Leitthema Unfallchirurg 2014 · 117:99–104 DOI 10.1007/s00113-013-2487-x Online publiziert: 31. Januar 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

Redaktion

M. Wilhelmi, Hannover

Die präklinische Behandlung polytraumatisierter Patienten ist eine besondere Herausforderung, die ein situationsangepasstes Vorgehen erfordert. Die Anwendung des ABC-Schemas nach ATLS® („advanced-trauma-life-support“) ist hilfreich, wenngleich ein Schwerpunkt beim traumatisch-hämorrhagischen Schock auf dem Erhalt des Kreislaufs (C, „circulation“) durch Blutstillung und Infusionstherapie liegt. Bei penetrierenden oder Extremitätenverletzungen ist die Blutungsquelle meist eindeutig. Aber insbesondere stumpfe Thorax-, Abdominal- und Beckentraumata können zu erheblichen Blutverlusten führen. Es ist daher unerlässlich, dass sich der erstversorgende Notarzt einen schnellen, aber möglichst genauen Überblick über Unfallhergang, Verletzungsmuster und hämodynamischen Status des Patienten verschafft. Schock ist dabei in erster Linie eine klinische Diagnose. Der traumatisch-hämorrhagische Schock ist durch eine akute sichtbare oder intrakavitäre Blutung und gleichzeitige ausgedehnte Gewebeschädigung mit Freisetzung verschiedenster Mediatoren gekennzeichnet. Die Ausprägung des Schocks ist aber von vielen Faktoren (u. a. Alter, Vorerkrankungen) abhängig und verkompliziert die individuelle Einschätzung erheblich. . Tab. 1 gibt einen Überblick über den geschätzten Blutverlust eines ansonsten gesunden Patienten anhand klinischer Parameter gemäß ATLS®.

M. Winkelmann · M. Wilhelmi Klinik für Unfallchirurgie, Medizinische Hochschule Hannover

Präklinisches Blutungsund Volumenmanagement bei Schwerverletzten Die alleinige klinische Einschätzung des Schocks bleibt jedoch schwierig und insbesondere okkulte Blutverluste werden leicht unterschätzt. Die genaue Einschätzung anhand der ATLS®-Kriterien ist oft nicht möglich. Untersuchungen anhand Daten des TraumaRegisters der DGU zeigen, dass eine eindeutige Zuordnung eines Patienten zu einer der 4 Gruppen nur in ca. einem Viertel der Fälle gelingt. Dies impliziert letztlich eine geringe Sensitivität, wohingegen zur Spezifität keine Aussage gemacht werden konnte [18]. Alternativ dazu scheint der Schockindex als Quotient aus Herzfrequenz und systolischem Blutdruck deutlich besser geeignet, die Schwere eines hypovolämischen Schocks adäquat einzuschätzen [20].

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Die klinische Einschätzung des Schocks ist schwierig und okkulte Blutverluste werden leicht unterschätzt Geeignete diagnostische Hilfsmittel sind daher dringend notwendig. Die Ansprüche an diese sind aber hoch, insofern sie eine hohe Sensitivität und Spezifität aufweisen, gleichzeitig aber auch einfach anzuwenden sein müssen und die Zeit bis zum Eintreffen des Patienten in der Notaufnahme nicht verzögern dürfen. Eine invasive Blutdruckmessung über einen peripheren arteriellen Katheter oder die Einschätzung des Schocks anhand des „base excess“ in der Blutgasanalyse (BGA) sind in der präklinischen Notfallmedizin nicht umsetzbar, wenngleich der „base excess“ signifikant besser mit dem Transfu-

