Kurzbeiträge Nervenarzt 2015 DOI 10.1007/s00115-015-4286-9 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

P.S. Zeiner · H. Steinmetz · C. Foerch Klinik für Neurologie, Klinikum Goethe-Universität, Frankfurt am Main

Pseudomigräne   mit Liquorpleozytose „Alice-im-Wunderland“-Syndrom

Das „Alice-im-Wunderland“-Syndrom wurde erstmals 1955 durch den britischen Psychiater John Todd beschrieben und bezieht sich auf die veränderte Wahrnehmung von Größe und Form des eigenen Körpers und der Umwelt, ähnlich Alices Erlebnissen in Lewis Carrolls Erzählung (. Abb. 1). Neben epileptischen Anfällen und Migräneattacken kann es auch durch entzündliche Erkrankungen des Zentralnervensystems ausgelöst werden [2]. Über einen Zusammenhang mit der differenzialdiagnostisch zur klassischen Migräne zu bedenkenden Pseudomigräne mit Pleozytose (PMP) ist bislang nichts berichtet. Die PMP (Synonym: HaNDL, „headache with neurological deficits and CSF lymphocytosis“) ist eine erstmals im Jahr 1981 von Bartleson et al. beschriebene Erkrankung, die klinisch typischerweise mit episodischen Kopfschmerzattacken mit transienten neurologischen Ausfällen einhergeht und zusatzdiagnostisch neben Veränderungen im Elektroenzephalogramm (EEG) eine lymphozytäre Pleozytose bietet [1, 3]. Wir berichten erstmals über einen Patienten, bei dem ein „Alice-im-Wunderland“-Syndrom im Rahmen einer PMP aufgetreten ist.

Kasuistik Der 23-jährige Patient stellte sich aufgrund eines akut aufgetretenen Gesichtsfeldausfalls gefolgt von einer globalen Aphasie und einer Hemiparese rechts zunächst in einem externen Krankenhaus

vor. Begleitend seien Kopfschmerzen aufgetreten. Als Vorerkrankung lag eine schwere Migräne seit der Kindheit vor. Unter dem Verdacht auf einen akuten Schlaganfall war eine i.v. Lysetherapie durchgeführt worden. Die fokal-neurologische Ausfallssymptomatik besserte sich rasch, jedoch persistierten im Verlauf rezidivierende migränös anmutende Kopfschmerzattacken und mehrmals pro Tag für wenige Minuten anhaltende Derealisationsphänomene mit Metamorphopsien (u. a. Wahrnehmung vergrößerter Gliedmaßen) sowie Mikro- und Makropsien der Umwelt. Bei Nachweis einer linkstemporalen Verlangsamung im EEG mit einmalig eingelagerten „sharp waves“ sowie liquorzytologisch auffälliger lymphomonozytärer Pleozytose mit Zellzahlen von 128/µl und im Verlauf von 38/µl war von den Kollegen schließlich eine symptomatische Epilepsie bei mutmaßlicher Zytomegalievirus(CMV)-Enzephalitis angenommen worden, nachdem sich serologisch ein erhöhter ImmunglobulinM(IgM)-CMV-Titer bei sonst negativer Erregerdiagnostik (inkl. Epstein-BarrVirus-Serologie) nachweisen ließ. Die CMV-PCR („polymerase chain reaction“) aus dem Liquor blieb allerdings negativ. Auch die sonstige Erregerdiagnostik verlief komplett unauffällig. Es erfolgte eine 21-tägige i.v. Aciclovir-Gabe und die Einstellung auf eine antiepileptische 3-FachTherapie (Levetiracetam, Vimpat, Lamotrigin). Die Aufnahme in domo erfolgte 4 Wochen nach Beginn der o. g. Symptomatik zur diagnostischen Reevaluation. Klinisch neurologisch fand sich ein unauffälliger

Patient, jedoch persistierten die o. g. rezidivierenden Derealisationsphänomene, die wir als „Alice-im-Wunderland“-Syndrom einordneten, für insgesamt ca. 6 Wochen. Zweimalig durchgeführte zerebrale Magnetresonanztomographien boten Normalbefunde. Eine Verlaufs-EEG ergab unter fortgeführter antiepileptischer 3-Fach-Medikation ebenfalls einen Normalbefund, sodass die Therapie auf die alleinige Gabe von Lamotrigin reduziert werden konnte (das auch in der prophylaktischen Behandlung der Migräne mit Aura Anwendung findet).

