Übersichten Nervenarzt 2015 DOI 10.1007/s00115-015-4265-1 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

M. Ortner · A. Kurz Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München, München

Posteriore kortikale Atrophie Pathologie, Diagnostik und Behandlung einer seltenen Form der Demenz

Die posteriore kortikale Atrophie (PCA) zählt zu den diagnostischen Vexierbildern auf dem Gebiet der Neuropsychiatrie. Die Patienten berichten anfangs über Sehstörungen und damit zusammenhängende Schwierigkeiten im Alltag, sodass sich die Diagnostik auf ein augenärztliches Problem konzentriert, jedoch meist ohne Ergebnis bleibt. Erst im Verlauf lenken zunehmende amnestische, apraktische und dysexekutive Einschränkungen die Diagnostik in die richtige Richtung eines neurodegenerativen Prozesses. In der vorliegenden Arbeit stellen wir die charakteristischen Symptome der PCA, ihren typischen Verlauf, die diagnostischen Schritte und die therapeutischen Möglichkeiten vor.

Komplexe visuelle Störungen: ein Fallbeispiel Eine 53-jährige Kindergartenleiterin berichtete, dass sie seit einem Jahr beim Vorlesen Probleme habe, in der richtigen Zeile zu bleiben und Wörter zu erkennen. Beim Basteln mit den Kindern sei sie unbeholfen, könne mit der Schere nicht den vorgezeichneten Linien folgen oder Kanten genau aufeinander falten. Auch im Alltag bemerke sie eine zunehmende Ungeschicklichkeit. Sie stoße häufig Gläser um und stolpere gelegentlich über Gegenstände. Die Dekoration einer Geburtstagstorte sei völlig schief und unsymmetrisch gera-

ten, beim Anzünden der Kerzen habe sie das Streichholz am Docht vorbei geführt. Beim Ausfüllen von Formularen schreibe sie neben die vorgegebenen Kästchen. Manchmal nehme sie Gegenständen nicht wahr obwohl sie vor ihr auf dem Tisch lägen. Zunächst habe sie ein Sehproblem vermutet, aber zwei ausführliche augenärztliche Untersuchungen hätten keine Auffälligkeiten an den Augen nachweisen können. Aufgrund der zunehmenden Einschränkungen im Alltag, für die keiner der von ihr aufgesuchten Ärzte eine Erklärung habe finden können, fühle sie sich zunehmend ratlos und verzweifelt. Bei der Untersuchung fielen eine Simultanagnosie, okuläre Apraxie, optische Ataxie, diskrete Dyslexie, ideomotorische Apraxie sowie Defizite der Visuokonstruktion auf. Die Gedächtnisleistungen waren dagegen nur geringfügig eingeschränkt. Der körperliche Befund war unauffällig. Die strukturelle (kranielle Magnetresonanztomographie, cMRT) und funktionelle Bildgebung (18F-Fluorodeoxyglucose-Positronenemissionstomographie, 18F-FDG-PET) zeigte atrophische Veränderungen und Stoffwechselminderungen beidseits parietookzipital. Die Neurodegenerationsmarker im Liquor wiesen das typische Muster der Alzheimer-Krankheit auf. Zur Behandlung wurde ein Cholinesteraseinhibitor eingesetzt, die depressive Verstimmung besserte sich unter antidepressiver Therapie. Aufgrund der verständnisvollen Einstellung des Ar-

beitgebers konnte die Patientin an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.

