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Zur Frage der Radikalität bei lumbalen Bandscheib enoperationen I.. Russeqqer, J. Fischer. I. Mohs enipour

Zusamme n fassung

Anhand eine s Modellpr äparates a n der Leich e wird die Frage erörtert. inwieweit die radik ale Ausr äumung des Zwische nwirbelraumes bei lumb alen Diskektomien möglich bzw. sinn voll ist. Es wird a ufgezeigt, daß die "Radika litä t" in Abh ängi gkeit zum Ausmaß der Bandsch eibendegen eration steht. was eine mehr od er minder ausge de hnte Entfernung des Anulu s fibr osus na ch sich zieht. Die Schw achs tellen der Ausr äumung befind en sich zume ist an der zum Operationszugang kontralat eralen Seite. Radi cality in lum ba r disk surgery A study of a postmortem preparation of a surgica l model of lumba r disc ectom y serves as basis for discussing whe ther radical "clearing out " of the int erv ertebral spac e is at all possib le or meaningful. The degree of radicality dep ends upon th e extent of degeneration of th e disc, involving a more or less extensive re se ction of th e a nulus fibro sus . Th e weak point of the oper ative pro cedure is mostly th e dorsomediolater al area contra late ra l to th e site of th e approach . Key-Word s lumba r disc herni ation - discectomy - rad icality

Die lumb ale Band scheib en operation im konvention ellen Sinne inkludi ert neb en der Ent fern ung der die regional au stretende Nervenwurzel komprimier end en , eventuell frei sequ estrierten Disku santeile und de r Dekompr ession der Ne rve nwu rze l von knöchernen Bedrängungen auch die möglichst radika le, a ber dennoch schonende Ausräumung des Zwischenwirbelra umes. Diese s Prinzip sche int auch nach Einführung der Mikrodi skektomie nicht üb erholt, wenngleich es dadurch zwa ngsläufig eine gewisse Abschwächung erfabre n hat. Nicht sdes towe niger ist na ch Ans icht de r meisten Neurochirurge n eine "möglichst gründliche Bandscheib enrau sräumung" in Hinblick auf ei-

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ne Rezidi vpr oph ylaxe unumgänglich. Zu ergründe n , inwieweit sich mittels gewohnter Operationstechnik und gängigem Instrumentarium bei der Diskektomi e üb erhaupt eine Radikalität erz ielen läßt, war Ziel der vorliegenden postmortem- Stud ie. Method ik An insgesa mt 7 Leichen wurden Modellpräpa ra te eines der unter en lumbalen Bewegungssegmente angefertigt. In 3 Fällen er folgte lediglich eine Inspektion des jeweiligen Segmentes a uf Zusta nd bzw. Degenera tion des Discus intervert ebr alis, in 3 Fällen wurd e zuvor unter ..möglichst a uthe ntischen Bedin gungen" eine Diskektomie an der Leiche dur chgefüh rt (L 4/ 5 oder L5/S1I und hernach der Operati onserfolg kontr olliert , in einem Fall wurd e der operiert e Zwischenwirbelra um L3/4 der Leiche eines 41jährigen Mannes inspiziert . der kurz nach der Hemilam inektomie an einer Lungenembolie verst orben war. Fall 1 (Abb. l al: Abb. l a zeigt die gesunde Bandscheibe einer 28jährigen Frau , die an einer interni stischen Krankheit verstarb. AufTallend ist die glänzende Oberfläche des Nucleus pulposus. was auf einen hohen Flüssigkeitsgeh alt und somit guten Tensionszusta nd des Gallertkernes schließen läßt. Die lamelleä re Struktur des breiten Faserringes {Pfeile} zeigt eine vollständig erhaltene Kontinuität. insgesa mt sind am Präpar at keine degener ativen Verä nderungen erkennba r.

Fall 2 IAbb. tbj : Abb. I b zeigt den eröffnete n Zwische nwirbelraum L4/5 eines 79jährigen Mann es. der an einer globalen Her zinsuffizienz versta rb und zeitlebens nie über Kreuzschmerzen geklagt hatte. Neben dem ..ausget rockneten" Aspekt er kennt man deutlich eine Abdrä ngung der Anulusla mellen nach auße n. so daß der Faserring insgesamt verdünnt erscheint, seine Kontin uität ist jedoch weitgehend erhalten (kurze Pfeile). DieStruktur des Nucleus pulposus ist aufgelockert und rar efiziert, in seinem Zentrum finden sich Substa nzdefekte (langer Pfeil). Die Verä nde run gen können als eine altersg em äße. im Rahm en der Norm befindliche Degener ation a ngesehen werd en. Fall 3 (Abb. t c): In Abb. 1e sieht man die Bandscheibe L4/5 eines 46jähri gen Mannes, welcher an den Folgen eines Bronchus-Kar zinoms versta rb und zu Lebzeiten nachweislich immer wieder wegen lumbalgiformer Beschwerd en in Behandlung sta nd. Neben der ausgedehnten dunklen Verfärbung des Galler tkern es. der einen zentralen Substanzverlust aufweist, findet sich links dorso-medio-lateral ein Gewebsdefekt (offen er Pfeil), weicher sowohl den äußer en Nucleus pulposus als auch den inneren Anulus fibrosus betrifft. Letzter er imponiert in seiner Gesamtheit inhomogen. Auf der rechten Seite (geschlossener Pfeil) sind die Strukturen deutlich besser erhalte n. Das Präpar at wur de von uns als möglicher linksseitiger medio-later aler Diskusprolaps in stato nascendi gedeutet.