Diskussion Angesichts der Kopfschmerzen, der passageren fokal neurologischen Ausfälle zu Beginn der Erkrankung und der mehrfach nachgewiesenen lymphomonozyären Pleozytose diagnostizieren wir eine PMP. Diese per definitionem selbstlimitierend, jedoch episodenförmig teilweise über mehrere Wochen verlaufende Erkrankung tritt im Unterschied zum vorliegenden Fall zumeist bei Patienten ohne Migränevorgeschichte auf [3]. Bezüglich der Pathophysiologie der PMP werden migräneähnliche Mechanismen vermutet. Hierzu zählen die lokale zerebrale Hypoperfusion [3, 5] und kortikale „spreading depressions“, die zu einer inflammatorischen Reaktion mit erhöhter Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke und Liquorpleozytose führen [1]. Alternativ wird auch eine autoimmun vermittelte Genese diskutiert, im Sinne einer aseptischen leptomeningealen Vaskulitis [3]. Diese Hypothese stützend wurden in Der Nervenarzt 2015 

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Kurzbeiträge F Das „Alice-im-Wunderland“-Syndrom kann Symptom einer PMP sein und muss differenzialdiagnostisch insbesondere zu psychiatrischen Erkrankungen bedacht werden.

Korrespondenzadresse P.S. Zeiner Klinik für Neurologie, Klinikum Goethe-Universität Schleusenweg 2–16, 60528 Frankfurt am Main [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Abb. 1 8 Illustration der Metamorphopsie. (Aus [6])

einer kleinen Kohorte von PMP-Patienten Serumantikörper gegen die Untereinheit CACNA1H eines u. a. auf Neuronen exprimierten Kalziumkanals (T-Typ VGCC) identifiziert [5]. Eindrücklich war im vorliegenden Fall das begleitende „Alice-imWunderland“-Syndrom, welches im Rahmen einer klassischen Migräne bekannt ist [4], jedoch hier im Zusammenhang mit der PMP erstmals beschrieben wird. Eine primär iktale, ischämische oder infektiöse [2] Genese des „Alice-im-Wunderland“-Syndroms halten wir im vorliegenden Fall in der Zusammenschau von Klinik, Verlauf und Zusatzdiagnostik für wenig wahrscheinlich. Neben der eindrucksvollen klinischen Manifestation sind hier insbesondere auch die differenzialdiagnostischen Schwierigkeiten erkennbar, welche die PMP mit sich bringen kann. Nicht zuletzt erfolgten hier eine i.v. Lysetherapie, eine 3-fach antiepileptische Behandlung und eine 21-tägige Aciclovir-Therapie.

Fazit für die Praxis F Die PMP bietet ein breites Spektrum an Symptomen und zusatzdiagnostischen Befunden. F Die PMP muss differenzialdiagnostisch bei akuten neurologischen Erkrankungen bedacht werden.

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Der Nervenarzt 2015

Interessenkonflikt.  P.S. Zeiner und H. Steinmetz geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. C. Foerch hat eine projektspezifische Forschungsförderung von folgenden Firmen erhalten: Boehringer Ingelheim, Roche Diagnostics; Aufwandsentschädigungen für Advisory Boards und Vortragshonorare wurden bezogen von: Biogen Idec, Genzyme, Merck Serono, Roche Diagnostics. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

Literatur 1. Day TJ, Knezevic W (1984) Cerebrospinal-fluid abnormalities associated with migraine. Med J Aust 141(7):459–461 2. Evans RW, Rolak LA (2004) The Alice in Wonderland Syndrome. Headache 44(6):624–625 3. Gómez-Aranda F, Cañadillas F, Martí-Massó JF et al (1997) Pseudomigraine with temporary neurological symptoms and lymphocytic pleocytosis. A report of 50 cases. Brain 120(Pt 7):1105–1113 4. Ilik F, Ilik K (2014) Alice in Wonderland syndrome as aura of migraine. Neurocase 20(4):474–475 5. Kürtüncü M, Kaya D, Zuliani L et al (2013) CACNA1H antibodies associated with headache with neurological deficits and cerebrospinal fluid lymphocytosis (HaNDL). Cephalalgia 33(2):123–129 6. Carroll L (1907) Alice’s Adventures in Wonderland. Dodge Pub Co, New York

[Pseudomigraine with cerebrospinal fluid pleocytosis : Alice in Wonderland syndrome].

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