Historischer Exkurs: Schon Arnold Pick kannte die PCA Die PCA wurde 1988 von Frank Benson und Kollegen als klinische Entität dargestellt [4]. Die Autoren berichteten über eine Gruppe von Patienten, bei denen zu Beginn Einschränkungen komplexer visueller Funktionen trotz intakter elementarer Sehleistungen und in Abwesenheit kognitiver Defizite bestanden. Die Betroffenen zeigten Symptome der Alexie, Agraphie, visuellen Agnosie sowie des Balintund Gerstmann-Syndroms (siehe unten). Die strukturelle kraniale Bildgebung zeigte eine parietookzipital betonte Hirnatrophie. Im Verlauf traten zusätzliche Beeinträchtigungen von Gedächtnis, Urteilsvermögen, Krankheitseinsicht und Sprache auf, sodass das Bild einer globalen Demenz entstand. Obwohl Frank Benson und seine Mitarbeiter den Begriff der PCA prägten, waren sie nicht die ersten, die eine vergleichbare Symptomkonstellation beschrieben haben. Bereits 1902 hatte Arnold Pick einen Aufsatz veröffentlicht, worin er eine Patientin mit Alexie, visueller Apraxie, optischer Ataxie und später einsetzender seniler Demenz schilderte [14]. In den 1980er Jahren folgten weitere Berichte über Patienten mit ähnlichen klinischen Erscheinungsbildern, die als Parietallappensyndrom oder visuelle VarianDer Nervenarzt 2015 

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Übersichten Tab. 1  Klinische Diagnosekriterien für die posteriore kortikale Atrophie. (Nach [13]) 1. A B C

D E 2. A B C D E F

Kernmerkmale Schleichender Beginn und allmähliche Progression Vorliegen visueller Beschwerden bei intakten primären visuellen Funktionen Nachweis einer komplexen visuellen Störung – Teile des Balint-Syndroms – Visuelle Agnosie – Ankleideapraxie – Räumliche Desorientierung Im Verhältnis dazu geringere Defizite des Gedächtnissen und der Wortflüssigkeit Relativ gut erhaltene Krankheitseinsicht mit oder ohne Depression Unterstützende Merkmale Präseniler Krankheitsbeginn Alexie Teile des Gerstmann-Syndroms Ideomotorische Apraxie Unauffällige körperliche Untersuchung Weiterführende Untersuchungen – Neuropsychologie: vorwiegend Defizite der Wahrnehmung – Kraniale Bildgebung: vorwiegend okzipitoparietale Auffälligkeiten (vor allem in der funktionellen Bildgebung) während frontale und mesiotemporale Areale relativ verschont bleiben

Tab. 2  Merkmale des Balint-Syndroms Simultanagnosie Okuläre Apraxie Optische Ataxie

Unvermögen des simultanen Erfassens mehrerer Stimuli oder größerer Objekte, Einschränkung der visuellen Exploration auf einen kleinen Sehbereich Beeinträchtigung der extern ausgelösten oder intentionalen Blickbewegungen Störung der visuellen Lokalisation sowohl für Blick- als auch Zeige- und Greifbewegungen

Tab. 3  Merkmale des Gerstmann-Syndroms Agraphie Akalkulie Rechts-Links-Desorientierung Fingeragnosie

Neu aufgetretene Einschränkung beim Schreiben, die nicht motorisch bedingt ist Neu aufgetretene Einschränkung beim Rechnen Der Patient kann links und rechts nicht voneinander unterscheiden Eigene und fremde Finger (auch Zehen) können nicht richtig erkannt und benannt werden

te der Alzheimer-Krankheit bezeichnet wurden [7]. Klinische Diagnosekriterien für die PCA wurden erstmals von Mario Mendez und Kollegen vorgeschlagen [13] und später von David Tang-Wai und Kollegen modifiziert ([19], . Tab. 1).

Eine seltene fokale Variante der Alzheimer-Krankheit Aufgrund der bisher fehlenden einheitlichen Diagnosekriterien sind die in der Literatur berichteten Angaben zu Häufigkeit, durchschnittlichem Erkrankungsalter und Verlauf unterschiedlich. Rund 5% der Patienten, die in spezialisierten Gedächtnisambulanzen die Diagnose

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einer Alzheimer-Krankheit erhalten, weisen primär visuelle Symptome im Sinne einer PCA auf [17]. Für die Bevorzugung eines Geschlechts ergibt sich kein Anhaltspunkt. Der Erkrankungsbeginn liegt häufig in der 5. oder in der ersten Hälfte der 6. Lebensdekade [9]. Die durchschnittliche weitere Lebenserwartung ab dem Auftreten der ersten Symptome beträgt rund 10 Jahre [1].

