Weihnachtsheft

Fragen zu unserer Kreislauftheorie Questioning our theory of circulation

Autoren

M. Kögel1

Institut

1 Chemnitz

Weihnachtsheft

eingereicht 30.09.2014 akzeptiert 02.12.2014 Bibliografie DOI 10.1055/s-0034-1387511 Dtsch Med Wochenschr 0 2014; 1390 : 2666–2667 · © Georg 0 Thieme Verlag KG · Stuttgart · New York · ISSN 0012-04721439-4 13 Korrespondenzadresse Dr. med. Manfred Kögel Heimgarten 46 09127 Chemnitz Tel. 0371/412809 eMail [email protected]

Es war ein medizinhistorisches Schlüsselereignis, als der Engländer William Harvey 1628 in Padua mit seiner Veröffentlichung „Die Bewegung des Herzens und des Blutes bei Lebewesen“ die 1400 Jahre alte und bis dahin als unantastbar geltende Vorstellung des Griechen Galen über die HerzKreislauf-Funktion in bestechender Weise widerlegte [2]. Nach fast 400 Jahren gilt Harveys Theorie heute ebenso als unantastbar, und sie gehört zum Grundwissen. In allen Standardwerken [3, 4, 8, 9] kann man lesen: „Das Herz wirkt als Umwälzpumpe des Blutkreislaufes. Der rechte (venöse) und die linke (arterielle) Herzhälfte sind im Kreislauf hintereinander geschaltet“ (stellvertretendes Zitat aus [9], S. 582). Vieles in unserem System aus Wissenschaft, Medizintechnik- und Arzneimittelindustrie beruht darauf, dass dies alles wahr ist. Bei der Kreislauftheorie handelt es sich nicht um Meinungen oder Denkmodelle, sondern um exakt messbare Parameter. Und diese werfen viele Fragen auf, die mit der Pumpentheorie alleine nicht erklärbar sind. An erster Stelle der kritischen Fragesteller ist Martin Mendelson mit seinem Buch „Das Herz – ein sekundäres Organ“ aus dem Jahre 1928 [7] zu nennen. Mendelson war immerhin Professor für Innere Medizin an der Charité und Mitglied der Leopoldina. Ein anderer Kritiker war Leon Manteuffel-Zoege, ein in ganz Europa geachteter Thoraxchirurg. Er schrieb 1977 „Über die Bewegung des Blutes“ [5]. Die jüngste Veröffentlichung „The heart is not a pump“ von Marinelli u. a. erschien 1996 [6], die Autoren Internisten und Anästhesisten aus Philadelphia. Im Folgenden sollen einige der kritischen Fragen diskutiert werden. Die Kritik beginnt bereits damit, dass der Kreislauf gar kein geschlossenes System im physikalischen Sinne ist, wie es die Pumpentheorie voraussetzt, sondern sich im Kapillarbereich ins Interstitium öffnet. Deshalb wären das Hagen-Poiseuille- und das Ohmsche Gesetz hier eigentlich gar nicht anwendbar. Wie schafft das faustgroße Myokard das, was es

schafft? Schon Mendelson schreibt: „Die Kraft des Herzens entspricht nicht einmal einem geringfügigen Bruchteil derjenigen Kraft, welche nötig wäre, die Blutmasse selbsttätig durch den Körper zu bewegen“ [7]. Das Auswurfvolumen des linken Ventrikels beträgt etwa 75 ml pro Herzschlag. Bei einer durchschnittlichen Frequenz des Herzgesunden in Ruhe von 70 Schlägen pro Minute ergibt das ein etwaiges Minutenvolumen von 5 l. Das sind hochgerechnet auf eine Stunde 60 × 5 = 350 l! Rein rechnerisch pumpen demnach die 300 g Myokard etwa 8400 l pro Tag, ohne Ruhepause, ein Leben lang. Der erste Herzschlag ist Ende der 3. Schwangerschaftswoche nachweisbar. Wie aber funktioniert der Blutfluss bis dahin? Während dazu in unseren Lehrbüchern keine Hinweise zu finden sind, hatte Harvey auch noch keine Antwort, das Problem aber zumindest schon erkannt: „Das Blut bewegt sich zu Beginn der Embryonalentwicklung zunächst von selbst. Das Herz ist erst dann fertig entwickelt, wenn diese Eigenbewegung des Blutes für den Embryo nicht mehr ausreichen würde. Was diese Bewegung aber bewirkt, bleibt zweifelhaft“ [1]. Das Auswurfvermögen des linken Ventrikels wird nach dem Frank-Starling-Gesetz von der Vorspannung bestimmt. Auch dazu gibt es in allen Lehrbüchern vergleichbare Abbildungen, die zeigen, dass diese Vorspannung aus dem Flüssigkeitsdruck hochhängender Behälter entsteht (q Abb. 1). Wer oder was aber bringt diese Flüssigkeiten dorthin? Physiologisch befindet sich das Flüssigkeitsreservoir, der venöse Pool, nicht über, sondern unter dem Herzen. Wie aber entsteht dann die auswurfbestimmende Vorspannung, „Vorlast“, „preload“? Beim Versagen einer Umwälzpumpe nimmt der Druck im System physikalisch zwangsläufig ab. Im Kreislauf aber steigt er bis zur Einflussstauung an. Das führt zur Frage nach den Triebkräften für den Rückstrom aus dem großen venösen Pool mit einer Gesamtlänge von mehr als 50 000 km parallel geschalteter Kapillaren.

