Kasuistiken Ophthalmologe 2015 DOI 10.1007/s00347-014-3231-9 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

P. Charbel Issa1 · M. Gliem1 · F.G. Holz1 · C. Knabbe2 · D. Hendig2 1 Universitäts-Augenklinik Bonn, Bonn 2 Institut für Laboratoriums- und Transfusionsmedizin, Herz- und Diabeteszentrum Nordrhein-

Westfalen, Universitätsklinik der Ruhr-Universität Bochum, Bad Oeynhausen

Pseudodominante Vererbung von Pseudoxanthoma elasticum Falldarstellung

Familie 2

Familie 1

Ein 67-jähriger Patient mit Manifestationen von PXE am Augenhintergrund (. Abb. 2), der Haut und dem kardiovaskulären System berichtete über PXEtypische Hautveränderungen bei seinem 28-jährigen Sohn. Bei dessen funduskopischer Untersuchung zeigten sich eine Peau d’orange und beginnende angioide Streifen (. Abb. 2), sodass auch hier der Verdacht auf PXE bestand. Molekulargenetisch fanden sich beim Vater 2 pathogene Mutationen in ABCC6 (c.3421C>T [p.Arg1141*] und c.3883-6G>A). Der Sohn trug dieselben Mutationen wie der Vater, wobei die häufigste ABCC6-Mutation in der deutschen Bevölkerung (p.Arg1141*) seitens der Mutter vererbt wurde (. Abb. 2).

Im Rahmen einer Spezialsprechstunde für Pseudoxanthoma elasticum (PXE) stellten sich 3 Brüder im Alter von 48 bis 53 Jahren vor. Bei jedem fanden sich funduskopisch für PXE charakteristische Befunde wie Peau d’orange, angioide Streifen und periphere Kometenläsionen (. Abb. 1). Ebenfalls zeigten die Patienten an der Haut von Gelenkbeugen und Hals kleine Papeln in retikulärer Anordnung. Keiner der Betroffenen hatte Kinder. Aufgrund einer berichteten Manifestation von PXE auch bei der 77-jährigen Mutter erfolgte deren Untersuchung, wobei sich ebenfalls PXE-typische Veränderungen an Haut und Augen zeigten (. Abb. 1). In der molekulargenetischen Abklärung mittels direkter Sequenzierung und MLPA-Analyse (Multiplexligationsabhängige Sondenamplifikation) fanden sich bei allen 3 Brüdern dieselben 2 pathogenen ABCC6-Mutationen in gemischt heterozygotem Status: eine Einzelnukleotidinsertion c.3769_3770insC [p.Leu1259fs*1277] sowie eine Deletion des Exons 22 (c.2787+?_c.2996-?del). Bei der Mutter ließ sich nur die Insertionsmutation, nicht jedoch die Deletion nachweisen. Als zweite pathogene Mutation wies die Mutter die häufigste ABCC6-Mutation auf (c.3421C>T [p.Arg1141*]). Der Vater war heterozygoter Träger der c.EX22Deletion.

Diagnose Pseudodominante Vererbung von Pseudoxanthoma elasticum (PXE).

Diskussion PXE ist eine seltene Systemerkrankung, der Mutationen im ABCC6-Gen zugrunde liegen [10]. Das ABCC6-Protein ist ein Transmembrantransporter, der vor allem in der Leber und den Nieren exprimiert wird. Obwohl die genaue Funktion von ABCC6 bisher ungeklärt ist, gibt es gute Hinweise dafür, dass ABCC6 zur Sekretion eines noch unbekannten Faktors X aus den Hepatozyten der Leber in den Blutkreislauf notwendig ist. Dieser Fak-

tor X scheint die Kalzifizierung von elastischen Fasern zu verhindern. Dementsprechend entwickeln Patienten mit PXE eine übermäßige Kalzifizierung von elastischem Bindegewebe, die vor allem das kardiovaskuläre System, die Haut und das Auge betrifft. Die Manifestation am Auge ist geprägt durch Kalzifizierung und folgende Brüchigkeit der Bruch-Membran. Charakteristische klinische Befunde sind Peau d’orange, angioide Streifen, chorioretinale Atrophie und sekundäre chorioretinale Neovaskularisationen [6]. Im Allgemeinen wird ein autosomal-rezessiver Erbgang angenommen [1, 3, 4, 12, 13]. In den beiden hier vorgestellten Familien mit PXE liegt eine Vererbung von einer Generation auf die nächste vor, womit die Möglichkeit eines dominanten Erbgangs besteht. Jedoch ist in beiden Familien jeweils der Partner eines PXE-Erkrankten auch heterozygoter Träger einer Mutation im ABCC6-Gen, wodurch die Wahrscheinlichkeit einer Vererbung zweier Mutationen 50% für jedes Kind beträgt (Pseudodominanz).