Das fokale Syndrom geht in eine Demenz über Meist berichten die Patienten über Probleme mit dem Sehen. Die elementaren visuellen Funktionen sind jedoch ungestört.

Vielmehr liegen den Beschwerden komplexere Schwierigkeiten zugrunde. Sie treten bei Aufgaben und Tätigkeiten zu Tage, die unter visueller Kontrolle ablaufen. Manchmal erkennen die Betroffenen bestimmte Gegenstände nicht, obwohl sie diese sehen (visuelle Agnosie); übersehen Objekte außerhalb der Mitte des Blickfelds; sind nicht in der Lage, mehrere Objekte gleichzeitig oder große Gegenstände vollständig wahrzunehmen (Simultanagnosie); schätzen Entfernungen oder Tiefen falsch ein; können den Blick nicht gezielt auf Objekte richten und darauf gerichtet halten (Blickapraxie), wodurch die visuelle Suche eingeschränkt ist; haben trotz intakter motorischer Funktionen Probleme, auf Gegenstände zu zeigen oder sie zu ergreifen (optische Ataxie) oder sind außer Stande, die Position ihres Körpers oder einzelner Körperteile in Relation zu Gegenständen zu bestimmen, beispielsweise zu Kleidungsstücken (Ankleideapraxie). Die Verbindung aus Simultanagnosie, okulärer Apraxie und optischer Ataxie wird als Balint-Syndrom bezeichnet (. Tab. 2). Zu den genannten Symptomen können bei Patienten mit PCA Störungen des Körperschemas, der räumlichen Vorstellungskraft des symbolischen Denkens sowie eine besondere Form von Dyspraxie hinzutreten. Sie äußern sich in Einschränkungen des Schreibens (Agraphie), des Rechnens (Akalkulie), des Erkennens und Benennens von Fingern oder Zehen (Fingeragnosie) und der Unterscheidung zwischen rechts und links. Diese Symptome können in Kombination auftreten und bilden dann das Gerstmann-Syndrom (. Tab. 3). Sie kommen aber auch isoliert vor [20]. Optische Sinnestäuschungen treten bei der PCA nicht auf. Die komplexen visuellen Schwierigkeiten führen im Alltag zu Behinderungen. Die Betroffenen verlieren beim Lesen die Zeilen, finden im Supermarkt die gewünschten Artikel nicht, können die richtigen Münzen nicht heraussuchen, stolpern über Gegenstände, decken den Tisch falsch, stoßen Gläser um, verursachen Kratzer und Beulen beim Autofahren, sind unsicher auf Treppen, ungeschickt und langsam beim Ankleiden oder unsicher bezüglich der räumlichen Orientierung [20]. In der Regel nehmen

Zusammenfassung · Summary sie ihre Einschränkungen und Fehlleistungen war, sind darüber besorgt und äußern häufig Angst oder depressive Verstimmung [5]. Veränderungen der Persönlichkeit oder des Sozialverhaltens gehören nicht zum typischen Bild der PCA. Einschränkungen weiterer kognitiver Funktionen wie episodisches Gedächtnis, Sprache, exekutive Fähigkeiten oder Urteilsvermögen fehlen im Frühstadium, treten aber im weiteren Krankheitsverlauf auf. Erst dann entspricht die PCA den derzeit gebräuchlichen Definitionen der Demenz [12, 24].