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Universitätsklinik ftir Neurochirurgie. Innsbruck (Vorstand : Univ- Prof Dr. V. Gnmertl

Z ur Frage der Radikalität bei lum balen Bandscheibenopemtianen Abb.la

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Abb.2

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Abb.4

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Fall4 (Abb. 2): Beim vorliegenden Präp ar at erfolgt in vive die Entfernung eines großen freiluxierten Diskussequesters der Höhe L3/4 auf inte ra rcuä rem Zugang von links. Der Patient , ein 41jähr iger Mann, verstarb am dritten postoperativen Tag an einer Lungen emb olie. Auffallend ist. daß trotz vers uchter möglichst rad ikaler Bands cheiben ausrä umung der Anulus fibrosus fast völlig erhalten ist. Der sichtbare Opera tionserfolg bezieht sich somit lediglich a uf den Gallertkern (Pfeil), de r zu einem Großteil frei seques triert wa r. Fall 5 (Abb. 3): Modellprä pa rat an der Leiche eines 59jä hrigen Mannes: Es wur de an der Leiche eine rechtsseitige Diskusa usräumung der Höhe L5/S1 a uf intera rcuär em Zuga ngsweg vorgenommen (KnopfsondeI. Der Nucleus pulposus ist prak-

tisch zur Gän ze entfernt, au ffälligjedoc h - wie auch beim vorhergehend en Präp arat - ist der fast gänzliche Verbleib des Anulus flbr osus , insbesonde re in seinen ventralen Anteilen. Fa ll 6 (Abb . 4): Modellprä par at an der Leiche einer 51jährigen Frau in Höhe L5/ S1: Der Ausrä umungserfolg nach Diskektomie L5/S1 links ist ein deutlich besserer als in den vora ngegange nen Prä par aten, zeigt jedoch als Schwachstelle den Verbleib von erh eblichem Band scheibenm aterial im dorso-medio-lateralen Bereich der kontralateralen Seite (Pfeil). Durch die lagerungsbedin gte Neigung des Intervertebralraumes ist es zu eine r Destruktion des ventralen Deckplattenb ereiches und zum Eindringen in die Spongiosa gekommen . Bis auf die zum Opera tionszugang kont ralaterale Seite ist der Anulus fibrosus fast zur Gänze ent fernt.

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Abb.3

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Abb.5

Fall 7 (Abb. 5): Mod ellpräparat an der Leiche eines 48jährigen Mannes in Höhe L4/ 5: Die Radikalität nach Diskusentfernung L4/ 5 rechts erscheint hier überzeugend. wiederum findet sich jedoc h zurückgebliebenes Gewebeim kontralateralen. also linken Dorso -mediola teral- Bereich (dicker Pfeil). Als Besonderheit sei hier auf die Perforation des vorderen Längsba ndes hingewiesen (dünner Pfeil).

Diskussion

Eine der Fra gen. die sich jeder Bandscheibenchirurg früher oder spät er stellt, ist, inwieweit eine möglichst radikale Ausräumung des Zwische nwirbelraumes einerseits möglich und andererseits sinnvoll ist. Ihre Beantwortung wird wohl stets kontroversieIlbleiben, zumal sic h kompetente Neurochirurgen hierin doch se hr un ter schiedlich äußern. So weis en beispi elsweise Ebeling und Reulen (1) au f die Wichtigkeit hin. den Nucleus pulposus möglichst vollständig auszuräumen, den Anulus fibrosus und das Ligamentum longitudinale posteriusj edoch zu erhalten. Will/ams (10) und Goald (4) versuchen. Län gsband und Anulus nur stumpf zu durchdringen, um einen Wiederverschluß zu ermöglichen, welcher einem Rezidivfall vorbeugen soll. Es we rden ausschließlich die "dege nerierten Anteile" der Bandsche ibe entfernt. Erwähnt se i hier, daß Yasar· gil (11) vers uchte. da s hint ere Längsband mittels Naht zu versc hließe n. In etlichen Schilde rungen der Bandscheibenausrä um ung (3.5.7.8) wird auf die Notwendigkeit hin gewiesen, die Bandscheibe "möglichst radikal auszuräumen", ohne daß dabeijedoch auf diesen Punkt näh er eingegangen würde . Die an unse rer Klinik geübte Methode ist es, nach mehr oder minder breitem interarcuären Zugang das Ligament bzw. denAnulusin einem Ausmaß von ca. 1 x 1 cm zu fenes trieren und hernach mit den verschiedenen Ran geuren jenes Material zu fördern, welches mehr oder minder leicht de r Faßz ange folgt. wobei fallweise auch dosierte Gewalt zur Anwe ndung kommt. Auf die Verwen dung von scharfen Löffeln oder Curetten wird in der Regel verzichtet. Eine Untersche idung, ob es sich beim entnommenen degenerierten Gewebe um Nukleusanteile oder bereits um Anteile des Anulus handelt, ist peroperativ unserer Meinung nach nicht sicher zu treffen, erscheint uns jedoch se kundär, da es nach unserer Auffassun g darum geht, möglichst alles degenerativ verände rte Material, also auch das des Anulus,

