Physiotherapie Med Klin Intensivmed Notfmed 2014 · 109:547–554 DOI 10.1007/s00063-014-0399-3 Eingegangen: 13. März 2014 Überarbeitet: 21. April 2014 Angenommen: 28. April 2014 Online publiziert: 16. August 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

Redaktion

M.T. Geier, München

Das Bild des Intensivpatienten hat sich in den letzten Jahren durch neu gewonnene Erkenntnisse im Rahmen von Sedierungs- und Weaningkonzepten deutlich verändert [1]. Der tief sedierte, nicht kontaktierbare Patient wird immer seltener bzw. wird versucht, diese Phase so kurz wie möglich zu halten. Aus diesem Umstand ergibt sich ein erweitertes Anforderungsprofil an das interprofessionelle Team einer Intensivstation, in dem die Physiotherapie in den Bereichen Frühmobilisierung und Atemphysio­ therapie eine wichtige Rolle einnimmt [2–4, 8]. Um die Wirksamkeit von frühzeitiger Physio- und Ergotherapie nachzuweisen, führten Schweickert et al. eine prospektiv randomisierte Studie an 2 Kliniken in Chicago und Iowa (USA) mit gesamt 104 beatmeten Intensivpatienten durch [2]. Alle Patienten erhielten routinemäßige­ Intensivpflege und den obligatorischen täglichen Aufwachversuch in Verbindung mit der täglichen Unterbrechung der Sedierung. Bei der Interventionsgruppe­ wurde zusätzlich so früh wie möglich – noch im intubierten Zustand – mit der physio- und ergotherapeutischen Behandlung begonnen. Beurteilungskriterien der Studie waren die körperliche Funktionalität bei Entlassung aus dem Krankenhaus, die Dauer­ des Delirs auf der Intensivstation („intensive care unit“, ICU) und die Anzahl der beatmungsfreien Tage. Die Autoren konnten zeigen, dass frühzeitige Physio- und Ergotherapie sicher durch-

S. Nessizius Gemeinsame Einrichtung für Intensiv- und Notfallmedizin des Departments Innere Medizin, Universitätskliniken Innsbruck

Aufgaben der Physiotherapie in der Intensivmedizin führbar ist und vom Intensivpatienten gut toleriert wird. Die Interventionsgruppe­ erreichte eine bessere Funktionalität bei Entlassung aus dem Krankenhaus, das ICU-Delir verkürzte sich und die Patienten wurden weniger lang beatmet als die Vergleichsgruppe. Diese Ergebnisse konnten durch andere Studien, z. T. auch mit europäischer Beteiligung, bestätigt werden [3–5, 23]. Im klinischen Alltag wird die Kontinui­ tät der Behandlung durch die Implementierung eines interdisziplinären Mobilisationskonzepts gewährleistet. Zentrales­ Ziel dabei ist es, die vorhandenen Ressourcen der Patienten individuell zu erfassen, entsprechende Maßnahmen abzuleiten und sich zwischen den Berufsgruppen optimal abzustimmen. Der funktionelle Zustand eines Intensivpatienten­ wird in jeder Phase zeitnah beurteilt, um in weiterer Folge die jeweiligen Therapie- und Behandlungsmaßnahmen im interdisziplinären Team veranlassen zu können [6, 7]. Anhand eines vom Autor entwickelten­ physiotherapeutischen Phasenmodells sollen die Aufgaben und Möglichkeiten der Physiotherapie in der Intensivmedizin­ aufgezeigt werden. Dieses Modell bildet die Grenze, innerhalb derer der Patient individuell und zielgerichtet behandelt werden kann.

Einteilung im physiotherapeutischen Phasenmodell Im klinischen Alltag wird das Therapieziel „Mobilisation“ sowohl innerhalb einer­

Berufsgruppe als auch zwischen den verschiedenen Berufsgruppen sehr unterschiedlich definiert. Für die einen ist das Ziel der Mobilisation die Sitz- oder Stehposition, für die anderen der Weg und die Art und Weise, wie der Patient in eine bestimmte Position gebracht wird. Dadurch kommt es zu Abstimmungsproblemen bei ein und demselben Patienten, der dann über- oder unterfordert wird und bei dem in weiterer Folge die Mobilisierung ineffizient gestaltet wird. Dieser Problematik begegnete die gemeinsame Einrichtung für Intensivund Notfallmedizin des Departments Innere­ Medizin der Universitätsklinik Innsbruck mit der interdisziplinären Entwicklung eines Mobilisationskonzepts, dessen Grundlage das physiotherapeutische Phasenmodell ist. Zentrales Ziel war es, die vorhandenen Ressourcen (Fähigkeiten) der Patienten individuell zu erfassen, entsprechende Maßnahmen abzuleiten und sich zwischen den Berufsgruppen optimal abzustimmen, um Synergieeffekte­ nutzen zu können. Im Rahmen des physiotherapeutischen Assessments wird der Zustand des Intensivpatienten sowohl für die AtemphysioTab. 1  Kraftskala des Medical Research