Alzheimer ist die häufigste, aber nicht die einzige Ursache Die charakteristischen Beeinträchtigungen komplexer visueller Funktionen sind Ausdruck einer diffusen Schädigung des parietalen und okzipitalen Kortex unter Einbeziehung der primären und sekundären Sehrinde. Betroffen sind insbesondere der ventrale visuelle Pfad, der von der Sehrinde zum inferioren Temporallappen zieht und der dorsale visuelle Strom, der dieselbe Ausgangsregion mit dem posterioren Parietallappen verbindet [8]. Schädigungen des ventralen visuellen Pfades führen zur visuellen Agnosie. Pathologische Veränderungen im Bereich des dorsalen visuellen Pfades sind mit dem Balint-Syndrom verbunden. Die Elemente des Gerstmann-Syndroms werden mit einer intraparietalen Diskonnektion erklärt. In den genannten parietookzipitalen Arealen findet sich die stärkste Ausprägung der histopathologischen Veränderungen, jedoch sind diese uneinheitlich. In zwei Dritteln bis drei Vierteln aller Fälle entsprechen sie der AlzheimerKrankheit mit typischen β-Amyloid-Plaques und Neurofibrillenveränderungen [15, 19]. Bei einigen Patienten wurden zusätzlich Lewy-Körper gefunden. Selten liegen die neuropathologischen Merkmale der progressiven subkortikalen Gliose, der kortikobasalen Degeneration oder einer Prionkrankheit vor. Auch diese Formen der Pathologie zeigen bei Patienten mit PCA eine atypische parietookzipitale Lokalisation.

Nervenarzt 2015 · [jvn]:[afp]–[alp]  DOI 10.1007/s00115-015-4265-1 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 M. Ortner · A. Kurz

Posteriore kortikale Atrophie. Pathologie, Diagnostik und Behandlung einer seltenen Form der Demenz Zusammenfassung Das Syndrom der posterioren kortikalen Atrophie (PCA) ist eine seltene klinische Manifestation verschiedener neurodegenerativer Krankheiten, die den parietookzipitalen Kortex betreffen. Die weitaus häufigste Ursache ist die Alzheimer-Krankheit. In einigen Fällen liegen Lewy-Körper-Krankheit, progressive subkortikale Gliose, kortikobasale Degeneration oder Prionkrankheiten zugrunde. Klinische Merkmale der PCA sind fortschreitende komplexe visuelle Funktionsstörungen wie Objektagnosie, Simultanagnosie, optische Ataxie und Blickapraxie bei intakten elementaren Sehleistungen. Diese Defizite führen im täglichen Leben zu vielfältigen Einschränkungen bei Tätigkeiten, die unter visueller Kontrolle ablaufen. Im Verlauf treten amnestische, apraktische und dysexekutive Symptome hinzu, sodass das Bild einer globalen Demenz entsteht. Den Kern der Diagnostik bilden die sorgfältige Erhebung der Vorgeschichte, genaue Verhaltensbeobachtung und neuropsychologische Tests. Strukturelle und funktionelle bildgebende Verfahren eignen sich zum Nachweis der Lokalisation des

Krankheitsprozesses. Die Bestimmung von Liquorproteinen (β-Amyloid, Tau, PhosphoTau, 14-3-3) dient der Bestätigung oder dem Ausschluss der Alzheimer-Krankheit oder einer Prionkrankheit als Ursache. Im Zentrum der Therapie stehen nichtpharmakologische Interventionen zur Aufrechterhaltung von Alltagsfunktionen und Eigenständigkeit. Dazu zählen kognitives Training und die Anwendung kompensatorischer Strategien. Sie können als neuropsychologische Behandlung oder Ergotherapie verordnet werden. Wenn die Alzheimer-Krankheit oder Lewy-KörperKrankheit wahrscheinlich ist, kommt ein Behandlungsversuch mit einem Cholinesterasehemmer in Betracht. Die Beratung und Unterstützung der Angehörigen ist wie bei allen Formen der Demenz ein unentbehrlicher Teil der Therapie. Schlüsselwörter Alzheimer-Krankheit · Komplexe visuelle Störungen · Kognitives Training · Ergotherapie · Cholinesteraseinhibitoren