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über den venösen Rückstrom aber wurde allgemein übersehen. Selbst im 5 Jahre später erschienenen neuesten Standardwerk zur Mikrozirkulation [4] wird sie nicht erwähnt, sondern der Satz  von der Pumpfunktion zitiert. Das Blut fließt also sichtbar dokumentiert auch bei stillstehendem linken Ventrikel zum Herzen zurück.

Widerstandselement nach Starling (TPW)

Venöses Reservoir

Schraubklemme AD ZVD Volumen Glasglocke

Kardiograph

Abb. 1 Versuch mit dem Herz-Lungen-Präparat eines Hundes. Der zentralvenöse Druck (ZVD) wird durch die Höhe des venösen Reservoirs und die Schraubklemme reguliert. Der manometrisch gemessene arterielle Druck (AD) wird mit einem Widerstandselement (TPW: totaler peripherer Widerstand) konstant gehalten. Das Herz ist in einer umgekehrten Glasglocke am atrioventrikulären Übergang mit einer Gummimembran fixiert. Die Volumenänderung bei jedem Herzschlag wird auf einer rotierenden Walze aufgezeichnet (nach: Patterson SW, Starling EH. On the mechanical factors which determine the output of the ventricles. J Physiol 1914;48: 357–379).

Lehrbuchmäßig wird hierbei die „Umwälzpumpe“ durch folgende Kräfte unterstützt [8]: 1. Muskelpumpe, 2. Inspiratorischer Sog, 3. Diastolischer Sog, 4. Arterielle Pulswelle, 5. Ventilebenenverschiebung. Die Maßeinheit für den venösen Rückstrom ist der Zentrale Venendruck (ZVD). Anhand dessen kann man erkennen, dass die sogenannte „Muskelpumpe“ keinen Einfluss auf den venösen Rückstrom hat, denn der ZVD bleibt unter Muskelrelaxation in Narkose ebenso unbeeinflusst wie im natürlichen Schlaf oder beim Raketenstart der Astronauten und ihrer anschließenden Schwerelosigkeit. Der inspiratorische Sog kann auch keinen wesentlichen Effekt haben, denn selbst unter Überdruckbeatmung bleibt der ZVD unverändert. Gegen einen kreislaufwirksamen Effekt des diastolischen Soges spricht allein schon die Tatsache, dass es zwischen Hohlvenen und rechtem Vorhof keine Klappen gibt, das Blut aber trotzdem kontinuierlich zum Herzen fließt und nicht hin und her pendelt. Auch dazu schrieb Harvey schon: „ … es ist auch nicht wahr, wie man gemeinhin glaubt, das Herz ziehe kraft einer Eigenbewegung Blut in die Kammern heran, denn indem es erschlafft, empfängt es Blut in einer Weise, wie es sich später noch ergeben wird.“ „Blut tritt in die Kammern ein, nicht durch eine Anziehung oder infolge der Ausdehnung des Herzens, sondern hineingetrieben …“ Arterielle Pulswelle und Ventilebenenverschiebung als Triebkräfte für den venösen Rückstrom sind als Triebkräfte wohl eher zu vernachlässigen. Weitere unbeantwortete Fragen kommen hinzu: Wer oder was bewegt den Pfortaderkreislauf bis hin zur portalen Hypertension? In Ösophagusvarizen kann dabei der Druck bis zu 3 × höher sein, als im Ursprungskapillarbett des Darmes. Und: Welcher Antrieb bewegt den Lymphkreislauf? Bereits 2003 konnten Steen und Mitarbeiter an der Universität Lund in Schweden bei Untersuchungen am offenen Schweineherzen zeigen, dass sich auch bei flimmerndem, also funktionell stillstehendem Herzen, der rechte Vorhof bis zur Überdehnung füllt [10]. Diese Studie hatte zwar die Fragestellung der Auftraggeber nach der Effektivität von Herzdruckmassage und Defibrillation erwartungsgemäß positiv beantwortet. Die darin enthaltene fundamentale Erkenntnis

