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Dambacher, Haas: Grundlagen der Osteoporosebehandlung mit Fluorid

Aktuelle Therapie

Deutsthe Medizinische Wochenschrift

Redaktion: Prof. Dr. H. Hornbostel, Hamburg Prof. Dr. W. Kaufmann, Köln Prof. Dr. W. Siegenthaler, Zürich

Dtsch. med. Wschr. 101 (1976), 502-503

© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Bis vor wenigen Jahren stand keine Substanz zur Verfügung, mit der bei bereits verminderter Skelettmasse, also bei der Osteoporose, therapeutisch eine Zunahme der Knochendichte erreicht werden konnte. Erstmals in den frühen sechziger Jahren gelang dies mit Fluorid. Im folgenden sollen die Befunde dargestellt werden, auf denen die Fluortherapie der Osteoporose beruht. Als Grundlage der Behandlung gelten folgende drei Beobachtungen:

In weiten Regionen Indiens, des Trans und Chinas enthält das Trinkwasser durch Ausschwemmungen aus dem Gestein Fluor in Mengen von 10 mg/l und mehr. Als Folge davon kommt es ungefähr ab 8 mg/I zur sogenannten endemischen Fluorose mit exzessivem Kno-

chenanbau. Dabei scheint jedoch nicht nur der hohe absolute Fluorgehalt des Wassers eine Rolle zu spielen, sondern auch der starke Wasserverbrauch in diesen heißen Regionen, die Mangelernährung und die Gewohn-

heit der Bevölkerung, ihre Lasten auf dem Kopf zu tragen, so daß die tragenden Skeletteile dauernd überlastet werden. Erstmals beschrieben Moeller und Gudjonsson (9)

1932 die Industrie-Fluorose. Sie kommt als derzeit aktuellstes Beispiel bei der Aluminiumherstellung vor, wenn das zur Erniedrigung des Schmelzpunktes verwen-

dete Fluor von den Arbeitern an den Schmelzöfen in Form von fluorhaltigen Dämpfen eingeatmet und teilweise auch geschluckt wird. Die Skelettveränderungen wurden von Roholm (12) in drei Stadien eingeteilt:

Stadium I (ungefähr nach zwei- bis vierjähriger Exposition): Verbreiterung und Verdichtung der Bälkchen-

struktur der Wirbelkörper und vermehrte Knochendichte des Beckens,

Stadium II (nach ungefähr fünf- bis zehnjähriger Exposition): Zunahme der Sklerosierung, Einengung der Markhöhle der Röhrenknochen, beginnende Verkalkung der Längsbänder der Wirbelsäule, Stadium III (nach elf- bis sechzehnjähriger Exposition): Die Wirbelsäule erscheint marmorartig, mit Verknöcherung der Längsbänder, Verkalkung von Sehnen und Muskelansätzen und der Membrana interossea, ektopische und periostale Knochenneubildung. Bei der Behandlung der Osteoporose mit Fluorid wird das Stadium I nach Rohoim angestrebt. Wichtig für die Frage nach der Dauer der Fluoridbehandlung scheint uns zu sein, daß es nach der Beendigung der Exposition bei

M. A. Dambacher und H. G. Haas Stoffwechselabteilung des Medizinischen Departementes der Universität Basel

der industriellen Fluorose zu keiner weiteren Zunahme der Osteopathie kommt, im Gegenteil, es sind Rückbildungen beobachtet worden. Bernstein und Mitarbeiter (2) untersuchten im Jahre 1966 im amerikanischen Bundesstaat Nord-Dakota zwei Bevölkerungsgruppen: 715 Probanden aus einer Gegend mit niedrigem Fluorgehalt des Trinkwassers,

nämlich mit 0,15-0,3 mg/l, und 300 Einwohner aus einer Region mit einem Fluorgehalt des Wassers von 4-5,8 mg/l. Sie fanden in der Gegend mit dem höheren Fluorgehalt statistisch signifikant eine geringere Osteoporosehäufigkeit. So war nur bei 31% der 55- bis 64jährigen Frauen dieser Region die Knochendichte der