Posterior cortical atrophy. Pathology, diagnosis and treatment of a rare form of dementia Summary The syndrome of posterior cortical atrophy (PCA) is a rare clinical manifestation of several neurodegenerative diseases which affect the parieto-occipital cortex. The most frequent underlying pathology is Alzheimer’s disease but some cases are caused by Lewy body disease, progressive subcortical gliosis, corticobasal degeneration or prion diseases. The most prominent clinical feature of PCA is complex visual disturbances including object agnosia, simultanagnosia, optical ataxia and oculomotor apraxia while basic visual functions remain intact. These deficits lead to multiple impairments in activities of daily living that require visual control. On progression of the disease amnestic, apraxic and dysexecutive symptoms occur so that a global dementia gradually emerges. At the core of the diagnostic workup are a detailed patient history, accurate analysis of behavior and neuropsychological testing. Structural and functional brain imaging are suitable to demonstrate the localization

of the disease process. Measurement of cerebrospinal fluid proteins (e.g. beta amyloid, tau, phospho-tau and 14-3-3) serves to confirm or exclude Alzheimer’s disease or prion diseases. The mainstay of treatment are non-pharmacological interventions to support activities of daily living and personal independence. These treatments include cognitive training and compensatory strategies which can be prescribed as neuropsychological treatment or occupational therapy. If Alzheimer’s disease or Lewy body disease is the likely cause, a treatment with cholinesterase inhibitor may be tried. Caregiver education and support are another essential part of the treatment regimen as with all forms of dementia. Keywords Alzheimer’s disease · Complex visual disturbance · Cognitive training · Occupational therapy · Cholinesterase inhibitors

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Übersichten

6666666666666 6666666666666 666 666 666 666 666 666 Abb. 1 8 Navon-Figur

Diagnostisches Vorgehen Der Verdacht auf eine PCA ergibt sich, wenn Patienten über schleichend beginnende und allmählich fortschreitende optisch-räumliche Probleme bei intakten elementaren Sehfunktionen sowie in Abwesenheit motorischer Einschränkungen berichten. Oft zeigen sie schon in einfachen kognitiven Tests wie Mini Mental Status Test (MMST), Uhrentest oder Montreal Cognitive Assessment (MoCA) Schwächen beim Erkennen, Analysieren und Zeichnen geometrischer Figuren. Im Vergleich dazu sind Gedächtnis- und Sprachfunktionen gut erhalten. Die charakteristischen komplexen visuellen Störungen treten aber erst bei einer genauen neuropsychologischen Untersuchung zutage. Die visuelle Agnosie äußert sich beim Benennen vorgezeigter Gegenstände. Die Simultanagnosie und die Beeinträchtigung der visuellen Such- und Abtastvorgänge werden beim Abzeichnen der Osterrieth-Komplexfigur, bei der Interpretation von Navon-Figuren (. Abb. 1) oder beim Beschreiben der Zeichnung vom Plätzchendieb aus dem Bostoner Aphasietest deutlich. Die Blickapraxie ist zu beobachten, wenn die Patienten den Blick auf einen Gegenstand richten, einem bewegten Stift mit den Augen folgen oder zahlreiche Punkte in einem Quadrat zäh-

