20 Gastkommentar

Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit

Autorin I. ­Hösli-Krais

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1398671 Z Geburtsh Neonatol 2015; 219: 20–21 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 0948-2393 Korrespondenzadresse Prof. Dr. med. Irene ­Hösli-Krais Klinik für Geburtshilfe und Schwangerschaftsmedizin Universitätsspital Basel Spitalstraße 21 4031 Basel Schweiz [email protected]

Es ist für mich als Geburtshelferin eine große Ehre und Herausforderung zugleich, ein Editorial zur Revision der Leitlinie: Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit zu schreiben. Meine Ausführungen, die naturgemäß einen subjekti­ ven Eindruck wiedergeben, beziehen sich auf die inhaltlichen Veränderungen der Leitlinien im zeitlichen Kontext, den Vergleich mit internatio­ nalen Empfehlungen und abschließende Betrach­ tungen. 1998 wurde die erste Empfehlung, getragen von der deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, der deutschen Gesellschaft für Kin­ derheilkunde und Jugendmedizin, der deutschen Gesellschaft für perinatale Medizin und der ­Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin herausgegeben. Unter dem Titel: „Behandlung von extrem unreifen Frühgebore­ nen“ wurde der Schwerpunkt auf technisch/­ medizinischer Machbarkeit und Verschiebung der Grenze der Lebensfähigkeit in immer frühere Schwangerschaftswochen gelegt [1]. Der Grund­ satz: “Lebenserhaltende Maßnahmen sind zu er­ greifen, wenn für das Kind auch nur eine kleine Chance zum Leben besteht“ und die Aussage, dass „Ärzte als Garanten des Kindes den rechtli­ chen und ethischen Geboten zur Lebenserhal­ tung zu folgen und gegebenenfalls gegen die Wünsche der ­Eltern zu handeln haben“, zeigt, wie wichtig es damals war, intensivmedizinische Innovationen auch in den geburtshilflich-neona­ tologischen Klinikalltag zu transferieren und den extremen Frühgeburten eine Chance zum Über­ leben zu g ­ eben. Die revidierte Empfehlung von 2007 behandelte das gestationsalterabhängige Vorgehen und so­ wohl die ethische als auch die rechtliche Proble­ matik [2]. Neben den oben erwähnten Fach­ gesellschaften waren Elternvertreter, eine Straf­ rechtlerin und ein Moraltheologe eingebunden. „Die ethische Beurteilung muss die Erhaltung des Lebens des Kindes gegen die Vermeidung e ­ iner vermutlich aussichtslosen Therapie abwägen.“ Unter ­diesem Aspekt sollte auch die Betreuung von Frühgeborenen ab 22 + 0/7–23 + 6/7 Schwan­ gerschaftswochen (SSW) gesehen und die ent­ sprechenden Entscheidungen im Konsens mit den Eltern getroffen werden. Allerdings wurde auch betont, dass das Risiko einer bleibenden Be­ hinderung allein den Verzicht auf lebens­ erhaltende Maßnahmen zum Zeitpunkt der Geburt ethisch nicht rechtfertigen kann. Die ­ Betreuung ab 22 SSW war im interna­ ­ tionalen Vergleich aussergewöhnlich früh.

Die aktuell vorliegende Fassung von 2014: „Früh­ geburt an der Grenze der Lebensfähigkeit des Kindes“ unter zusätzlicher Mitwirkung des deut­ schen Hebammenverbandes, der Akademie für Ethik in der Medizin und des Bundesverbandes „das frühgeborene Kind“ ist weit umfassender als die vorherigen Empfehlungen und kann auf ­nationalen Ergebnissen aufbauen [3]. Den Auto­ ren und Vertretern der einzelnen Fachgesell­ schaften muss man zu dieser sehr ausgewogenen Arbeit gratulieren. Sie beinhaltet: rechtliche und ethische Gedanken, Daten zur Mortalität und Morbidität, den Vergleich mit internationalen Empfehlungen, den strukturierten Prozess der Entscheidungsfindung evtl. unter Einbezug von Ethikkonsultation, Therapiezieländerung („redi­ rection of care“) und die Sterbebegleitung. „­Allein die technische Möglichkeit einer medizi­ nischen Maßnahme begründet keine medizini­ sche Indikation“ zeigt, dass die Beschränkung der Machbarkeit und die Frage der Sinnhaftigkeit eine weit höhere Gewichtung erlangt haben. Die Bedeutung der Kommunikation wird besonders betont und die Rolle der Eltern bei der Entschei­ dungsfindung dargestellt („Shared decision“). ­Einerseits wird die Grenze der intrauterinen Ver­ legung in ein Perinatalzentrum nach unten auf 20 SSW korrigiert, damit antenatale präventive Maßnahmen noch erfolgreich eingesetzt werden können. Andrerseits wird das gestationsalterbe­ zogene Vorgehen für jede Woche definiert, wobei auf die meist palliative Therapie bei 22 + 0/7– 22 + 6/7 und auf die lebenserhaltende vs. palliati­ ve Therapie bei 23 + 0/7–23 + 6/7 SSW differen­ ziert eingegangen und unter Berücksichtigung individueller Faktoren (Mehrlinge, Schätzge­ wicht, Lungenreifung, Entbindungsort) entschie­ den wird. Damit wird Abstand genommen von einem Vorgehen in kurativer Absicht bei 22 + 0/7 SSW und für eine im Kern einwöchige Grauzone 23 + 0/7–23 + 6/7 SSW plädiert. Diese Empfehlungen nähern sich den in der Schweiz 2011 revidierten Empfehlungen an, bei denen ab einem Gestationsalter von 24 + 0/7– 24 + 6/7 SSW ein intensivmedizinisches Vorgehen primär bedingt empfohlen und nach Einbezie­ hung negativer Faktoren sekundär erneut einge­ schätzt wird. In der Woche 23 + 0/7–23 + 6/7 ist Intensivmedizin primär nicht indiziert, kann aber bei zusätzlichen prognostisch positiven Fak­ toren bedingt empfohlen werden [4]. Das NIHC, die Society of Maternal Fetal Medicine die Ame­ rican Academy of Paediatrics und das American College of Obstetricians and Gynaecologist haben

