Kurze Originalien

&

DMW1990,

Fallberichte

115. Jg., Nr. 38

Pseudofluorose: psychische Aspekte der Umweltbelastung C. W. Schmidt und W. Leuschke Innere Abteilung (Leiter: Privatdozent Dr. C. W. Schmidt) am Kreiskrankenhaus Heidenau und Betriebspoliklinik (Direktor: Medizinalrat Dr. G. Herrmann) des VEB Kunstseidenwerks Pirna

Eine Frau mittleren Alters, die viele Jahre in der direkten Umgebung einer Fluor-emittierenden Industrieanlage gewohnt hatte, wurde im Hinblick auf eine von ihr vermutete sogenannte Skelettfluorose untersucht. Röntgenbilder, klinisch-chemische und histologische Befunde ergaben keinen Hinweis auf eine Fluorose. Die Fluoridwerte in Knochen, Blutserum, Sammelurin, Nägeln und Haaren lagen im Normbereich. Selbst dieser Gegenbeweis brachte die Patientin nicht von ihrer über Jahre beibehaltenen Gewißheit ab, an einer Fluorose zu leiden. Demnach sind bei der Beurteilung der gesundheitlichen Bedeutung von Umweltschadstoffen auch psychische Aspekte zu berücksichtigen.

Umweltbelastungen in der Umgebung von schadstoffemittierenden Industriebetrieben sind der Bevölkerung meist genau bekannt. Es besteht auch oft detaillierte Kenntnis der durch den Schadstoff ausgelösten Symptome. In der Umgebung mehrerer seit Jahrzehnten Fluor-emittierender Industrieanlagen wurden bei Anwohnern ohne berufsbedingten Fluorkontakt Skelettfluorosen verschiedener Schweregrade festgestellt (6-8). Bei etwa 84% der Kinder des Ortes ließ sich eine Dentalfluorose aller Schweregrade nachweisen (1). Daher neigen viele Bewohner des betroffenen Gebiets dazu, alle auftretenden Allgemeinsymptome und Beschwerden ausschließlich auf den bekannten Schadstoff zu beziehen. Im folgenden soll anhand einer eigenen Beobachtung dargestellt werden, wie weit sich die Überzeugung, an einer Fluorose zu leiden, trotz sicheren Beweises des Gegenteils verselbständigenkann.

Dtsch. med. Wschr. 115 (1990), 1 4 3 6 - 1 4 3 7 © Georg Thieme Verlag Stuttgart New York

Pseudofluorosis: psychological aspects of pollution A middle-aged woman who had been living in close surroundings of a fluorineemitting factory for many years, was examined because she claimed to be suffering from skeletal fluorosis. Radiological, histological and laboratory findings did not give evidence of fluorosis. Fluoride concentrations were normal in samples of blood, bone, pooled urine, nails and hair. Even this proof to the contrary did not shake her conviction of many years that she was suffering from fluorosis. Thus, psychological aspects have to be considered in the assessment of health implications of pollutants.

Kasuistik Anamnese. Die Patientin mittleren Alters berichtete ü b e r spontan innerhalb eines halben J a h r e s aufgetretene uncharakteristische multiple Beschwerden von Seiten des Bewegungsapparates, die seither nicht m e h r zurückgegangen seien. Sie stand seit dieser Zeit in ständiger ärztlicher Betreuu n g bei Internisten, Rheumatologen, Orthopäden und Neurologen. Sie w a r überzeugt, an einer Fluorose zu leiden. Weder ärztliche Untersuchungen noch radiologische und klinischchemische Befunde konnten sie davon abbringen. Sie hatte m e h r e r e Eingaben, unter a n d e r e m an den Gesundheitsminister, geschrieben und sich j a h r e l a n g erfolglos um einen Wohnungswechsel b e m ü h t . Ihre G r u n d ü b e r z e u g u n g war: Daß sie an Fluorose leide, w ü ß t e n alle Ärzte ganz genau, diese seien a b e r »zum Schweigen gezwungen«. Im J a h r 1989 w u r d e n wir von der Patientin gebeten, den Fluoridgehalt im Knochen zum sicheren Beweis ihrer Fluoroseerkrankung zu bestimmen. Beschwerden. Die Patientin gab Leistungsm i n d e r u n g und starke Schmerzen in der gesamten Wirbelsäule nach geringer Belastung an. Nachts h a b e sie Schmerzen in den Händen, und sie könne schlecht zufassen. Im Daumengrundgelenk spüre sie Stechen, auch in beiden Kniegelenken, hier sei alles geschwollen. Sie könne n u r eine halbe Stunde lang gehen. Nach 2 - 3 Stunden Berufstätigkeit im Sitzen träten Benommenheit, Konzentrationsschwäche, Übelkeit, Schwächegefühl, Trockenheit in Mund und Nase sowie Kratzen im Hals auf. Atemnot bestehe bereits am Morgen.

