Arzneimitteltherapie Internist 2014 · 55:448–454 DOI 10.1007/s00108-014-3476-z Online publiziert: 7. März 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 Redaktion

M. Wehling, Mannheim

S. Kreher · H. Riess Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin

Prophylaxe und Therapie venöser Thromboembolien bei Tumorerkrankungen Stellenwert niedermolekularer Heparine

Tiefe Venenthrombosen und Lungenarterienembolien – zusammengefasst als venöse Thromboembolien (VTE) bezeichnet – treten bei Tumorpatienten deutlich häufiger auf als bei Patienten ohne Tumorerkrankung. Das Risiko wird mit etwa 4% pro Jahr angegeben und variiert in Abhängigkeit von verschiedenen patientenspezifischen und tumorspezifischen Faktoren [10, 16, 34]. Relevante patientenspezifische Faktoren sind u. a. Alter, Thromboseanamnese, Immobilisation und Ope-

Infobox 1  Pharmakologie der niedermolekularen Heparine F Herstellung aus UFH in verschiedenen

chemischen und enzymatischen Depolymerisierungsschritten F Mittleres Molekulargewicht: 4300–5800 Da F s.c.-Applikation F Peak-Plasmaaktivität nach 3−5 h F Im Vergleich zu UFH längere Halbwertszeit (3−5 h vs.0,5−2,5 h) F Reduzierte unspezifische Plasmaeiweißbindung im Vergleich zu UFH F Antithrombinvermittelte Hemmung von Faktor Xa und geringere Inhibition von Faktor IIa (Anti-Xa-Anti-IIa-Verhältnis: 2–3:1; im Vergleich bei UFH: 1:1) F Niedriges Risiko einer heparininduzierten Thrombozytopenie vom Typ II F Vorwiegend renale Elimination F Unterschiede in den Herstellungsschritten bedingen biochemische und pharmakologische Unterschiede zwischen den jeweiligen Handelspräparaten UFH Unfraktioniertes Heparin.

448 | 

Der Internist 4 · 2014

rationen. Tumorspezifische Faktoren sind u. a. Tumorart, Stadium und Tumortherapie. Medikamentöse Strategien zur VTEProphylaxe und -therapie müssen bei Tumorpatienten das in der Regel erhöhte Blutungsrisiko berücksichtigen [27, 28], das durch Faktoren wie F eine veränderte Pharmakokinetik bei kachektischen Patienten, F eine veränderte orale Bioverfügbarkeit aufgrund therapieassoziierter Emesis oder gastrointestinaler Infekte, F kritische Leber- und Nierenfunktionseinschränkungen, F Medikamenteninteraktionen und F zytostatikainduzierte Thrombozytopenien weiter erhöht werden kann. Somit ist ausgehend von evidenzbasierten Leitlinienempfehlungen und einer Aufklärung über das bestehende VTE-Risiko stets eine individualisierte Nutzen-Risiko-Abwägung erforderlich, um eine patientenzentrierte Therapieentscheidung treffen zu können. Niedermolekulare Heparine (NMH) besitzen aufgrund ihrer raschen und zuverlässigen Pharmakokinetik nach s.c.Applikation nicht nur ein breites Indikationsspektrum in der Prophylaxe und initialen Therapie der akuten VTE, sondern stellen auch in der Sekundärprophylaxe von akuten VTE eine sinnvolle Alternative dar, insbesondere wenn eine Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten (VKA) nicht möglich ist. In den zurückliegen-

den Jahren konnten verschiedene Studien, speziell auch bei Tumorpatienten, die klinische Wirksamkeit, Sicherheit und z. T. sogar Überlegenheit der NMH im Vergleich zu unfraktioniertem Heparin (UFH) bzw. VKA nachweisen. NMH werden daher zur Prophylaxe und Behandlung von VTE bei Tumorpatienten vorrangig empfohlen.

Pharmakologie der niedermolekularen Heparine NMH werden in verschiedenen Depolymerisierungsschritten aus UFH gewonnen. Im Vergleich zu UFH zeichnen sie sich durch eine überwiegende antithrombinvermittelte Hemmung des Gerinnungsfaktors Xa und weniger durch eine Hemmung des Faktors IIa (Thrombin) aus. Sie zeigen u. a. aufgrund der guten Bioverfügbarkeit und der geringen unspezifischen Plasmaeiweißbindung nur geringe interindividuelle Dosis-WirkungsSchwankungen (. Infobox 1). Zudem ist das Risiko für das Auftreten einer heparininduzierten Thrombozytopenie vom Typ II nur gering.

»

Bei der Gabe niedermolekularer Heparine müssen Nierenfunktionsstörungen beachtet werden Für die Prophylaxe müssen sie nur 1-mal täglich, für die Therapie maximal 2-mal pro Tag verabreicht werden (. Tab. 1).

