Leitthema Nervenarzt 2014 · 85:1269–1279 DOI 10.1007/s00115-014-4063-1 Online publiziert: 18. September 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

G.F. Hamann Klinik für Neurologie und Neurologische Rehabilitation, Bezirkskrankenhaus Günzburg

Prädiktion bei zerebrovaskulären Erkrankungen Zusatzmaterial online Dieser Beitrag enthält zusätzliche Kapitel zu den Themen biochemische Prädiktoren und Ultraschallprädiktoren für ein erstes Schlaganfallereignis sowie zu den Themen Schlaganfallprädiktionsmodelle und Schlaganfallrisikoscores. Dieses Supplemental finden Sie unter dx.doi.org/10.1007/s00115-014-4063-1

„Vorhersagen sind schwierig v. a. wenn sie die Zukunft betreffen“. Dieser bekannte Satz, der je nach Land und Herkunft sehr unterschiedlichen Personen (wie Mark Twain, Albert Einstein, Karl Valentin, Winston Churchill, Niels Bohr, Kurt Tucholsky und anderen) zugeschrieben wird, macht das Dilemma der Prädiktion deutlich, v. a. wenn sie auf das individuelle Niveau des einzelnen Patienten heruntergebrochen wird. Vorhersagen für Kollektive von Patienten sind viel besser möglich, da man sich auf Studienergebnisse und die jeweilig untersuchten Kollektive beziehen kann. Die ärztliche Kunst wird zunehmend gefordert, um diese kollektiven Vorhersagen auf die Situation des individuellen Patienten umzudeuten. Da wesentliche therapeutische Entscheidungen von dem vorhergesagten Risiko abhängen, greift diese Prädiktion wesentlich in die Behandlungsstrategien ein. So wird z. B. ein PFO (persistierendes Foramen ovale) -Verschluss doch viel akzeptabler, wenn man die Daten aus der sog. Mas-Studie [21] auf 12,5 Jahre hochrechnet (PFO und ASA [„atrial septal aneu-

rysm“] 4% pro Jahr Ereignisrate in den ersten 2 Jahren) und dann eine Schlaganfallwahrscheinlichkeit von 50% erreicht. Wer würde hier einem PFO-Verschluss widersprechen wollen. Nimmt man die gleichen Studiendaten und vergleicht PFO- (0,6% pro Jahr Rezidiv) mit nichtPFO-tragenden Patienten (1,1%/Jahr), dann ist das Schlaganfallrisiko durch ein PFO rund 50% unter dem der nicht-PFOtragenden Patienten und ein Schirmverschluss eher eine Form von Übertherapie. Prädiktion kann also bestens manipuliert werden, um therapeutische Entscheidungen zu forcieren, wobei bei dem gewählten Beispiel der PFO-Therapie das Fehlen entscheidender Evidenz die persönliche und damit einseitige Sicht des Problems fördert. Sieht man sich die PubMed-Ergebnisse zu Veröffentlichungen zur Prädiktion bei zerebrovaskulären Erkrankungen an, dann findet man alleine 2949 Papers zu den Stichwörtern „prediction“ und „stroke“. Das heißt, die umfassende Darstellung dieses Themas übersteigt den Umfang auch eines längeren Übersichtsartikels erheblich. Deshalb wird dieser Artikel sich auf einige wesentliche Aspekte dieses komplexen Themas beziehen: 1. Prädiktion des Schlaganfallrisikos in der Primärprävention, 2. Prognoseabschätzung nach transitorischer ischämischer Attacke (TIA), 3. Prognoseabschätzung beim akuten Schlaganfall, 4. Prädiktion des Rezidivrisikos in der Sekundärprävention, 5. Vorhersage der kognitiven Beeinträchtigung nach einem Schlaganfall.

Andere Aspekte, wie Prädiktion des Rehabilitationserfolges oder von Therapieeffekten und -nebenwirkungen, bleiben ausgeklammert.