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zu entferne n. Gerade an dieser Stelle dür fte unsere oben präsenti ert e Studie von Inter esse sein: Sie zeigt nämlich 1.. daß de r Ausrä umerfolg. und somit die "Radikalität" in Abhän gigkeit vom Degenerationszustand der Band scheibe höchst unterschiedlich ist. Das bedeutet. daß die Radik alität der Ausrä umung nicht nur Folge des guten Willen s des Chirurge n ist. son dern wesentlich vom Zusta nd der Bandscheibe, insbesondere des Anulus fibrosus mitbestimmt wird, dies desha lb, da sich ein intakter Anulus mittels des gebräuchlichen Faßinstrumentariums nur geringfügig oder überha upt nicht entferne n läßt (vgl. Abb. 2- 5). So kann bei älteren Patienten infolge fortgeschrittener Degeneration in der Regel mehr Materi al gefördert werd en. was dann den Eindr uck höherer Radikalität entstehen läßt. Bei jun gen Patienten hingegen fällt oftmals auf. daß sich nach Extraktion eines großen , freisequestrierten Pulposusa nteils die übrige Bandscheibe steinha rt darstellt und eine weitere Ausrä umung kaum möglich ist. Demzufolge sollten jüngere Patienten eher zu echten Rezidivprolapsen neig en als ältere. da ja mehr Diskusgewebe in situ verbleibt. Fi scher (2) zeigte jedoch. daß Patient en aller Altersstufen gleichermaßen mit echten Rezidiven behaftet sind, was wohl auf das in höherem Alter ungleich raschere Fortschreiten von Degenerationsprozesse n des Restban dscheibengewebes zurückzuführen se in dürfte . 2. Es konnte gezeigt werden. daß die Schwac hstelle der Ausräumung immer im zum Operationszuga ng kontral ateralen Dorso-m ediolateral -Bereich liegt (vgl. Abb. 4 u. 5). Dies könnte in den ca . 0.5% von Zweitoperationen von Bedeutung sein, die wegen eines im se lben Segment, jedoch auf der anderen Seite auftretenden "Rezidivprolapses"durchgeführt werden müssen. 3. Je nach Lagerung bzw. Neigung des Zwischenwirbelraumes ist es möglich, nach teilwe iser Deckplattenentfernung ungewollt mehr oder weniger in die Spongiosa einzudringen (vgl. Abb. 4). Dies kann womöglich eine der Ursachen einer Spondylodiscitis intervertebralis sein (10). 4. Je nach Festigkeit und folglichenA usrä umun gsgrad des ventra len Anulus fibrosus läuft man Gefahr. das vordere Längsband zu perforieren. Dies passiert in der täglichen Diskuschirurgie wohl häufiger als angenommen. Die gefürchteten Folgen (6) bleiben jed och in den allermeisten Fällen aus. Wir sind uns dessen bewußt, daß eine postmortem-Studie in der dar gestellten Art die Frage der Radikalität bei Bandscheibenoperationen nicht schlüss ig zu beantworten vermag, sie kann jedoch als Beitrag zur Visualisation der Diskuschirurgie gewe rtet werden und gerade junge n Neurochirurgen gew isse Denkanstöße im Rahm en der Entwicklung einer individuellen Operationstechnik vermitteln.

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Ebeling. U.. H. -J. Reuten: Ergebnisse der mikrochirur gischen Bandscheibenoperation. Neurochiru rgia 26 (1983) 12- 17 Fischer. J.• I. Mohse nipou r: Zur Entsteh ung von Rezidiven nach lumbalen Band scheibenoperationen. Neurochirurgia 28 (1985) 221-227 Ger/ach. J.: Grundriß der Neurochirurgie. 2. Auf .. Steinkopff Darmstadt (1981) 237fT. Goald. 11. J.: Microlumbar discectomy. follow-up of 147 patients. Spine 3 (1978) 2 Grote, W : Neurochirurgie . Thieme. Sturtgart (1975) 383 fT. Grumme, Th.. B. Binga s: Retroperitoneale Komplikationen bei Operationen an den lumbalen Bandscheiben. Acta Neurochirurg. 25 (l971l79-97 Her r mann. H.-D .. F. Loew: Degenerative Wirbelsäulenprozesse. In: H. Dietz. W. Umbach. R. WüUenweber tEds .): Klinische Neurochirurgie. Bd. 11 (1984) 355-376

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OA Dr. L. Russegger

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[Radical approach in lumbar intervertebral disk operations].

A study of a postmortem preparation of a surgical model of lumbar discectomy serves as basis for discussing whether radical "clearing out" of the inte...
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