sionsbedarf und dem Outcome korreliert und sich die Schwere des Schocks anhand des „base excess“ gut abschätzen lässt (. Tab. 2, [5, 19]). Man muss sich daher anderer Hilfsmittel bedienen. Bei intubierten Patienten können über die Messung des endexspiratorischen pCO2 (Kohlendioxidpartialdruck) Rückschlüsse auf das Herzzeitvolumen (HZV) gezogen werden. Bei abfallendem HZV sinkt auch das endexspiratorische pCO2. Eine weitere Möglichkeit, insbesondere Patienten im kompensierten Schock zu identifizieren, könnte die Messung des kapillären Laktats als Point-of-care-Test (POCT) werden, das mit dem arteriellen Laktat korreliert [4]. Ein Laktatwert >4 mmol/l zeigt i. Allg. einen Schockzustand an. Entsprechende randomisierte Studien fehlen aber bislang. Durch die Verfügbarkeit tragbarer Ultraschallgeräte können größere intraabdominelle Blutungen mittels FAST („focussed assessment with sonography for trauma“) heute bereits am Unfallort diagnostiziert werden. In einer prospektiven Beobachtungsstudie konnten Walcher et al. [31] die Änderung der prähospitalen Therapie (permissive Hypotension) in 21% der Fälle und des prähospitalen Managements (Beschleunigung der Vorortmaßnahmen und Verkürzung der Zeit bis zur operativen Versorgung) in 30% der Fälle zeigen. Ob dies letztlich aber zu einem verbesserten Outcome für den Patienten führt, ist unklar.

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Leitthema Tab. 1  Klassifikation des hämorrhagischen Schocks anhand klinischer Parameter   Blutverlust (ml) Blutdruck (systolisch) Blutdruck (diastolisch) Puls/min Kapillarfüllung Atemfrequenz/min Urinfluss (ml/h) Extremitäten Vigilanz

Grad I 750 (−15%) Normal Normal 30 Normale Farbe Wach

Grad II 100 >2 s 20–30 20–30 Blass Ängstlich oder aggressiv

Tab. 2  Klassifikation des hypovolämi-

schen Schocks anhand des „base excess“ Klasse I II III IV

Schock Kein Mild Moderat Schwer

„Base excess“ >−2 −2 bis −6 −6 bis −10 30 und manifestem Schock bei >40% liegt. Die frühe Koagulopathie ist ein unabhängiger Prädiktor für Morbidität und Mortalität

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Grad III 120 >2 s 30–40 10–20 Blass Ängstlich oder aggressiv

Grad IV >2000 (>40%) Sehr niedrig Nicht messbar >140 (schwach) Nicht feststellbar >35 0–10 Blass und kalt Verwirrt, bewusstlos­

beim polytraumatisierten Patienten und mit einer 4-fach erhöhten Gesamt- und 8-fach erhöhten Frühletalitätsrate (150 min in komplizierten Fällen. Bei richtiger Indikationsstellung und überschaubarer Rettungszeit ist ein Tourniquet daher eine sinnvolle Therapiemaßnahme zur schnellen und sicheren Blutstillung. In einigen anatomischen Regionen (z. B. Hals, Schulter, Leiste) sind Tourniquets aber ebenso wie elastische Adhäsivverbände untauglich. Hämostatika.  Eine mögliche Alternative für Wunden, bei denen die üblichen blutstillenden Maßnahmen versagen, könnten in Zukunft topisch wirkende Hämostatika sein. Vorteilig ist die einfache und schnelle Anwendung auf und/oder in der Wunde. Der hauptsächliche Einsatz beschränkt sich bisher auf den militärischen Bereich.

Präklinisches Blutungs- und Volumenmanagement bei Schwerverletzten Zusammenfassung Hintergrund.  Das Polytrauma ist die wichtigste Ursache für Morbidität und Mortalität in der Altersklasse bis 45 Jahre. Mit einem Anteil von 30–40% ist die traumatische Hämorrhagie die häufigste vermeidbare Mortalitätsursache. Etwa jeder 4. polytraumatisierte Patient erleidet eine traumainduzierte Koagulopathie (TIC). Material und Methoden.  Es erfolgte eine selektive Literaturrecherche sowie Einbringung eigener Erfahrungen an einem überregionalen Traumazentrum zur Darstellung aktueller Erkenntnisse auf dem Gebiet des präklinischen Blutungs- und Volumenmanagements beim polytraumatisierten Patienten. Ergebnisse.  Der hämorrhagische Schock ist eine klinische Diagnose und die Erkennung durch den erstversorgenden Notarzt erfordert einen schnellen Überblick über Unfallhergang, Verletzungsmuster und hämodynamischen Status des Patienten. In Zukunft werden Hilfsmittel eine valide Einschätzung