Arzneimitteltherapie Tab. 1  Ausgewählte niedermolekulare Heparine zur Prophylaxe oder Therapie venöser Thromboembolien bei Tumorpatienten  

Wirkstoff (Handelsname)

Mittleres Molekulargewicht (Da)

Halbwertszeit (h)



Unfraktioniertes Heparin

15.000

0,5–2,5

Niedermolekulare Heparine

Dalteparin (Fragmin®) Enoxaparin (Clexane®) Tinzaparin (Innohep®) Nadroparin (Fraxiparin®) Certoparin (Mono-Embolex®) Fondaparinux (Arixtra®)

5000 4500 6500 4300 5600 1728

2,0–2,3 4,5 3,4 3,5 4,6–4,7 17



Dosierung Prophylaxe 5000 IE, i.v./s.c. 3-mal/Tag 7500 IE, i.v./s.c. 2-mal/Tag 5000 IE, s.c. 1-mal/Tag 40 mg, s.c. 1-mal/Tag 3500 IE, s.c. 1-mal/Tag 2850 IE, s.c. 1-mal/Tag 3000 IE, s.c. 1-mal/Tag 2,5 mg, s.c. 1-mal/Tag

Therapie Kontinuierlich i.v.; Ziel-PTT: 60–80 s 200 IE/kgKGa, s.c. 1-mal/Tag 1 mg/kgKG, s.c. 2-mal/Tag 175 IE/kgKG, s.c.1-mal/Tag 85–95 IE/kgKG, s.c. 2-mal/Tag 8000 IE, s.c. 2-mal/Tag 7,5 mgb, s.c. 1-mal/Tag

a Alternativ 100 IE/kgKG, s.c. 2-mal/Tag.b KG 100 kg: 10 mg.

PTT Partielle Thromboplastinzeit.

Da NMH vorwiegend renal eliminiert werden, ist bei schwerer Niereninsuffizienz Vorsicht geboten – v. a. bei Anwendung in therapeutischer Dosis. Patienten mit Nierenfunktionseinschränkung sollten daher engmaschig in Bezug auf die Nierenfunktion und Blutungszeichen kontrolliert werden. Gegebenenfalls ist die NMH-Dosierung laboranalytisch durch Messung der Anti-Xa-Aktivität etwa 3 h nach s.c.-Applikation zu überprüfen und anzupassen.

Prophylaxe venöser Thromboembolien bei Tumorpatienten Perioperative Prophylaxe Chirurgische Eingriffe bei Tumorpatienten sind im Vergleich zu Nichttumorpatienten mit einem etwa 2-fach erhöhten Thromboserisiko und 3-fach erhöhten Risiko für fatale Lungenarterienembolien assoziiert [19]. Gleichzeitig ist auch das perioperative Blutungsrisiko um den Faktor 2–3 erhöht [26]. Klinische Studien zur perioperativen VTE-Prophylaxe konnten die Sicherheit und Effektivität der NMH in der generellen und auch in der Tumorchirurgie nachweisen [18, 26]. Eine Cochrane-Metaanalyse an über 11.000 tumorchirurgischen Patienten aus insgesamt 16 randomisierten klinischen Studien ergab keinen signifikanten Unterschied zwischen NMH und UFH hinsichtlich der Rate an VTE und Blutungsereignissen sowie bezüglich der Gesamtmortalität, obgleich das Auftreten von Wundhämatomen und die Anzahl der verabreichten Blutkonserven bei

450 | 

Der Internist 4 · 2014

NMH geringfügig, aber signifikant niedriger lagen [6]. Aufgrund der raschen und zuverlässigen Wirksamkeit, des niedrigen Risikos einer heparininduzierten Thrombozytopenie vom Typ II und der verbesserten Pharmakokinetik mit nur 1-mal täglicher Applikation empfehlen die aktuellen nationalen und internationalen Leitlinien bevorzugt NMH zur perioperativen Prophylaxe [1, 15]. Prinzipiell können alle zur perioperativen VTE-Prophylaxe zugelassenen Präparate eingesetzt werden (. Tab. 1). Es existieren nur wenige kleinere Head-to-head-Studien [32], aus denen sich keine Empfehlung für einen bevorzugten Wirkstoff ableiten lässt. Bei schwerer Niereninsuffizienz sollen die herstellerspezifischen Empfehlungen unbedingt beachtet werden.

»

Zur perioperativen Prophylaxe sollten bevorzugt niedermolekulare Heparine eingesetzt werden Fondaparinux, ein synthetisches Pentasaccharid mit ausschließlich antithrombinvermittelter Hemmung von Faktor Xa hat sich ebenfalls als wirksam und sicher erwiesen und ist für die VTE-Prophylaxe mit postoperativem Beginn zugelassen (. Tab. 1). In einer prospektiven Vergleichsstudie an 2048 Patienten mit großen abdominalchirurgischen Eingriffen erwies es sich im Vergleich zu dem NMH Dalteparin als mindestens gleichwertig in Bezug auf die Reduktion von VTE (4,6 vs. 6,1%; p=0,144) bei gleicher Rate an Blutungskomplikationen (3,4 vs.

2,4%; p=0,122; [2]). Das Kumulationsrisiko bei Niereninsuffizienz, auch aufgrund der langen Halbwertszeit von etwa 15– 18 h, ist zu beachten. Ab einer KreatininClearance von

[Prophylaxis and treatment of venous thromboembolism in cancer patients. Clinical value of low-molecular-weight heparins].

Venous thromboembolism (VTE) is a common complication in patients with cancer. Because of their improved subcutaneous bioavailability and reliable ant...
405KB Sizes 0 Downloads 3 Views