Lässt sich die Häufigkeit von heterozygoten ABCC6Mutationsträgern in der Bevölkerung abschätzen? Für PXE wurde eine Häufigkeit zwischen 1:25.000 und 1:100.000 geschätzt [3]. Wird eine Häufigkeit von 1:50.000 im Mittel zugrunde gelegt, so ergibt sich populationsgenetisch nach dem Hardy-Weinberg-Gesetz eine Heterozygotenrate für ABCC6Mutationen von 0,9%. Eine HeterozygoDer Ophthalmologe 2015 

| 1

Kasuistiken

Abb. 1 8 Klinische Befunde und Stammbaum von Familie 1. a, c, e, g Fundusfarbaufnahmen und b, d, f, h Fundusautofluoreszenzaufnahmen von an Pseudoxanthoma elasticum (PXE) erkrankten Mitgliedern von Familie 1. a, b Bei Proband II.2 (77 Jahre) zeigten sich fortgeschrittene PXE-assoziierte Fundusveränderungen mit ausgeprägter chorioretinaler Atrophie und pigmentierten Vernarbungen. Alle 3 Söhne (III.1 und III.2, 48 Jahre; III.3, 53 Jahre) zeigten PXE-typische Fundusveränderungen unterschiedlichen Ausmaßes. c, d Während III.1 im Wesentlichen angioide Streifen sowie eine Peau d’orange zeigte, fanden sich e, f bei seinem Zwillingsbruder (III.2) auch Musterdystrophie-artige Veränderungen. g, h Bei III.3 fanden sich fortgeschrittene atrophe und fibrotische Veränderungen. i Stammbaum von Familie 1 über 3 Generationen. Der ABCC6-Genotyp ist rechts neben den Symbolen der genotypisierten Familienmitglieder abgebildet

tenrate lässt sich auch basierend auf populationsbasierten Daten zur Frequenz bestimmter ABCC6-Mutationen errechnen. Die weltweit häufigste ABCC6-Mutation p.Arg1141* wurde in ca. 0,1–0,8% gesunder Kontrollprobanden in heterozygotem Status gefunden [8, 9, 15]. Da diese Mutation ca. 20–25% aller ABCC6-Mutatio-

2 | 

Der Ophthalmologe 2015

nen bei PXE-Patienten ausmacht [7], errechnet sich eine Heterozygotenrate für alle ABCC6-Mutationen von 0,5–3,2. Somit kann mit einer Häufigkeit von ca. 1:30–1:200 erwartet werden, dass der Partner eines PXE-Patienten heterozygot für eine ABCC6-Mutation ist. Um den Rückschluss aus solchen zufälligen Konstella-

tionen auf einen dominanten Erbgang zu verhindern, wird formal eine Vererbung über mindestens 3 aufeinanderfolgende Generationen gefordert, um einen dominanten Erbgang als sehr wahrscheinlich anzunehmen. Tatsächlich findet sich jedoch kein einziger klinisch und molekulargenetisch gesicherter dominanter Erb-

Zusammenfassung · Abstract gang für PXE in der Literatur (Zusammenfassung in [12]), was durch die in dieser Kasuistik beschriebenen Fälle erneut bestätigt wird. Der Verdacht auf eine dominante Vererbung kann für einen Patienten eine erhebliche zusätzliche psychologische Belastung bedeuten. Den Autoren sind Fälle von Sterilisationen mit folgend unerfülltem Kinderwunsch aufgrund unzureichender genetischer Beratung bekannt. Vor diesem Hintergrund erscheint die Vorstellung von PXE-Patienten zur genetischen (Familien-)Beratung bzw. in Spezialsprechstunden als äußerst sinnvoll.