des Schockgeschehens erleichtern. Die Entstehung der TIC ist multifaktoriell und im Wesentlichen durch das Zusammenwirken von Gewebeschädigung, Schock, Hypothermie, Azidose und Verdünnung gekennzeichnet. Die präklinische Therapie orientiert sich am Konzept der „damage control resuscitation“ und umfasst die temporäre oder definitive Blutstillung, eine permissive Hypotension mit einem systolischen Zielblutdruck von 80– 90 mmHg (≥80 mmHg bei SHT) durch zurückhaltende Infusion vornehmlich kristalloider Lösungen, den Wärmeerhalt und den Azidoseausgleich. Schlussfolgerung.  Der derzeitige Wissensstand und aktuelle Therapieempfehlungen sind dargestellt. Schlüsselwörter Polytrauma · Traumahämorrhagie · „Damage control resuscitation“ · Hypotension, permissive · Koagulopathie, traumainduzierte

Prehospital resuscitation of patients with multiple injuries Abstract Introduction.  Polytrauma is the leading cause of morbidity and mortality in young adults (aged 35–45 years). At 30–40%, traumatic hemorrhage is the most frequent preventable cause of death. Approximately every fourth patient with multiple injuries suffers from trauma-induced coagulopathy. Methods.  The current knowledge of prehospital resuscitation of patients with multiple injuries based on a selective literature research and experience in a level I trauma center are presented. Results.  Hemorrhagic shock is a clinical diagnosis and the recognition by the first responding emergency physician requires rapid evaluation of the accident situation, injury pattern and patient’s hemodynamic status. In the future, tools will help to reliably estimate shock. Development of trauma-in-

Viele Produkte sind aber mittlerweile auch in der zivilen Medizin erhältlich. F QuikClot® (Z-Medica, Wallingford, CT, USA) ist ein auf Kaolinbasis hergestelltes Granulat und arbeitet wie ein Schwamm. Es konzentriert Erythrozyten, Thrombozyten und Gerinnungsfaktoren durch Absorption

duced coagulopathy is multifactorial and is characterized by interaction of tissue damage, shock, hypothermia, acidosis and dilution. Preclinical therapy follows the concept of damage control resuscitation and involves bleeding hemostasis, permissive hypotension with a target systolic blood pressure between 80 and 90 mmHg (≥80 mmHg in presence of traumatic brain injury) by modest infusion of primarily crystalloid solutions, avoiding hypothermia and acidosis. Conclusion.  The current knowledge and therapy recommendations are presented. Keywords Multiple trauma · Hemorrhage · Damage control resuscitation · Hypotension, permissive · Coagulopathy, trauma-induced

flüssiger Moleküle in einer exothermen Reaktion. Eine 10×10 cm große Wundauflage kostet zwischen 20 und 25 EUR. F Chitosan (HemCon®, Tigard, OR, USA) ist ein Polysaccharidpolymer auf Chitinbasis, das fest an der Wundfläche haftet und ohne exotherme Der Unfallchirurg 2 · 2014 

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Leitthema Reaktion zu einer Versiegelung der Wunde führt. Durch Konzentration von Erythrozyten, Thrombozyten und Gerinnungsfaktoren im Wundgebiet wirkt es hämostatisch. Pusateri et al. [25] empfehlen die ­primäre Anwendung von Chitosan, da dieses im Tiermodell auch Blutungen mit hohem Blutdruck und -fluss stoppen kann und bisher keine unerwünschten Wirkungen bekannt sind. QuikClot® sollte demgegenüber nur als letzte Möglichkeit gewählt werden, da es durch die exotherme Reaktion zu thermischer Schädigung kommen kann. Ein anderer Wirkmechanismus ist die topische Anwendung bestimmter Gerinnungsfaktoren, die weitgehend unabhängig von der endogenen Hämostase zum Sistieren der Blutung führt. F FloSeal® (Baxter, Deerfield, IL, USA) ist eine Kombination aus einer bovinen Gelatineträgersubstanz und humaner Thrombinlösung, die zur Blutgerinnung allerdings Fibrin benötigt, ansonsten aber von endogenen Gerinnungsfaktoren und Thrombozyten unabhängig ist. F Fibrinkleber und -versiegelungen werden bereits seit den 1970er Jahren in der Neuro- und Gefäßchirurgie eingesetzt. Mittlerweile gibt es auch fibrinimprägnierte Bandagen, die über die lokale Fibrinapplikation zur Blutgerinnung führt.
Die Wirksamkeit von FloSeal® konnte bisher nur im Tiermodell und in „case reports“ gezeigt werden. Randomisierte Studien mit entsprechender Power fehlen aber bislang [24]. Ebenso konnte die Überlegenheit fibrinimprägnierter Bandagen über Chitosan-Verbände und herkömmliche Verbände nur im Tiermodell gezeigt werden. Hier führte allerdings lediglich Fibrin zu einer sicheren und initialen (100%) sowie dauerhaften (93%) Hämostase über 4 Tage [10]. Eine wesentliche Limitation beider Verfahren ist aber schlicht der hohe Preis. Eine Wundauflage FloSeal® kostet zwischen 300 und 400 EUR, eine fibrinimprägnierte Bandage knapp 800–1000 EUR.