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len sollen. Die optische Ataxie kommt im Vorbeizeigen und Vorbeigreifen an Gegenständen zum Vorschein. Die Ankleideapraxie lässt sich durch einen praktischen Versuch mit einem Kleidungsstück dokumentieren. Schreiben, Lesen, Links-Rechts-Diskrimination und Fingeragnosie werden mit einfachen Aufgaben geprüft (. Tab. 4). Zum Nachweis von Schädigungen des ventralen und dorsalen visuellen Pfades wurde die Testanordnung für Visuelle Objekt- und Raumwahrnehmung entwickelt [21]. Bei einigen Patienten bestehen auch visuelle Neglektphänomene, die möglicherweise Ausdruck einer ausgeprägten bilateralen Schädigung des Parietallappens darstellen [2]. Längsschnittuntersuchungen zeigen, dass im Krankheitsverlauf zu den visuellen Beeinträchtigungen Störungen des episodischen Gedächtnis, der Exekutivfunktionen und der sprachlichen Fähigkeiten zu den visuellen Beeinträchtigungen hinzutreten [5]. Als Ergänzung der neuropsychologischen Untersuchung sollte, falls nicht bereits geschehen, eine augenärztliche Vorstellung erfolgen, um ophthalmologische Ursachen visueller Defizite, wie z. B. Makuladegeneration, Glaukom, Netzhautablösung oder eine Sehnervatrophie auszuschließen. Der internistische und übrige neurologische Befund sowie die Routinelaborwerte sind in der Regel unauffällig. Die genannten Merkmale bilden den Kern der von Mario Mendez und Kollegen 2002 vorgeschlagenen [13] und 2004 von der Arbeitsgruppe um David TangWai [19] ergänzten klinischen Diagnosekriterien (. Tab. 1). Die Verfahren der strukturellen und funktionellen Bildgebung zeigen bei Patienten mit PCA in der Regel atrophische Veränderungen sowie Perfusions- und Stoffwechselminderungen im Parietalund Okzipitallappen [18, 23]. Im Krankheitsverlauf dehnen sich die Veränderungen auf den Temporallappen aus [5]. Die Untersuchung mit der PET und der Markiersubstanz Pittsburgh Compound B (PiB) weist manchmal, jedoch nicht immer, eine größere Ausprägung von Amyloidablagerungen im Parietal- und Okzipitallappen nach als sie üblicherweise bei der Alzheimer-Krankheit beobachtet werden [6]. Das Biomarkerprofil im Liquor

zeigt in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle erhöhte Werte für Gesamt-Tau und Phospho-Tau 181 sowie eine erniedrigte Konzentration von β-Amyloid 1-42 [3]. In den meisten Fällen stellt die PCA daher eine Variante der Alzheimer-Krankheit mit atypischer Lokalisation und visuell-räumlichem Erscheinungsbild dar [12].

Abgrenzung zwischen verschiedenen neurodegenerativen Ursachen Die differenzialdiagnostischen Erwägungen betreffen einerseits mögliche opthalmologische Ursachen der visuellen Störungen, andererseits die neuropathologischen Alternativen zur AlzheimerKrankheit. Die Lewy-Körper-Krankheit ist durch symmetrische Parkinson-Symptome, ausgeprägte optische Sinnestäuschungen und REM („rapid eye movement“) -Schlaf-Verhaltensstörungen gekennzeichnet. Bei der progressiven subkortikalen Gliose treten neurologische Symptome wie Dysarthrie, Dysphagie und Hyperreflexie auf; die strukturelle Bildgebung zeigt ausgeprägte Veränderungen der weißen Substanz. Die Leitsymptome der kortikobasalen Degeneration sind asymmetrischer Parkinsonismus, Apraxie, Myoklonus und Dystonie. Im Magnetresonanztomogramm sind asymmetrische, frontal betonte atrophische Veränderungen, eine Verschmächtigung der Crura cerebri sowie Signalanhebungen in der Substantia nigra zu erkennen. Der Glukosestoffwechsel ist frontoparietal vermindert. Bei Prionkrankheiten (vor allem Creutzfeldt-Jakob-Krankheit und fatale familiäre Insomnie) ist der Verlauf ungewöhnlich rasch, im EEG finden sich in vielen Fällen die typischen Spike-wave-Komplexe, das Magnetresonanztomogramm zeigt bilaterale Signalanhebungen in Kaudatum, Putamen, weißer Substanz und Kortex bei geringgradiger Hirnatrophie. Im Liquor sind erhöhte Konzentrationen von 14-3-3-Protein, Tauund Phospho-Tau nachweisbar [11].

