass sie, wenn sie am eigenen Konsumverhalten etwas verändern wollten, das auch könnten. Angenommen wird, dass der individuelle Leidensdruck nur hoch genug sein muss, um auf Drogen oder Alkohol zu verzichten. Vor allem nicht krankenversicherte Migranten gehen davon aus, dass die Lösung konsumbedingter Probleme (allein) von ihnen abhängt. Diese Interviewten verdeutlichen ein sehr funktionales Verständnis des eigenen Körpers. Sie glauben, dass zur Überwindung der Drogenprobleme ein gesunder Körper ausreicht, weshalb es unerlässlich ist, diesen von den Substanzen und deren

Beimengungen zu reinigen. Eine solche Prozedur, die diese Befragten in ihren Herkunftsländern selbstständig und ohne ärztliche Hilfe durchgeführt haben, erscheint ihnen als Möglichkeit, sich selbst schnell von der Abhängigkeit zu heilen. „Ich kann das alles selbst zu Hause machen (…) den Tropf mit allem anderen kaufe ich in der Apotheke (…) ich liege und schließe mich so an den Tropf an (…) die Geschwindigkeit reguliere ich selbst (…) habe ich mich an den Tropf angeschlossen, um diesen Dreck, das ganze Heroin aus meinem Körper schneller rauszukriegen.“ (Herr P)

Vergleich der Versorgungsvorstellungen der befragten Migranten und professionellen Mitarbeiter Die Versorgungsvorstellungen der befragten Experten und Migranten stimmen in vielen Aspekten überein. Sowohl unter den Mitarbeitern des Versorgungssystems als auch unter den Migranten finden sich Befragte, die meinen, dass Hilfen … ▶ ganzheitlich ausgerichtet sein sollten und die Integration der Zuwanderer in Ausbildung und Beruf sowie in ein stabiles soziales Umfeld unterstützen müssen. ▶ interkulturell offen sein sollten, was die Berücksichtigung kulturspezifischer Einflüsse auf das Krankheitserleben und -verhalten der Migranten ebenso voraussetzt wie empathisches Verhalten gegenüber Migranten. ▶ auch Kontroll- und Sanktionsmaßnahmen beinhalten sollten. Eine solche Ansicht findet sich eher unter den befragten Migranten, während die Experten stärker hervorheben, dass Hilfeangebote das (Konsum-)Verhalten der Klienten prinzipiell akzeptieren sollten. Unter den befragten Migranten findet sich, im Gegensatz zu den Experten, auch die Ansicht, dass sie als Betroffene für die Bewältigung konsumbezogener Probleme allein verantwortlich sind. Wie suchtspezifische Hilfen beschaffen sein sollten, ist für die Migranten, die ausschließlich auf ihre Eigenverantwortung im Umgang mit Alkohol- oder Drogenproblemen verweisen, irrelevant.

Diskussion !

Wie suchtspezifische Hilfen gestaltet werden sollten, beurteilen die befragten Migranten oft unter Bezug auf Erfahrungen in den Herkunftsländern, ihre Versorgungsvorstellungen sind insofern kulturspezifisch geprägt. Unter den Zuwanderern finden sich demnach Befragte, für die ein System aus Belohnung und Strafe wichtig ist, damit therapeutische Absprachen eingehalten werden. Wird gegen die Absprachen verstoßen, muss das nach ihrer Ansicht geahndet werden. So verdeutlicht beispielsweise die Aussage „(…) wenn die sich schlecht benehmen, würd’ ich die in die Geschlossene (…) schicken“, eine in Ländern wie Russland verbreitete Ansicht – die sich derzeit auch in der gesellschaftlichen Debatte um strafrechtliche Sanktionen gegen Homosexualität zeigt [19] – dass alles, was „abweichend“ ist, bestraft werden muss. Ob sie suchtspezifische Hilfen annehmen, machen die befragten Migranten oft an der Person des Arztes oder Therapeuten fest. Ihnen ist verständnisvolles, warmherziges Verhalten der professionellen Mitarbeiter wichtig. Hier verdeutlicht sich die in Ländern der früheren Sowjetunion häufige Erwartung von Patienten, dass Ärzte und andere Therapeuten auch spirituelle Qualitäten haben müssen [20].

Röhnsch G, Flick U. Versorgungsvorstellungen von Migranten … Psychiat Prax 2015; 42: 370–376

Heruntergeladen von: NYU. Urheberrechtlich geschützt.