Council (MRC) 5 4 3 2 1 0

Maximale Kraftfähigkeit Bewegungen gegen Widerstand Bewegungen gegen die Schwerkraft Hubfreies Bewegen Anspannung ohne Bewegung Keine Bewegung

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Physiotherapie

Keine Spontanatmung APT 1

APT 2 Unterstützte Spontanatmung

Eigenständige Atmung APT 3

Abb. 1 8 Unterteilung des Zustands des Intensivpatienten für die Atemphysiotherapie (APT) in jeweils 3 Phasen

Vitalparameter

Vigilanz (RASS -5 bis +4)

Kommunikation (1-5)

Begleiterkrankungen, Verletzungen oder OPs

Beatmung Leitungen

Andere Kontraindikationen

therapie (APT) als auch für die Bewegungstherapie und Mobilisation (MOB) in jeweils 3 Phasen unterteilt (. Abb. 1, 2). Als Kriterium dienen einerseits die Beurteilung der Aktivität des Atemzentrums und andererseits die Kraftskala Medical Research Council (MRC) Scale an allen 4 Extremitäten (. Tab. 1).

Umgebungsfaktoren zur Präzisierung der einzelnen Phasen In allen 3 Phasen sind sog. Umgebungsfaktoren zu beachten, die sich aus mehreren Teilbereichen zusammensetzen (siehe­ . Abb. 3). Die Vitalparameter des Patienten sollten in einem stabilen Bereich sein, genauere Werte können dem Abschnitt über die Mobilisation in Phase 3 entnommen werden. Die Vigilanz sowie die Kommunikationsfähigkeit werden über die Richmont Agitation and Sedation Scale (RASS) und eine eigene Kommunikationsskala beurteilt und in die weitere Therapieplanung mit einbezogen (. Tab. 2, 3). Ein Patient, der einen RASS-Wert von −5 zeigt, kann beispielsweise mit passiven Therapiemaßnahmen behandelt werden, wohingegen eine aktive­ Mobilisation in den Stand einen RASS-Wert von 0 erfordert.

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MOB 2 MRC3 Aktiv

MOB 1

MOB 3

Abb. 2 8 Unterteilung des Zustands des Intensivpatienten für Bewegungstherapie und Mobilisation (MOB) in jeweils 3 Phasen (MRC Medical Research Council)

Abb. 3 9 Umgebungsfaktoren (RASS Richmont Agitation and Sedation Scale)

Einschränkungen bezüglich der Durchführbarkeit einzelner Maßnahmen können sich durch zentrale Zugänge und extrakorporale Verfahren ergeben. Hier muss darauf geachtet werden, die Leitungen für die physiotherapeutische Behandlung so zu positionieren und zu sichern, dass die Funktionalität trotz zusätzlicher Bewegungen aufrechterhalten bleibt. Ebenso können sich Folgen etwaiger Operationen oder Verletzungen, wie beispielsweise instabile Frakturen, Thrombosen im behandelten Bereich oder großflächige­ Hautdefekte auf den Behandlungsablauf auswirken. In der täglichen Praxis empfiehlt sich die Abstimmung mit dem behandelnden Arzt. Die Mobilisationsphasen bilden den groben Rahmen, der von den Umgebungsfaktoren weiter definiert wird. Die Individualität des Patienten und die stationsspezifischen Behandlungsaspekte­ werden berücksichtigt und als Folge entsteht ein dynamisches individuelles Behandlungsprogramm, das immer die Bedürfnisse des Patienten in den Mittelpunkt stellt (. Infobox 1). In Verbindung mit den Umgebungsfaktoren können an Hand der jeweils 3 Phasen (APT und MOB) die physiotherapeutischen Ziele und Ansätze in den einzelnen Bereichen

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MRC=3 Assistiv

formuliert werden. Eine Zusammenfassung des physiotherapeutischen Phasenmodells wurde im deutschsprachigen Teil des internationalen Netzwerks „Frühmobilisierung beatmeter Patienten“ im Frühjahr 2012 veröffentlicht [9].