Prädiktion des Schlaganfallrisikos in der Primärprävention Eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst die Wahrscheinlichkeit, einen Schlaganfall zu erleiden, wenn man bisher frei von zerebro- und kardiovaskulären Erkrankungen geblieben ist. Die sog. Primärprävention bezieht sich auf die Verhinderung zerebrovaskulärer Ereignisse in der Normalbevölkerung oder bestimmten definierten Bevölkerungsgruppen. Eine Vielzahl von Prädiktionsinstrumenten wurde hierzu entwickelt. Der weltweit bekannteste Score ist der „Framingham Risk Score“ (FSR; [14]). Er beinhaltet die folgenden Parameter: F Geschlecht, F Alter, F Gesamtcholesterin, F Rauchen, F HDL und F systolischer Blutdruck. Zielparamter ist das 10-Jahres-Risiko eines kardiovaskulären Ereignisses. Der ursprüngliche Score war nur zur Prädiktion des Herzinfarktrisikos angelegt, er wurde 1991 für Schlaganfälle erweitert [39]. Der jetzt verfügbare Framingham Stroke Risk Score umfasst weitere Parameter und ist eher schlaganfallspezifisch (. Tab. 1). Grundsätzlich ist festzuhalten, dass Neurologen eher selten mit Fragen der Der Nervenarzt 10 · 2014 

| 1269

1270 | 

Der Nervenarzt 10 · 2014

88   84   79   74 84 68 78 63 71 57 64 52 57 47 50 42 43 37 37 33 32 29 27 22 19 20 16

26 23

30 29 17 16 15

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

          Ja    

Linksventrikuläre Hypertrophie Nein     Umwandlung der Punktwerte in eine 10-Jahres-Wahrscheinlichkeit eines Schlaganfalls Punkte 1 2 3 4 5 6 7 8 9 19 11 12 13 14 10-Jahres-Wahrscheinlichkeit (%) Männer 3 3 4 4 5 5 6 7 8 10 11 13 15 17 Frauen 1 1 2 2 2 3 4 4 5 6 8 9 11 13

85 196–205 177–205       82–84 186–195 162–176       79–81 176–185 151–161       76–78 166–175 143–150       73–75 156–165 136–142       69–72 146–155 130–135       66–68 136–145 124–129     Ja 63–65 126–135 118–123   Ja 57–59 106–115 106–112       54–56 97–105 95–106 Nein Nein Nein

60–62 116–125 113–117 Ja    

82–84 –           79–81 205–216 205–216         77–78 193–204 161–204         74–76 181–192 149–160         71–73 168–180 140–148         68–70 156–167 132–139         65–67 144–155 126–131       Ja 63–64 131–143 120–125 Ja Ja     57–59 107–118 107–113         54–56 95–106 95–106 Nein Nein Nein Nein

60–62 119–130 114–119     Ja  

1 0

Punkte Frauen 50 bis 85 Jahre alt Alter Unbehandelter systolischer Blutdruck Behandelter systolischer Blutdruck Diabetes Rauchen Koronare Herzkrankheit Linksventrikuläre Hypertrophie Männer 50 bis 85 Jahre alt Alter Unbehandelter systolischer Blutdruck Behandelter systolischer Blutdruck Diabetes Rauchen Koronare Herzkrankheit

Tab. 1  Darstellung des Framingham Stroke Risk Score. (Nach [14])