Kognitives Training und Ergotherapie Der Schwerpunkt der Behandlung liegt auf nichtmedikamentösen Maßnahmen,

Tab. 4  Untersuchung von visuoräumlichen Störungen Simultanagnosie

Okuläre Apraxie Optische Ataxie

Agraphie Akalkulie Rechts-Links-Desorientierung Fingeragnosie

Ankleideapraxie

Komplexe Szenen visuell beschreiben lassen (z. B. aus dem Bostoner Aphasietest das Bild des Plätzchendiebs); mehrere Gegenstände auf den Schreibtisch legen und Patienten auffordern zu beschreiben, was er auf dem Tisch liegen sieht Aufforderung, den Blick auf einen Gegenstand zu richten oder einem bewegten Stift mit den Augen zu folgen, Punkte in einem Quadrat zählen Es kommt zu Vorbeizeigen und Vorbeigreifen, gezieltes Greifen unter visueller Kontrolle ist nicht möglich, z. B. Aufforderung, bestimmten Gegenstand zu greifen und evtl. diesen Gegenstand langsam bewegen, während der Patient danach greift, sodass eine Korrektur der Greifbewegung erfolgen müsste Etwas aufschreiben lassen, z. B. über das Wetter Einfache Rechenaufgaben lösen lassen Den Patienten am eigenen Körper und am Untersucher Körperteile auf der rechten/linken Körperhälfte zeigen lassen Den Patienten eigene Finger und Finger z. B. einer gezeichneten Hand oder des Untersuchers benennen lassen. Den Patienten die Augen schließen lassen, einzelne Finger berühren, die er dann benennen soll Bei einem Pullover einen Arm nach links drehen, den Pullover dem Patienten zurückgeben und ihn bitten, diesen anzuziehen

die den Betroffenen dabei helfen, ihre Alltagskompetenzen möglichst lange aufrechtzuerhalten. Manchen Patienten nützt ein individuell ausgerichtetes neuropsychologisches oder ergotherapeutisches Rehabilitationsprogramm, das aus psychoedukativen Elementen, kognitivem Training und der Anwendung kompensatorischer Strategien besteht [16]. Kognitive Übungen können sich auf das Erkennen von Gegenständen anhand besonders hervorstechender Merkmale, auf Ziel- und Greifbewegungen, visuelle Suchbewegungen oder auf die gleichzeitige Wahrnehmung mehrerer Objekte beziehen. Kompensatorische Maßnahmen sind die Steuerung von Ziel- und Greifbewegungen mittels taktiler anstatt visueller Informationen, das Ankleiden ohne visuelle Kontrolle, das Lesen unter Verwendung eines Lineals oder der Einsatz von Diktiergeräten an der Stelle von Notizzetteln. Mithilfe derartiger rehabilitativer Techniken lässt sich unter Umständen eine deutliche Verbesserung der Eigenständigkeit, eine Steigerung der Aktivität und eine Erweiterung des Handlungsradius erreichen [22]. Zu den alltagsbezogenen Strategien gehören auch die Verwendung von sprechenden Computern, Uhren mit akustischer Anzeige oder Hörbüchern, die sich bei Sehbehinderten bewährt haben. Aufgrund der einschneidenden Schwierigkeiten im Alltag und der meist vorhandenen Krankheitseinsicht

bestehen bei vielen Patienten depressive Symptome. In diesen Fällen sollte frühzeitig eine antidepressive Behandlung erwogen werden, die bei Patienten mit gut erhaltenen kognitiven Fähigkeiten auch verhaltenstherapeutische Komponenten umfassen kann. Komorbide Parkinson-Symptome müssen leitliniengerecht behandelt werden.