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115. Jg., Nr. 38

Klinischer Befund. Die normosome Frau befand sich in gutem Allgemein- und Kräftezustand. Der Kopf w a r frei beweglich, die Sinnesorgane waren unauffällig. An Herz und Lunge wurden keine pathologischen Befunde erhoben. Der Blutdruck betrug 140/80 mm Hg, der Puls war mit 84 Schlägen/min rhythmisch. Leber und Milz waren nicht vergrößert, es bestanden keine Hernien, die Nierenlager waren frei. Die Extremitäten konnten altersentsprechend frei bewegt werden, es wurde n keine Umfangsdifferenzen und keine Paresen festgestellt. Die Wirbelsäulenbeweglichkeit war in allen Abschnitten physiologisch, der neurologische Status unauffällig. Klinisch-chemische und radiologische Befunde. Die bei einem kurzen Klinikaufenthalt bestimmten Parameter (Kreatinin, Kalium, Bilirubin, Transaminasen, alkalische Phosphatase, Amylase, Gesamteiweiß, Blutglucose, Hämoglobin, Hämatokrit, Leukozyten, Thromboplastinzeit und Blutsenkungsreaktion) lagen alle im Normbereich. Röntgenaufnahmen der Hals-, Brust-und Lendenwirbelsäule zeigten geringe degenerative vordere und seitliche Kantenausziehungen sowie eine geringe Osteochondrose, gaben aber keinen Anhalt für eine verdichtete Knochenstruktur. Die Strukturen des knöchernen Beckens w a r e n röntgenologisch unauffällig, es bestanden keine Periostosen und keine Bänderverkalkungen, die Hüftgelenke w a r e n unauffällig. Auf Röntgenbildern des rechten Unterarmes und des rechten Unterschenkels w a r e n keine Strukturauffälligkeiten und keine Periostosen sichtbar. Die histologische Untersuchung des Bekkenkammbiopsats ergab unauffällige Knochenbälkchen ohne Hinweis auf eine Hyperostose. Der Fluoridgehalt wurde unter Verwendung von Mikrodiffusion und ionensensitiven Elektroden (5) in verschiedenen Materialien bestimmt: Beckenkammknochenasche 0 , 0 9 4 % (normal 0 , 0 5 - 0 , 1 % [21), Blutserum 0,65 |xmol/l (normal 0 , 7 - 1 , 5 mnol/1 [3]), Sammelurin 4 7 , 3 ^ m o l / 2 4 h (Normalwert in weiten Grenzen schwankend [10]), Fingernägel 0,2 ppm (normal 0,8 ppm), Haarprobe 0,04 ppm. Von psychiatrischer Seite wurde eine neurotische Fehlentwicklung festgestellt, es bestand kein Anhalt für eine Psychose. Alle eine Fluorose ausschließenden Befunde w u r d e n der Patientin ausführlich mitgeteilt. Überzeugt werden konnte sie dadurch jedoch nicht: Bereits 3 Monate nach der Entlassung hatte sie sich zur erneuten Untersuchung in eine Universitätsklinik begeben.