Atemphysiotherapie Castro et al. konnten in ihrer aktuellen Studie nachweisen, dass durch die Anstellung eines Atemphysiotherapeuten an einer Intensivstation sich Intensivpatienten­ schneller erholen und weniger beatmungsassozierte Komplikationen auftreten. In weiterer Folge verkürzen sich sowohl die Dauer der Beatmung wie auch die Aufenthaltszeit im Krankenhaus [10]. In der Atemphysiotherapie wird zwischen manuellen und gerätegestützten Techniken unterschieden. Für die Behandlung wird die Funktionalität des Atemzentrums (Fähigkeit selbst zu atmen) in die APT-Phasen 1–3 eingeteilt: F Phase 1 beschreibt eine komplette Inaktivität oder sehr ausgeprägte Insuffizienz des Atemzentrums; das bedeutet, dass der Patient die Triggerung der Beatmungsmaschine nicht auslösen kann. Somit wird er über einen Endotrachealtubus oder eine Trachealkanüle kontrolliert beatmet (z. B. „airway pressure release ventilation“, APRV). F In Phase 2 ist eine beginnende Eigenaktivität des Atemzentrums erkennbar und der Patient triggert die Beatmungsmaschine selbst. Er ist nach wie vor entweder intubiert oder tracheotomiert. F In Phase 3 ist der Patient nicht mehr auf die druckunterstützte Beatmung

Zusammenfassung · Abstract Med Klin Intensivmed Notfmed 2014 · 109:547–554  DOI 10.1007/s00063-014-0399-3 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 S. Nessizius

Aufgaben der Physiotherapie in der Intensivmedizin Zusammenfassung Hintergrund.  Eine große Anzahl an wissenschaftlichen Studien und Artikeln rückt das Thema Frühmobilisierung und Physiotherapie in der Intensivmedizin in den Fokus der Aufmerksamkeit. Im klinischen Alltag stellt sich allerdings immer wieder die Frage nach der praktischen Durchführbarkeit. Jede einzelne Berufsgruppe im interdisziplinären Team hat einen unterschiedlichen Zugang zum Thema Physiotherapie und somit sind die Erwartungen an diese Berufssparte auf den Intensivstationen sehr unterschiedlich. Es gibt noch keine allgemein gültigen physiotherapeutischen Standards für die Arbeit mit Intensivpatienten, wohl aber Empfehlungen verschiedener medizinischer Gesellschaften und stationsinterne Konzepte für eine zielgerichtete patientenorientierte Behandlung (http://www.fruehmobilisierung.de/Fruehmobilisierung/Algorithmen.html). Ziel der Arbeit.  Aus diesem Umstand heraus wird das vom Autor entwickelte physiotherapeutische Phasenmodell hier vorgestellt. Der Patient wird nach seinen momentanen Fähig­ keiten in den Funktionen Atmung und Bewegung in jeweils 3 Phasen eingeteilt und durch die sogenannten Umgebungsfaktoren­genauer definiert. Nach diesen Kriterien wird

dann der Therapieplan erstellt und der Patient zielgerichtet behandelt. Durch weitere Beobachtung und Anpassung der Behandlung an die jeweiligen Ressourcen des Patienten entwickelt sich ein dynamisches System. Frei nach dem Motto „Keep it simple“ entstand ein Leitfaden zur ressourcenorientierten Einteilung und physiotherapeutischen Behandlung des Intensivpatienten. Methoden.  In diesem Artikel werden einige­ Anhaltspunkte zur praktischen Umsetzung eines solchen Modells im klinischen Alltag aufgezeigt und erläutert. In der Praxis zeigt sich, dass die Physiotherapie eine wichtige­ Rolle im intensivmedizinischen Setting spielt und den Patienten im Frührehabilitations­ prozess unterstützt. Die therapeutischen Maßnahmen sind vielfältig und können genau auf die Bedürfnisse des Patienten zugeschnitten werden. Im weiteren Verlauf entwickelte ein Team, bestehend aus Pflegepersonen, Physiotherapeuten und Fachärzten, aus dem physiotherapeutischen Phasenmodell das „Innsbrucker Mobilisationskonzept zur interdisziplinären Behandlung internistischer Intensivpatienten“ und implementierte das Konzept auf der internistischen Intensivstation der gemeinsamen Einrichtung