Harvey, der keine Vorstellung von der Mikrozirkulation haben konnte, schrieb schon: „Die Venen selbst führen das Blut immerwährend zum Herzen zurück.“ „Die Herzohren werden mit Blut gefüllt … durch Inbewegungsetzung der Venen.“ „Das Blut tritt in die Kammern ein, … hineingetrieben.“ „Es erübrigt sich auseinanderzusetzen, das die Venen jene Gefäße sind, die allein das Blut von den Enden zum Mittelpunkt führen“. Und weil der venöse Rückstrom aus eigenem Antrieb kontinuierlich fließt, brauchen wir auch keine Klappen zwischen Hohlvenen und Vorhof. Wie aber funktioniert dann der venöse Rückstrom, wenn die Pumpfunktion dafür nicht ausreicht? In den Lehrbüchern findet man dazu nichts, denn wir haben ja das Herz als Umwälzpumpe. Wohl aber findet man im Lehrbuch, dass an jeder Zellmembran Filtration, Resorption und Sekretion als aktive Vorgänge stattfinden. So resorbieren die wie die Kapillaren und das Lymphsystem aus den gleichen embryologischen Strukturen hervorgegangenen Nierentubuli von den 180 l Primärharn pro Tag so viel, dass nur 2 l davon ausgeschieden werden. Das ergibt eine Filtrations- und Sekretionsleistung der Niere von 7–8 l pro Stunde. Wenn man nun bei der Mindestlänge des Kapillarsystems von ca. 50 000 000 m beispielhaft annimmt, dass auf 500 m Kapillarstrecke die vorstellbare Menge von einem Tropfen pro Minute aus den Zellen in das System sezerniert wird, dann ergibt das hochgerechnet mehr als 4 l, also das Minutenvolumen, was aktiv aus der Peripherie ohne Pumpfunktion als venöser Rückstrom zum Herzen fließt. Mendelson schreibt dazu: „Die Kraft, welche die gewaltige und immerwährende Bewegung des Blutes erzeugt und erhält, ist der Stoffwechsel“ [7]. Die eigentlich lebenswichtige Funktion des Herzens beginnt am Ende des venösen Rückstromes. Dabei sind die Klappen das Wichtigste. Sie allein bestimmen die Richtung und die Dosierung des Blutstromes. „Das Herz ist kein Motor, das Herz ist ein Regulator“ (Mendelson [7]). Der akute Kreislaufzusammenbruch bei Herzstillstand entsteht nicht durch Ausfall der Pumpfunktion, sondern durch Ausfall der Klappenfunktion. Das Myokard gibt dem venös ankommenden Blutstrom zusammen mit der aortalen Windkesselfunktion einen wesentlichen Beschleunigungsimpuls bis in die Peripherie. Insgesamt drängen sich also im medizinischen Alltag eine Vielzahl klinischer Symptome auf, die unsere Kreislauftheorie nicht zu erklären vermag, was Anlass zum Nachdenken und Hinterfragen geben sollte. Literatur 1 Goddemeier Ch. Die Entdeckung des Blutkreislaufes. Dtsch Ärztebl 2007; 20: A1375 2 Harvey W. Die Bewegung des Herzens und des Blutes. Leipzig, Barth 1910; (Übersetzung der Frankfurter Ausgabe, 1628, von R.v.Töply) 3 Klinke R, Silbernagel S. Lehrbuch der Physiologie. Stuttgart, Thieme 2001 4 Klopp R. Mikrozirkulation im Fokus der Forschung. Triesen, Mediquant Verlag 2008 5 Manteuffel-Zöge L. Über die Bewegung des Blutes. Stuttgart, Verlag Freies Geistesleben 1977 6 Marinelli R, Fürst B, van der Zee H et al. The heart is not a pump. Philadelphia, Frontier Perspective 1996; 5 7 Mendelson M. Das Herz – ein sekundäres Organ. Berlin, Axel Junker 1928 8 Schmidt R, Thews G. Physiologie des Menschen. Berlin, Springer 1993 9 Siegenthaler W. Klinische Pathophysiologie. Stuttgart, Thieme 2006 10 Steen S, Liao Q, Pierre L et al. The critical importance of minimal delay between chest compression and subsequent defibrillation. A haemodynamic explanation. Resuscitation 2003; 58: 249–258

Dtsch Med Wochenschr 2014; 139: 2666–2667 · M. Kögel, Fragen zu unserer …

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