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Die bestmögliche Entscheidung treffen

Gastkommentar 21 mit hohem Risiko einer extremen Frühgeburt und die Betreuung der Frühgeborenen an der Lebensgrenze bleibt auch im 21. Jahr­ hundert eine ethisch komplexe und medizinisch herausfordern­ de, sehr anspruchsvolle Aufgabe trotz aller intensivmedizini­ scher Machbarkeit. Es wird unsere Aufgabe in der Geburtshilfe sein, sowohl hoch sensitive prädiktive Marker hinsichtlich Früh­ geburt zu finden, als auch möglichst eine Frühgeburt zu verhin­ dern. Kommt es aber zur Frühgeburt, wird die vorliegende Emp­ fehlung eine große Hilfestellung im Umgang mit den betroffenen Familien und Kindern sein.

Literatur

1 AWMF. Behandlung von extrem unreif Frühgeborenen. 1999 2 AWMF. Frühgeburt an der Grenze der Lebensfähigkeit des Kindes. 2007 3 AWMF. Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit des Kindes. 2014 4 Berger TM, Bernet V, El Alama S et al. Perinatal care at the limit of viability between 22 and 26 completed weeks of gestation in Switzer­ land. 2011 revision of the Swiss recommendations. Swiss Med Wkly 2011; 141: w13280 5 Raju TN, Mercer BM, Burchfield DJ et al. Periviable birth: executive summary of a joint workshop by the Eunice Kennedy Shriver Na­ tional Institute of Child Health and Human Development, Society for Maternal-­Fetal M ­ edicine, American Academy of Pediatrics, and American College of Obstetricians and Gynecologists. Obstet Gynecol 2014; 123: 1083–1096 6 RCOG. Perinatal Management of Pregnant Women at the Threshold of Infant Viability – the Obstetric Perspective (Scientific Impact Paper No. 41). 2014

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2014 Ergebnisse eines Workshops zusammengefasst. Geburts­ hilfliche Interventionen wie Lungenreifung, Magnesium zur Neuroprotektion, und neonatologische Reanimationsmaßnah­ men werden bereits ab 23 + 0/7 SSW empfohlen, sofern keine lebensbedrohlichen Fehlbildungen vorliegen [5]. Das RCOG hat ebenfalls 2014 aus geburtshilflicher Sicht Empfehlungen zur Be­ handlung zwischen 23 + 0/7 und 24 + 6/7 SSW publiziert [6]. Alle Guidelines befürworten primär, ein counseling basierend auf Daten und Evidenz durchzuführen. Bei fehlender Evidenz soll anhand der vorhandenen Information in der Interaktion mit den Eltern die bestmögliche Entscheidung getroffen werden. Emp­ fehlungen zur perinatalen Betreuung an der Grenze der Lebens­ fähigkeit zwischen 23 + 0 und 24 + 6 SSW werden sich in naher Zukunft wohl international auf dem Boden der Evidenz annähern, werden aber auch aufgrund wirtschaftlicher ­ ­Ressourcen, ethnischer und weltanschaulicher Unterschiede in verschiedenen Punkten unterschiedlich bleiben. Ein zentraler Punkt ist das Zusammenspiel des multiprofes­ sionellen und interdisziplinären Teams. Welcher Elternteil merkt nicht sofort, wenn eine Diskrepanz in der Einschätzung zwischen Geburtshelfern und Neonatologen besteht? Welche Mutter fragt nicht als erstes die Hebamme oder die Intensivpfle­ gefachfrau, was sie zum vorgeschlagenen Vorgehen meint? ­Gemeinsam beraten setzt Kenntnisse, Kommunikation unter­ einander und gegenseitigen Respekt voraus: Elemente, die in keiner Organisationsstruktur eines Krankenhauses oder DRG ­ Berechnungen vermerkt sind. Die Betreuung von Schwangeren

[Preterm infants at the limit of viability. Make the best possible decision].

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