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Leitthema Primärprävention befasst sind und die Unterschiede in der Primärprävention zwischen kardiovaskulären Erkrankungen allgemein und den Schlaganfallerkrankungen im Speziellen nicht sehr wesentlich sind. (s. hier Zusatzmaterial online: Biochemische Prädiktoren und Ultraschallprädiktoren für ein erstes Schlaganfallereignis) Eine neue Arbeit befasste sich mit der genetischen Prädiktion eines Schlaganfalls [15]. Diese sehr interessante Studie untersuchte aus vier bevölkerungsbezogenen Registern insgesamt 22.720 Patienten ohne Schlaganfall, die älter als 55 Jahre waren. Sie wurden bis zu 20 Jahre nachverfolgt. Die genetischen Risikoscores wurden aus 324 Single-Nukleotid-Polymorphismen und 9 Risikofaktoren gebildet. Die genetischen Risikoscores wurden zu dem Framingham Risk Score hinzugefügt. Durch die genetischen Zusatzinformationen wurden eine signifikante Verbesserung der Diskrimination und eine signifikante Verbesserung der Klassifikation erreicht. Trotz großen Aufwandes durch viele genetische Testungen wurde aber nur eine relativ geringe Verbesserung der Prädiktionswerte erreicht. Trotz dieser eher frustrierenden Ergebnisse wird dies die Zukunft sein. Durch Kombination von klinischen, biochemischen, technischen und v. a. genetischen Informationen wird eine deutliche Verbesserung in der Primärprädiktion erreicht werden. Dies ist das Feld der sich rasch ausbreitenden „personalisierten Medizin“. Wenige Daten betreffen Vorhersagemodelle zu intrazerebralen Blutungen in der Primärprävention [7]. Die Daten von 27.493 Teilnehmern aus drei Populationsstudien wurden zusammen ausgewertet (Atherosclerosis Risk in Communities Study, Rotterdam Study und Cardiovascular Health Study). In dieser Population traten 325 Hirnblutungen und 2559 ischämische Schlaganfälle sowie 9909 nicht schlaganfallbedingte Todesfälle auf. Die Autoren entwickelten einen 10-Jahres-Vorhersagewert. Ein hohes Gesamtcholesterin zu HDL-Cholesterin verringerte die Rate von Hirnblutungen, erhöhte aber die Rate von Schlaganfällen. Ein Vorhersagemodell für 10 Jahre für die Rezidive von Schlaganfällen und Hirnblu-

Zusammenfassung · Summary tungen wurde entwickelt. Der Wert eines solchen Modells muss sich in prospektiven Studien zeigen.

Prognoseabschätzung nach TIA Das Kurzzeitrisiko, einen Schlaganfall nach einer TIA zu erleiden, liegt bei bis zu 3–10% nach 2 Tagen, bei mehr als 5% nach 7 Tagen und bei 9–17% nach 90 Tagen. Verschiedene Scoring-Systeme wurden zur Prädiktion eines hohen sekundären Schlaganfallrisikos entwickelt. Am bekanntesten sind die sog. ABCDScores zur Prognoseabschätzung nach TIA. Die erste Version wurde 2005 von der Arbeitsgruppe von Peter Rothwell aus Großbritannien eingeführt [31]. Der ABCD-Score beinhaltet die vier Parameter: F Alter über 60 Jahre (1 Punkt), F Blutdruck (über 140 mmHg systolisch oder über 90 mmHg diastolisch 1 Punkt), F Klinik (einseitige Schwäche 2 Punkte, Sprachstörungen ohne Schwäche 1 Punkt, alle anderen 0 Punkte) und F Symptomdauer (>60 min 2 Punkte, 10–59 min 1 Punkt, unter 10 min 0 Punkte). Es können also maximal 6 Punkte erreicht werden. Im ABCD2-Score wird zusätzlich Diabetes mellitus mit einem Punkt berücksichtigt; die maximal Punktzahl beträgt hier 7. In der Originalstudie traten 95% aller sekundären Schlaganfälle bei Patienten mit 5 und mehr Punkten auf. Das 7-TageSchlaganfallrisiko lag bei 0,4% bei unter 5 Punkten, 12,1% bei 5 Punkten und 31,4% bei 6 Punkten. Kanadische Autoren [5] untersuchten zwischen 2002 und 2005 573 konsekutive Patienten mit einer TIA. Das 90-TageRisiko für das Auftreten eines Schlaganfalls unter diesen Patienten lag bei 4,7% (95%-Konfidenzintervall 3–6,4%). 78% der Patienten wurden als Hochrisikopatienten identifiziert. Der sog. ASPIREScore definierte eine Gruppe mit einem 6,3%igen Risiko für einen Schlaganfall. ASPIRE bedeutet, dass die Patienten einen ABCD2-Score über 4 haben mit motorischen Symptomen oder Sprachsympto-

Nervenarzt 2014 · 85:1269–1279  DOI 10.1007/s00115-014-4063-1 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 G.F. Hamann