374

Originalarbeit

Limitationen Die untersuchte Gruppe von 46 Migranten erscheint auf den ersten Blick als klein, allerdings ist die Studie explorativ angelegt und arbeitet mit einer Hard-to-reach-Population. Den in die Studie einbezogenen Migranten wurde freigestellt, ob sie das Interview auf Russisch oder Deutsch führen wollten. Es wurde niemand von der Studienteilnahme ausgeschlossen, der ausschließlich russisch sprach. Die Studienteilnehmer entschieden sich jedoch unter Verweis auf gute Sprachkenntnisse mehrheitlich für ein Interview auf Deutsch. Unklar ist, ob die Narrationen der Migranten dazu, wie suchtspezifische Hilfen gestaltet werden sollten, ausführlicher wären, wenn das Interview in ihrer Muttersprache geführt worden wäre. Selektionseffekte, die die Generalisierbarkeit der Ergebnisse einschränken, ergeben sich im Kontext unserer Studie daraus, dass nur Migranten aus dem Raum Berlin-Brandenburg und vor allem Männer befragt wurden. Allerdings ist auch epidemiologischen Studien zufolge der Anteil von Männern in Einrichtungen der ambulanten und stationären Suchthilfe mit 76 % bzw. 77 % [11] deutlich höher als der Frauenanteil. Da knapp drei Viertel unsere Befragten männlich sind, spiegelt sich hier auch ein allgemeiner Trend wider.

Konsequenzen für Klinik und Praxis

▶ Suchtspezifische und psychosoziale Hilfen zur Integration der Zielgruppe in ein drogenfreies Umfeld sowie in die hiesige Gesellschaft müssen kombiniert werden. ▶ Professionelle Mitarbeiter sollten bereit sein, Versorgungsangebote (auch) kontrollorientiert zu gestalten. ▶ Mitarbeiter sollten sich auch um die Entstigmatisierung des illegalen Drogenkonsums in der russischsprachigen Community bemühen, um die Zielgruppe besser zu erreichen.

Interessenkonflikt !

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Abstract

Representations of Care of Migrants from the former Soviet Union with Alcohol or Drug Problems in Germany !

Objective: Which representations of care can be found in migrants with alcohol or drug problems from the former Soviet Union? How do they correspond with views in the care system? Methods: Episodic interviews with 46 migrants, expert interviews with 33 service providers; analysis with thematic coding. Results: For migrants and experts holistic care is important, which include spiritual-religious components but are also control-oriented. Conclusion: The cultural specificity of migrantsʼ care representations should be acknowledged by the health care system much more.

Literatur 1 Sieben A, Straub J. Migration, Kultur und Identität. In: Machleidt W, Heinz A, Hrsg. Praxis der interkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie. Migration und psychische Gesundheit. München: Urban & Fischer; 2011: 43 – 53 2 Machleidt W, Heinz A. Dynamische Modelle der Migration. In: Machleidt W, Heinz A, Hrsg. Praxis der interkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie. Migration und psychische Gesundheit. München: Urban & Fischer; 2011: 33 – 42 3 Belous V, Mitova-Nentwig I, Burkard P et al. Migrations- und Intergrationserfahrungen von alkoholabhängigen russischsprachigen Migranten. Suchttherapie 2011; 12: P038 4 Weiss S. Alcohol use and treatment among former Soviet Union immigrants in Israel: review of publications July 2009-December 2011. J Addict Dis 2012; 31: 397 – 406 5 Bobrova N, West R, Malyutina D et al. Epidemiology. Gender Differences in drinking practices in middle aged and older Russians. Alcohol Alcohol 2010; 45: 573 – 580 6 Czycholl D. Suchttherapie mit UdSSR- und GUS-stämmigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Psychotherapie im Dialog 2010; 11: 330 – 334 7 Bundesministerium für Gesundheit. Drogen- und Suchtbericht. Berlin: Drogenbeauftragte der Bundesregierung; 2008 8 Bätz B. Drogenabhängige Migranten in der Westfälischen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Warstein. In: Landeszentrum für Zuwanderung NRW, Hrsg. Migration und Sucht. Beispielhafte Projekte und Hilfsangebote für junge Migrantinnen und Migranten. Solingen: Landeszentrum für Zuwanderung NRW; 2002: 20 – 44 9 Haasen C, Heimann H, Penka S et al. Abhängigkeit und Sucht. In: Machleidt W, Heinz A, Hrsg. Praxis der interkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie. Migration und psychische Gesundheit. München: Urban & Fischer; 2011: 375 – 385 10 Soybelman F. Drogensucht und Alkoholismus zu bekämpfen ist kinderleicht. Im Internet: 2009: http://www.stopnarkotik.de/german.html (Stand: 23.04.2014) 11 Pfeiffer-Gerschel T, Kipke I, Flöter S et al. Bericht 2013 des nationalen REITOX-Knotenpunkts an die EBDD. Neue Entwicklungen, Trends und Hintergrundinformationen zu Schwerpunktthemen. Drogensituation 2012/2013. München: Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht DBDD; 2013 12 Marsh JC, Cao D, Shin HC. Closing the need-service gap: gender differences in matching services to client needs in comprehensive substance abuse treatment. Soc Work Res 2009; 33: 183 – 192 13 Bermejo I, Frank F, Maier I et al. Gesundheitsbezogenes Inanspruchnahmeverhalten von Personen mit Migrationshintergrund und einer psychischen Störung im Vergleich zu Deutschen. Psychiat Prax 2012; 39: 64 – 70 14 Heimann H. Alkoholabhängigkeit bei Aussiedlern: Die Bedeutung von Erklärungsmodellen für Prävention und Behandlung. Saarbrücken: VdM; 2007 15 Flick U. Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. 3. überarb. u. erw. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt; 2007