Pharmakotherapeutische Möglichkeiten Das Syndrom der PCA ist die klinische Manifestation fortschreitender neurodegenerativer Prozesse. Von ihnen sind gegenwärtig nur wenige einer symptomatischen, jedoch nicht ursächlichen Behandlung zugänglich. Eine pharmakologische Therapie mit Cholinomimetika kommt in Betracht, wenn als Ursache eine Alzheimer- oder Lewy-Körper-Pathologie anzunehmen ist [5]. In Einzelfällen wurden alltagsrelevante Verbesserungen der visuoräumlichen Fähigkeiten und der Aufmerksamkeit beschrieben [10].

Beratung und Entlastung der Angehörigen Für die Bezugspersonen der Patienten bedeutet eine PCA ebenso wie andere Formen der fortschreitenden Demenz einen schwierigen Prozess der Umstellung, Anpassung und Neuplanung des Lebensentwurfs. Aus diesem Grund ist die Mit-

betreuung der Angehörigen ein unverzichtbarer Teil der Therapie. Sie bedürfen der ausführlichen Information über das Krankheitsbild und der Anleitung im Hinblick auf praktische Problemlösungen. Oft profitieren sie vom Austausch mit gleichermaßen Betroffenen im Rahmen von Selbsthilfegruppen, wie sie beispielsweise von vielen örtlichen Gliederungen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft angeboten werden.

Sozialmedizinische Gesichtspunkte Aufgrund der alltagsrelevanten Behinderungen durch komplexe visuelle Störungen sollte als sozialmedizinischer Anteil der Therapie versucht werden, einen Schwerbehindertenausweis mit den Merkzeichen B (Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson in öffentlichen Verkehrsmitteln), G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und H (Hilflosigkeit im Sinne des Einkommensteuergesetzes) zu beantragen. Im Hinblick auf den für Schwerbehinderte geltenden Kündigungsschutz ist darauf zu achten, dass den Patienten ein Behinderungsgrad von mindestens 50% zuerkannt wird. Bei einem Behinderungsgrad zwischen 30 und 50% kann bei der zuständigen Agentur für Arbeit die Gleichstellung mit Schwerbehinderten beantragt werden, um den besonderen Kündigungsschutz sicherzustellen. Die Patienten müssen darüber aufgeklärt werden, dass sie nicht in der Lage sind, ein Kraftfahrzeug zu führen. Sie sollten eine Beratung erhalten, wie sie dennoch ihre Mobilität aufrechterhalten können.

Fazit für die Praxis F Die posteriore kortikale Atrophie ist klinischer Ausdruck verschiedener neurodegenerativer Krankheiten, die den parietookzipitalen Kortex betreffen. F Die häufigste Ursache ist die Alzheimer-Krankheit. F Klinische Erkennungsmerkmale sind komplexe visuelle Störungen bei intakten elementaren Sehleistungen.

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Übersichten F Im Alltag kommt es zu Einschränkungen bei Tätigkeiten, die unter visueller Kontrolle ablaufen. F Im Krankheitsverlauf treten amnestische, apraktische und dysexekutive Symptome auf, sodass das Bild einer globalen Demenz entsteht. F Im Mittelpunkt der Behandlung stehen nichtpharmakologische Interventionen wie kognitives Training und Ergotherapie. F Ein Therapieversuch mit einem Cholinesterasehemmer kann erwogen werden. F Die Beratung und Entlastung der Angehörigen sind Teile der Behandlung.

Korrespondenzadresse Dr. M. Ortner Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München Ismaninger Str. 22, 81675 München [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  M. Ortner und A. Kurz geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

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[Posterior cortical atrophy. Pathology, diagnosis and treatment of a rare form of dementia].

The syndrome of posterior cortical atrophy (PCA) is a rare clinical manifestation of several neurodegenerative diseases which affect the parieto-occip...
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