Lendenwirbelsäule vermindert, dagegen bei 64% der Frauen, die in der fluorarmen Region wohnten. Auffallend war dabei auch, daß bei den Männern und bei den 55- bis 64jährigen Frauen die Verkalkung der Aorta

in der Region mit dem hohen Fluorgehalt des Trinkwassers signifikant weniger ausgeprägt war, was zwei Jahre später Anlaß zu dem Kommentar gab: Fluor hält Calcium, wohin es gehört. In diesem Zusammenhang sind TJberlegungen inter-

essant, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen und dem Fluorgehalt des Trinkwassers bestehe. Nixon und Carpenter (10) fanden keine positive Korrelation zwischen Mortalität und Fluorgehalt des Trinkwassers, während Cook (4) in einem diese Publikation kommentierenden Leserbrief an den Lancet eine solche zwischen dem Fluorgehalt und

Herzerkrankungen behauptet und sie auf die verminderte Calciumabsorption durch Bindung von Calcium an das Fluorid zurückführt. Diese drei Beobachtungen - die unterschiedliche Osteoporosehäufigkeit in Regionen mit hohem und mit niedrigem Fluorgehalt des Trinkwassers sowie die Verdichtung des Skeletts bei der industriellen und der endemischen Fluorose - ließen den Versuch gerechtfertigt er-

scheinen, mit Fluorid die Skelettmasse bei der Osteoporose zu vermehren.

Die Wirkungsweise des heute meist verwendeten Natriumfluorids ist in Tabelle 1 dargestellt. Eigene Untersuchungen (7) haben gezeigt, daß sechs Monate nach Beginn der Behandlung der Knochenan- und -abbau gesteigert sind: der Isotopen-Parameter Vo + des Cal-

cium-Einstroms um 90%, der des Ausstroms Vo jedoch nur um 52%, so daß aus dieser Differenz eine positive Calciumbilanz resultierte. Histologisch-morphometrisch

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Grundlagen der Osteoporosebehandlung mit Fluorid

Dambacher, Haas: Grundlagen der Osteoporosebehandlung mit Fluorid

(11) läßt sich nachweisen, daß im ersten Behandlungsjahr »überstürzt« neuer Knochen gebildet wird, der nicht

lamellär angeordnet und auch untermineralisiert ist; letzteres läßt an eine Osteomalazie denken. Ungefähr ab dem sechsten Monat kann die Zunahme der Zahl der Osteoblasten an der Erhöhung der alkalischen Serumphosphatase abgelesen werden. Im zweiten Behandlungsjahr neu gebildeter Knochen ist lamellär angeordnet und wird, wenngleich verlangsamt, regelrecht mineralisiert. Röntgenologisch ist eine Verdichtung spongiöser Knochenstrukturen (bei Verabreichung von loo mg NaF täglich) unserer Erfahrung nach ungefähr zu Beginn des

zweiten Behandlungsjahres erkennbar, wobei es sich nicht um eine Neubildung von Bälkchen, sondern »ledig-

lich« um eine Verdickung noch vorhandener Elemente handelt (sogenannte Hypertrophie). Tab. 1. Veränderungen von Knochenstoffwechselparametern nach sechsmonatiger Therapie mit 100 mg NaF täglich. Der Knochenanbau überwiegt den -abbau 1. Knochenanbau

2. Knochenabbau

- Calciumeinström-

- Calciumausströmrate Vo -

- alkalische Serumphosphatase - Osteoblastenbelag

(Urinhydroxyprolin)

rate Vo+

- Osteoklastenindex

(uneinheitlich)