Gibt es auch andere Erklärungen für eine scheinbar dominante Vererbung von Pseudoxanthoma elasticum? Üblicherweise ist bei autosomal-rezessiv vererbten Erkrankungen ein heterozygoter Mutationsträger phänotypisch nicht von einer gesunden Kontrollperson zu unterscheiden. Das Genprodukt des unveränderten Allels ist dann ausreichend, um eine Erkrankungsmanifestation zu verhindern. Bei PXE ist diese Annahme jedoch möglicherweise nicht völlig zutreffend. So wurde ein höheres kardiovaskuläres Risiko bei heterozygoten Trägern der häufigsten Mutation in ABCC6 (p.Arg1141*) beschrieben [2, 9, 15], welches jedoch in anderen großen Studien nicht reproduziert werden konnte [8]. Milde Veränderungen der Haut und am Auge wurden auch bei heterozygoten Familienmitgliedern von PXE-Patienten beschrieben [5, 11, 14], jedoch fehlen hier systematische Untersuchungen bezüglich der Häufigkeit und des genauen Phänotyps. Die Ursache des Auftretens eines solchen gering ausgeprägten („form fruste“) PXE-Phänotyps kann mannigfaltig sein: Als Erklärung kommen eine Haploinsuffizienz von ABCC6 infrage, wobei das Genprodukt des gesunden Allels nicht ausreicht, eine geringe Erkrankungsmanifestation zu verhindern – z. B. bei zusätzlich erkrankungsfördernden Umweltfaktoren. Auch sind Gen-Gen-Interaktionen möglich, z. B. mit genetischen Polymorphismen in ABCC6 oder anderen Genen, die für sich selbst nicht klar pathogen sind. Ebenfalls könnte trotz zweier ABCC6-Mutationen

(von denen unter Umständen nur eine detektiert wird) eine nur limitierte Erkrankungsmanifestation auftreten, wenn zusätzlich andere (bisher unbekannte) protektive genetische Faktoren oder Umwelteinflüsse vorliegen. Unter Beachtung dieser Unsicherheiten ist ein scheinbar dominanter Erbgang mit geringer Penetranz für PXE nicht sicher auszuschließen, und somit ist eine klinische Kontrolle heterozygoter ABCC6-Mutationsträger möglicherweise sinnvoll.

Fazit für die Praxis F PXE wird autosomal-rezessiv vererbt. F Ein gering ausgeprägter Phänotyp („form fruste“) kann bei heterozygoten Mutationsträgern möglicherweise beobachtet werden. F Ein pseudodominanter Erbgang ist aufgrund einer Heterozygotenfrequenz von geschätzten 0,5–3,2% in der Bevölkerung möglich.

Korrespondenzadresse Prof. Dr. Dr. P. Charbel Issa Universitäts-Augenklinik Bonn Ernst-Abbe-Str. 2, 53127 Bonn [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  P. Charbel Issa, M. Gliem, F.G. Holz, C. Knabbe und D. Hendig geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.     Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.     Alle Patienten, die über Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts zu identifizieren sind, haben hierzu ihre schriftliche Einwilligung gegeben. Im Falle von nicht mündigen Patienten liegt die Einwilligung eines Erziehungsberechtigten oder des gesetzlich bestellten Betreuers vor.

Literatur   1. Bergen AA (2006) Pseudoxanthoma elasticum: the end of the autosomal dominant segregation myth. J Investig Dermatol 126:704–705   2. Campens L, Vanakker OM, Trachet B et al (2013) Characterization of cardiovascular involvement in pseudoxanthoma elasticum families. Arterioscler Thromb Vasc Biol 33:2646–2652   3. Chassaing N, Martin L, Calvas P et al (2005) Pseudoxanthoma elasticum: a clinical, pathophysiological and genetic update including 11 novel ABCC6 mutations. J Med Genet 42:881–892

Ophthalmologe 2015 · [jvn]:[afp]–[alp] DOI 10.1007/s00347-014-3231-9 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 P. Charbel Issa · M. Gliem · F.G. Holz · C. Knabbe · D. Hendig

Pseudodominante Vererbung von Pseudoxanthoma elasticum Zusammenfassung Pseudoxanthoma elasticum (PXE) ist eine Systemerkrankung aufgrund von Mutationen im ABCC6-Gen mit charakteristischen Veränderungen an den Augen, der Haut und dem kardiovaskulären System. Wir berichten über 2 Familien mit PXE in 2 aufeinanderfolgenden Generationen aufgrund molekulargenetisch bestätigter Pseudodominanz. Ein Literaturüberblick zeigt, dass PXE mit Mutationen im ABCC6-Gen autosomal-rezessiv vererbt wird und eine Erkrankungsmanifestation in 2 aufeinanderfolgenden Generationen auf Pseudodominanz zurückzuführen ist. Schlüsselwörter Grönblad-Strandberg-Syndrom · Systemerkrankung · Pseudodominanz · Mutation · ABCC6