Diskussion Zu keiner Zeit hatte die Patientin ein Rentenbegehren geäußert. Auch ihre multiplen Beschwerden gab sie nicht als wichtigsten Punkt an. Ihr Ziel war die ärztliche Bestätigung der von ihr unerschütterlich angenommenen Fluorose. Diese durch logische Einwände nicht korrigierbare Gewißheit hat wahnartigen Charakter. Das relativ plötzliche Auftreten aller Beschwerden spricht, da die Entwicklung einer klinisch bedeutsamen Fluorose Jahrzehnte dauert (9), für die neurotische Fehlverarbeitung von wissenschaftlichen Untersuchungsergebnissen, die der Patientin in der Zeit des Beschwerdebeginns zur Kenntnis kamen. Auf dem »First European Meeting of Environmental Hygiene« 1987 in Düsseldorf haben Kofier und Lercher (4) über Beobachtungen in der

Schmidt,

Leuschke:

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Nähe einer österreichischen Schmelzerei berichtet. Nachdem das Fernsehen über Fluorose bei Tieren in der Fabrikumgebung berichtet hatte, stellten sich bei vielen Anwohnern ähnliche Beschwerden ein. Nach Schließung des Betriebes trat Beruhigung ein. Bei erneutem Arbeitsbeginn nach grundlegender umwelttechnologischer Sanierung des Betriebs, durch die alle Emissionswerte nachweislich eingehalten werden konnten, kam es bei der Anliegerbevölkerung zu einer regelrechten »PseudofluoroseEpidemie«. Diese Beschreibung und unsere Kasuistik weisen darauf hin, daß es sich bei der Beurteilung der gesundheitlichen Bedeutung eines Umweltschadstoffes um ein sehr komplexes Gebiet handelt und daß psychische Aspekte, die sich im Einzelfalle wahnhaft verselbständigen können, berücksichtigt werden sollten.

Literatur 1 Binder, G., H. Jackisch, I. Thun: Die Dentalfluorose in Dohna (Bezirk Dresden). Dissertation, Dresden 1979. 2 Franke, J., F. Rath, H. Runge, F. Fengler, E. Auermann, G. Lenhart: Industrial fluorosis. Fluoride 8 (1975), 61. 3 Klinger, J.: Pharmakokinetische Untersuchungen bei chronisch fluorexponierten Personen nach Gabe von NaF verschiedener galenischer Zubereitung. Dissertation, Dresden 1981. 4 Kofier und Lercher: First European Meeting of Environmental Hygiene, 21.-22. Mai 1987, Düsseldorf. Referat in: Z. ges. Hyg. 34(1988), 211. 5 Leuschke, W., Chr. W. Schmidt: Fluoridbestimmung in der Knochenasche nach Beckenkammstanzbiopsie. Z. klin. Med. 41 (1986), 231. 6 Schmidt, C. W.: Zur Kenntnis der Knochenfluorose mit kasuistischem Beitrag zur Abgrenzung einer Sonderform. Dtsch. Gesundh.-Wes. 31 (1976), 552. 7 Schmidt, C. W.: Nachbarschaftsfluorose - Untersuchungen in der Umgebung einer Aluminiumdruckgießerei. Dtsch. Gesundh.-Wes. 31 (1976), 1700. 8 Schmidt, C. W.: Neighborhood fluorosis with skeletal manifestations. Fluoride 16 (1983), 83. 9 Schmidt, C. W.: Untersuchungen über die Entwicklung einer nicht berufsbedingten Skelettfluorose - Nachbarschaftsfluorose - mit Berücksichtigung spezieller Morbiditätsfragen im Territorium. Dissertation, Halle/Saale 1983. 10 Schmidt, C. W., U. Funke: Renale Fluoridausscheidung nach Belastung mit Schwarzem Tee. Z. ärztl. Fortbild. 78 (1984), 365.

Privatdozent Dr. C. W. Schmidt Innere Abteilung am Kreiskrankenhaus Dohnaer Straße DDR-8312 Heidenau Dr. sc. nat.W. Leuschke Betriebspoliklinik Kunstseidenwerk Dresdner Str. 60 DDR-8300 Pirna

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DMW1990,

[Pseudofluorosis: psychologic aspects of environmental pollution].

A middle-aged woman who had been living in close surroundings of a fluorine-emitting factory for many years, was examined because she claimed to be su...
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