- Osteoidsäume

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b) Nach Jowsey und Mitarbeitern (8) stimuliert das Fluorid die Osteoblasten möglicherweise über piezoelektrische Kräfte direkt und damit auch die Zunahme der Grundsubstanz, die dann zur Mineralisation vermehrt Calcium benötigt. Als Folge davon kommt es zur Hypocalciämie, die den Mineralisationsdefekt verursacht

und auch einen sekundären Hyperparathyreoidismus provoziert. Dieser stimuliert die Osteoklasten und damit den Knochenabbau. Nach diesen Vorstellungen würde also Fluorid allein zu einer negativen Skelettbilanz und

damit zu einer Verstärkung der Osteoporose führen, was sicher nicht der Fall ist. Unabhängig davon, welche der beiden Theorien rich-

tig ist, - bei beiden steht die Entwicklung eines sekundären Hyperparathyreoidismus ganz im Mittelpunkt, der nach der ersten Theorie positiv zu bewerten wäre, weil er letztlich für den vermehrten Knochenanbau ausschlaggebend ist, nach der zweiten These jedoch negativ, weil er zu einem zusätzlichen Verlust von Skelettsubstanz führt. Weitere Untersuchungen über die Zusammenhänge von Fluorid und Epithelkörperchenfunktion sind erforderlich, die über die Tierversuche (1, 5) und die Beobachtungen bei der endemischen Fluorose (13) hinausgehen. Wir konnten - zumindest bis jetzt - bei un-

seren Patienten keine Erhöhung des immunreaktiven Parathormons finden, auch nicht 15-24 Monate nach Beginn der Behandlung, zu einem Zeitpunkt also, an dem die Zahl der Osteoklasten erhöht ist (11). Diese Probleme spielen eine große Rolle bei der Frage, ob eine

Wiederholt ist gefragt worden, ob dieser Fluorknochen auch »vollwertig« sei. Wie bereits erwähnt, zeigt zumindest der im zweiten Behandlungsjahr gebildete

Kombinationstherapie mit Fluorid und Calcium emp-

Knochen eine regelrechte lamelläre Struktur, und es

Literatur

erfolgt schließlich auch eine volle Mineralisation.

Baylink, D., J. Wergedal, M. Stauffer, C. Rich: Effects of fluoride on bone formation, mineralisation, and bone resorption in the rat, In: Vischer, Tb. L. (ed.): Fluoride in Medicine

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Moeller, P. F., Sk. V. Gud(onsson: Massive fluorosis of bones and ligaments. Acta radiol. (Stockh.) 13 (1932),

Dieser Knochenanbau findet jedoch nur an den noch vorhandenen Bälkchen statt. Bei der Knochenatrophie

sollte man als Kliniker aber auch schon mit dieser Dickenzunahme der Reststrukturen zufrieden sein, denn diese stellen ja die »letzten Reserven« der Skelettarchi-

tektonik dar, und nicht auch noch die Bildung neuer Trabekel fordern. Angestrebt wird bei der Osteoporosebehandlung mit Fluorid eine Dichtezunahme, die dem Grad I nach Roholm bei der industriellen Fluorose entspricht. Hier fan-

den Franke und Mitarbeiter (6) bei der Stabilitätsprüfung von Lendenwirbelkörpern und Femursegmenten Verstorbener einen Festigkeitszuwachs. Anders scheinen die Verhältnisse bei der Tierfiuorose zu liegen.

Wie das Fluorid im molekularen Bereich wirkt, ist noch nicht klar. Theoretisch wäre folgendes denkbar: a) Durch den Einbau von Fluoratomen in die Apatitkristalle werden diese größer und damit gegen den Abbau widerstandsfähiger (3). Als Folge davon wird weniger Calcium aus dem Skelett frei, es resultiert ein kompensatorischer, sekundärer Hyperparathyreoidismus, der den Knochenan- wie -abbau beschleunigt. Da der Abbau jedoch gebremst ist, überwiegt der Effekt auf den Anbau.

fohlen werden soll.

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Olah, A. J., F. W. Reutter, R. K.

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(13( Teotia, S. P. S., M. Teotia: Secondary hyperparathyroidism in patients with endemic skeletal fluorosis. Brit. med. J. 1973/1, 637.

Privatdozent Dr. M. A. Dambacher, Prof. Dr. H. G. Haas Stoffwechselabteilung Medizinische Universitätsklinik, Kantonsspital CH-4004 Basel, Spitalstr. 21

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Nr. 13, 26. Marz 1976, 101. Jg.

[Principles of fluoride therapy of osteoporosis].

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