für Intensiv- und Notfallmedizin des Departments Innere Medizin der Universitätsklinik Innsbruck. Die größte Herausforderung war es eine einheitliche Sprache und Definitionen­ zum Thema Frühmobilisierung zu finden. Eine Zusammenfassung dieses Mobilisationskonzept sowie des physiotherapeutischen Phasenmodells wurde im deutschsprachigen­ Teil des internationalen Netzwerks „Frühmobilisierung beatmeter Patienten“ im Frühjahr 2012 veröffentlicht (http://www.fruehmobilisierung.de/Fruehmobilisierung/Algorithmen.html.). Ergebnisse.  Der Erfolg der Implementierung zeigte sich in einem strukturierten und koordinierten Ablauf der Frührehabilitation auf der Intensivstation, da alle Berufsgruppen im Frührehabilitationsteam die adäquaten pflegerischen und therapeutischen Maßnahmen einsetzen können. Die Patienten werden seitdem zeitgerecht und zielorientiert in ihrem Genesungsverlauf unterstützt und begleitet. Schlüsselwörter Frühmobilisierung · Atemphysiotherapie · Muskelschwäche · Phasenmodell · Reevaluierung

Physiotherapy in intensive care medicine Abstract Background.  A high amount of recently­ published articles and reviews have already focused on early mobilisation in intensive care medicine. However, in the clinical setting the problem of its practicability remains as each professional group in the mobility­team has its own expectations concerning the interventions made by physiotherapy. Even though there are as yet no standard operation procedures (SOP), there do exist­ distinctive mobilisation concepts that are well implemented in certain intensive care units (http://www.fruehmobilisierung.de/ Fruehmobilisierung/Algorithmen.html). Aim.  Due to these facts and the urgent need for SOPs this article presents the physiothera­ peutic concept for the treatment of patients in the intensive care unit which has been developed by the author: First the patients’ respiratory and motor functions have to be established in order to classify the patients and allocate them to their appropriate group (one out of three) according to their capacities; additionally, the patients are analysed by check-

ing their so-called “surrounding conditions”. Following these criteria a therapy regime is developed and patients are treated accordingly. By constant monitoring and re-evalua­ tion of the treatment in accordance with the functions of the patient a dynamic system evolves. “Keep it simple” is one of the key features of that physiotherapeutic concept. Thus, a manual for the classification and the physio­therapeutic treatment of an intensive care patient was developed. Methods.  In this article it is demonstrated how this concept can be implemented in the daily routine of an intensive care unit. Physiotherapy in intensive care medicine has proven to play an important role in the patients’ early rehabilitation if the therapeutic interventions are well adjusted to the needs of the patients. A team of nursing staff, physiothera­ pists and medical doctors from the core facili­ ty for medical intensive care and emergency­ medicine at the medical university of Innsbruck developed the “Mobilisation Concept for the Multidisciplinary Treatment of the In-

tensive Care Patient” following the principles­ of the physiotherapeutic concept mentioned above and published it online on the home­ page of the German network for early mobilisation (http://www.fruehmobilisierung. de/Fruehmobilisierung/Algorithmen.html) in spring 2012. The biggest challenge was to find one common language for all professional groups to define the aims of mobilisation. Results.  The success of the implementation becomes apparent in a well structured and coordinated procedure of early mobilisation, as all partners of the rehabilitation team apply adequate treatments. As a result the patients receive the appropriate treatment at the appropriate time which greatly supports their convalescence. Keywords Early mobilisation · Chest physiotherapy · ICU-acquired weakness · Phase model · Reevaluation

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Physiotherapie Infobox 1:  Patientenbeispiel zur Implementierung in der Praxis Anhand des folgenden Patientenbeispiels soll gezeigt werden, wie der Einsatz des physiotherapeutischen Phasenmodells in der Praxis angewendet wird und aufgrund welcher Parameter das System dynamisch an die jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden kann. Herr W. wurde am 03.01.2012 mit Zustand bei schwerer Sepsis und Erysipel an beiden unteren Extremitäten in der internistischen Intensivstation aufgenommen. Zusätzlich konnte eine Kardiomyopathie mit pulmonaler Hypertension und ein akutes Nierenversagen diagnostiziert werden. Der Body-Mass-Index betrug 44,3 bei einer Körpergröße von 190 cm und einem Gewicht von 160 kg. Am 5.1. hatte sich der Patient soweit stabilisiert, dass er der Physiotherapie zugewiesen werden konnte. Er war intubiert, mit dem Modus APRV („airway pressure release ventilation“) beatmet und, bedingt durch die Analgosedierung, unfähig, die Extremitäten zu bewegen (MRC-Scale

[Physiotherapy in intensive care medicine].

A high amount of recently published articles and reviews have already focused on early mobilisation in intensive care medicine. However, in the clinic...
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