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Nicht komprimierbare Blutung

Anders als bei Kampfhandlungen sind in urbanen Regionen meist stumpfe Traumata für lebensbedrohliche Blutungen verantwortlich. Diese sind meist keiner direkten Kompressions- oder topischen Hämostatikatherapie zugänglich. Eine Sonderstellung nehmen hier Beckenringfrakturen ein. Diese können bei Instabilität (v. a. Typ C) über Blutungen aus dem präsakralen Venenplexus zu massiven Blutverlusten führen. Um Frakturenden zu schließen und v. a. das intrapelvine Volumen zu verringern, um so die Blutung durch Selbsttamponade zumindest einzudämmen, empfiehlt sich die Anlage einer Beckenschlinge bzw. eines Beckengurts. Auf dem Markt ist eine Vielzahl von Produkten erhältlich, die sich in ihrer Effektivität im Wesentlichen nicht unterscheiden.

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In urbanen Regionen sind meist stumpfe Traumata für lebensbedrohliche Blutungen verantwortlich Massive intraabdominelle und intrathorakale Blutungen sind in aller Regel nur einer chirurgischen Blutstillung zugänglich. Der schnelle Transport in ein geeignetes Traumazentrum ist daher die entscheidende Maßnahme. In Zukunft könnte aber eine gezielte Gerinnungsfaktorenoder medikamentöse Therapie bereits in der Prähospitalphase die frühe Koagulopathie adressieren und so zu einer Verlangsamung oder Eindämmung der Blutung führen. Der Einsatz von Antifibrinolytika, Fibrinogen und Desmopressin wird ausführlich im Artikel von Lier u. Hinkelbein (Gerinnungstherapie beim Polytrauma ohne Point-of-care-Testung) in diesem Heft diskutiert.

Permissive Hypotension Die Idee einer permissiven Hypotension ist nicht neu. Bereits 1918 beschrieb Cannon den Endpunkt der Flüssigkeitstherapie eines hämorrhagischen Schocks mit einer Mixtur aus Kristalloiden und Kolloiden, wenn ein systolischer Blutdruck von 70–80 mmHg erreicht wurde [3]. ­Dies trägt der Beobachtung Rechnung,

dass durch Gefäßspasmus, Hypotension und physiologische Gerinnung verhinderte stärkere Blutungen insbesondere bei Amputationsverletzungen mit Anheben des Blutdrucks auf physiologische Werte erneut zu bluten begannen. ­Dies wird durch die blutdruckbedingte Lösung frischer Thromben sowie Dilution von plasmatischen und zellulären Gerinnungsfaktoren zu erklären versucht. Darüber hinaus können aber auch die infundierten Flüssigkeiten selbst zu einer Verstärkung der Koagulopathie führen. D Die permissive Hypotension

wird durch zurückhaltende Flüssigkeitstherapie erreicht. Als klinischer Endpunkt wird meist ein palpabler Radialispuls, was in etwa einem systolischen Blutdruck von 80–90 mmHg entspricht, bei vigilantem Patienten pos­ tuliert [27]. Bei manifestem oder vermutetem Schädel-Hirn-Trauma wird derzeit ein systolischer Blutdruck ≥80 mmHg angestrebt [29]. In einer Auswertung des TraumaRegisters der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) ­konnte ein Überlebensvorteil für Patienten mit niedriger prähospitaler Volumengabe (

[Prehospital resuscitation of patients with multiple injuries].

Polytrauma is the leading cause of morbidity and mortality in young adults (aged 35-45 years). At 30-40%, traumatic hemorrhage is the most frequent pr...
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