Pseudodominant inheritance of pseudoxanthoma elasticum Abstract Pseudoxanthoma elasticum (PXE) is a system disease due to mutations in the ABCC6 gene with characteristic alterations in the eyes, the skin and the cardiovascular system. Herein, we report on two families with PXE in two subsequent generations due to genetically confirmed pseudodominance. A literature review revealed that PXE due to mutations in ABCC6 follows an autosomal recessive inheritance and that disease manifestation in two subsequent generations is due to pseudodominance. Keywords Grönblad-Strandberg syndrome · System disease · Pseudodominance · Mutations · ABCC6   4. Chassaing N, Martin L, Mazereeuw J et al (2004) Novel ABCC6 mutations in pseudoxanthoma elasticum. J Investig Dermatol 122:608–613   5. De Zaeytijd J, Vanakker OM, Coucke PJ et al (2010) Added value of infrared, red-free and autofluorescence fundus imaging in pseudoxanthoma elasticum. Br J Ophthalmol 94:479–486   6. Gliem M, Zaeytijd JD, Finger RP et al (2013) An update on the ocular phenotype in patients with pseudoxanthoma elasticum. Front Genet 4:14

Der Ophthalmologe 2015 

| 3

Kasuistiken

Abb. 2 8 Klinische Befunde und Stammbaum von Familie 2. a, c Fundusfarbaufnahmen und b, d Fundusautofluoreszenzaufnahmen von an Pseudoxanthoma elasticum (PXE) erkrankten Mitgliedern von Familie 2. a, b Der an PXE erkrankte Proband II.1 (67 Jahre) zeigte eine ausgeprägte zentrale Fibrosierung sowie atrophe Veränderungen im Randbereich. c, d Dessen Sohn (III.1, 28 Jahre) zeigte frühe Veränderungen im Rahmen von PXE mit zentraler Peau d’orange und dezenten angioiden Streifen (Pfeile in d). i Stammbaum von Familie 2 über 3 Generationen. Der ABCC6-Genotyp ist rechts neben den Symbolen der genotypisierten Familienmitglieder abgebildet   7. Götting C, Schulz V, Hendig D et al (2004) Assessment of a rapid-cycle PCR assay for the identification of the recurrent c.3421C>T mutation in the ABCC6 gene in pseudoxanthoma elasticum patients. Lab Invest 84:122–130   8. Hornstrup LS, Tybjaerg-Hansen A, Haase CL et al (2011) Heterozygosity for R1141X in ABCC6 and risk of ischemic vascular disease. Circ Cardiovasc Genet 4:534–541   9. Köblös G, Andrikovics H, Prohaszka Z et al (2010) The R1141X loss-of-function mutation of the ABCC6 gene is a strong genetic risk factor for coronary artery disease. Geneti Test Mol Biomarkers 14:75–78 10. Ladewig MS, Gotting C, Szliska C et al (2006) Pseudoxanthoma elasticum. Ophthalmologe 103:537– 551 11. Martin L, Maitre F, Bonicel P et al (2008) Heterozygosity for a single mutation in the ABCC6 gene may closely mimic PXE: consequences of this phenotype overlap for the definition of PXE. Arch Dermatol 144:301–306 12. Plomp AS, Hu X, De Jong PTVM et al (2004) Does autosomal dominant pseudoxanthoma elasticum exist? Am J Med Genet 126A:403–412 13. Ringpfeil F, Mcguigan K, Fuchsel L et al (2006) Pseudoxanthoma elasticum is a recessive disease characterized by compound heterozygosity. J Investig Dermatol 126:782–786 14. Sherer DW, Bercovitch L, Lebwohl M (2001) Pseudoxanthoma elasticum: significance of limited phenotypic expression in parents of affected offspring. J Am Acad Dermatol 44:534–537

4 | 

Der Ophthalmologe 2015

15. Trip MD, Smulders YM, Wegman JJ et al (2002) Frequent mutation in the ABCC6 gene (R1141X) is associated with a strong increase in the prevalence of coronary artery disease. Circulation 106:773– 775

[Pseudodominant inheritance of pseudoxanthoma elasticum].

Pseudoxanthoma elasticum (PXE) is a system disease due to mutations in the ABCC6 gene with characteristic alterations in the eyes, the skin and the ca...
402KB Sizes 0 Downloads 9 Views