Röhnsch G, Flick U. Versorgungsvorstellungen von Migranten … Psychiat Prax 2015; 42: 370–376

Heruntergeladen von: NYU. Urheberrechtlich geschützt.

Wie die Studienergebnisse auch verdeutlichen, erwarten viele Zuwanderer, dass sie direkte Empfehlungen zum Umgang mit Alkohol- oder Drogenproblemen erhalten. So wünschen sie sich Ratschläge zum Verhalten in Situationen, in denen für sie der Konsum von Drogen oder Alkohol bislang dazugehörte (z. B. Familienkonflikte). Ebenso erwarten sie lebenspraktische Empfehlungen, etwa zur Alltagsgestaltung. Sie nehmen implizit an, dass es Aufgabe von Ärzten und Therapeuten ist, Gesundheitsverhalten verbindlich zu empfehlen und dessen Einhaltung zu kontrollieren – so, wie sie es aus ihren Herkunftsländern gewohnt sind [21]. Dass sich Beratungs- und Therapieangebote hierzulande mit konkreten Empfehlungen zurückhalten und stattdessen auf Selbsterkenntnis [6] setzen, ist ihnen unbekannt. In der vorliegenden Studie wird auch deutlich, dass für die befragten Migranten die Reduktion oder Beendigung des Drogenkonsums oft weniger von Hilfeangeboten als vom eigenen Willen abhängt. Wenn die Befragten verdeutlichen, dass sie den Substanzgebrauch beenden könnten, wenn sie wollten, schämen sie sich, wenn das nicht gelingt. Hier zeigt sich das auch in Ländern der FSU häufige und dort auch unter professionellen Mitarbeitern verbreitete Verständnis von einer Abhängigkeit als Folge „zügellosen“ Verhaltens [22].

375

Originalarbeit

16 Meuser M, Nagel U. The expert interview and changes in knowledge production. In: Bogner A, Littig B, Menz W, Hrsg. Interviewing Experts. New York: Palgrave/Macmillan; 2010: 17 – 43 17 Görgen W. „Integrierte Versorgung“ – Entwicklungsaufgabe der Suchthilfe. In: Jugendberatung und Jugendhilfe e. V., Hrsg. Suchthilfe im Verbund. Aufsuchen – Begleiten – Behandeln. Freiburg im Breisgau: Lambertus-Verlag; 2008: 66 – 77 18 Röhnsch G, Flick U. „(…) jetzt bin ich am Kopf behindert“ – Abhängigkeitsverständnis und -erleben von russischsprachigen Migranten in Deutschland. Neue Praxis 2013: 551 – 569

19 Manajew G. Zwischen Strafe und Akzeptanz: Homosexualität in Russland. 14. 08. 2013: Im Internet: www.russland-heute.de (Stand: 21.02.2014) 20 Brown JV, Rusinova NL. “Curing and Crippling”: Biomedical and Alternative Healing in Post-Soviet Russia. Ann Am Acad Pol Soc Sci 2002; 583: 160 – 172 21 Balabanova D, Roberts B, Richardson E et al. Health care reform in the former Soviet Union: beyond the transition. Health Serv Res 2012; 47: 840 – 864 22 Mendelevich VD. Bioethical differences between drug addiction treatment professionals inside and outside the Russian Federation. Harm Reduct J 2011; 8: 15

Heruntergeladen von: NYU. Urheberrechtlich geschützt.

376

Röhnsch G, Flick U. Versorgungsvorstellungen von Migranten … Psychiat Prax 2015; 42: 370–376

[Representations of Care of Migrants from the former Soviet Union with Alcohol or Drug Problems in Germany].

Which representations of care can be found in migrants with alcohol or drug problems from the former Soviet Union? How do they correspond with views i...
114KB Sizes 0 Downloads 3 Views