Prädiktion bei zerebrovaskulären Erkrankungen Zusammenfassung Die Prädiktion der Prognose zerebrovaskulärer Erkrankungen oder der Komplikationen von Behandlungen sind essenzieller Bestandteil der Behandlung von Schlaganfallerkrankungen. In dieser Übersicht werden die Abschätzung des Schlaganfallrisikos in der Primärprävention, die Prognoseabschätzung nach einer transitorischen ischämischen Attacke, die Prognoseabschätzung beim akuten Schlaganfall und die Prädiktoren verschiedener Therapieoptionen, die Vorhersage des Rezidivrisikos in der Sekundärprävention und die Prädiktion vaskulärer kognitiver Veränderungen behandelt. Grundsätzliches Problem der Vorhersagen ist die Übertragung der Erkenntnisse aus Studien oder von Beobachtungskollektiven auf individuelle Patienten. So ist es unklar, inwieweit individuelle Prädiktoren auf genetischer Basis im Rahmen der sog. personalisierten Medizin diese Situation zukünftig verbessern können. Allgemein sind für alle aufgeführten Unterthemen Alter, Schwere des Schlaganfalls und Schlaganfalltyp die wesentlichen Variablen zur Prädiktion. Alte Menschen mit schweren Schlaganfallausfallssymptomen und makroangiopathischen oder kardioembolischen Schlag-

anfällen haben eine schlechte Prognose bez. Überleben und bleibender Behinderung. Diese Aussage ist allgemeingültig, aber auch lapidar und ersetzt keinesfalls den klinisch geübten Schlaganfallmediziner, der unter Ansicht des Patienten und seiner persönlichen Situation eine Steuerung der Behandlung (z. B. Einleitung einer Rehabilitation) durchführt. Jenseits der individuellen und durchaus schwierigen medizinischen Prädiktion gewinnt das Thema in Zeiten zunehmend verknappter Ressourcen und gleichzeitig verstärkter Neigung von Patienten und Angehörigen juristische Schritte zur Klärung der bestmöglichen Behandlung anzustrengen wirtschaftliche und juristische, aber auch und vor allem ethische Aspekte. Die neurologisch Tätigen müssen sich dieses Problems bewusst sein. Verbesserte Prädiktion darf nicht zur Ressourcenallokation oder Vorenthaltung der medizinisch vertretbaren und indizierten Behandlung missbraucht werden. Schlüsselwörter Schlaganfallprädiktion · Risikoscore · Rezidivrisiko · Vaskuläre Demenz · Prognoseabschätzung

Prediction in cerebrovascular diseases Summary Prediction of the outcome of cerebrovascular diseases or of the effects and complications of various forms of treatment are essential components of all stroke treatment regimens. This review focuses on the prediction of the stroke risk in primary prevention, the prediction of the risk of secondary stroke following a transient ischemic attack (TIA), the estimation of the outcome following manifest stroke and the treatment effects, the prediction of secondary cerebrovascular events and the prediction of vascular cognitive impairment following stroke. All predictive activities in cerebrovascular disease are hindered by the translation of predictive results from studies and patient populations to the individual patient. Future efforts in genetic analyses may be able to overcome this barrier and to enable individual prediction in the area of so-called personalized medicine. In all the various fields of prediction in cerebrovascular diseases, three major variables are always important: age of the patient, severity and subtype of the stroke. Increasing age, more severe stroke symptoms and the cardioembol-

ic stroke subtype predict a poor outcome regarding both survival and permanent disability. This finding is somewhat banal and will therefore never replace the well experienced clinician judging the chances of a patient and taking into account the personal situation of this patient, e.g. for initiation of a rehabilitation program. Besides the individualized prediction, in times of restricted economic resources and increasing tendency to clarify questions of medical treatment in court, it seems unavoidable to use prediction in economic and medicolegal interaction with clinical medicine. This tendency will be accompanied by difficult ethical problems which neurologists must be aware of. Improved prediction should not be used to allocate or restrict resources or to restrict medically indicated treatment. Keywords Stroke risk prediction · Risk score · Risk of recurrent stroke · Vascular cognitive impairment · Stroke outcome

Der Nervenarzt 10 · 2014 

| 1271

Leitthema Tab. 2  Vergleich der verschiedenen TIA-Scores. (Mod. nach [10]) Prädiktor

Alter über 60 Jahre Erhöhte Blutdruck Einseitige   Schwäche Sprachstörung Symptomdauer – >60 min – 10–59 min –

[Prediction in cerebrovascular diseases].

Prediction of the outcome of cerebrovascular diseases or of the effects and complications of various forms of treatment are essential components of al...
644KB Sizes 2 Downloads 12 Views