Originalarbeit

S19

Philosophie der Menschenwürde und die Ethik der Psychiatrie

Autor

Ralf Stoecker

Institut

Professur für Praktische Philosophie, Universität Bielefeld

Schlüsselwörter

Zusammenfassung

" Psychiatrie ● " Menschenwürde ● " Identität ● " Zwangsbehandlung ● " Achtung ●

Keywords

" psychiatry ● " human dignity ● " identity ● " compulsion ● " respect ●

!

Der Beitrag soll dreierlei leisten. Erstens gibt er einen Einstieg in das Thema Menschenwürde in der modernen Philosophie und beschreibt das Dilemma, in dem sich die Philosophie zurzeit bei der Beschäftigung mit der Menschenwürde befin-

In meinem Beitrag möchte ich dreierlei leisten. Erstens gebe ich einen Einstieg in das Thema Menschenwürde in der modernen Philosophie und beschreibe das Dilemma, in dem sich die Philosophie zurzeit bei der Beschäftigung mit der Menschenwürde befindet. Zweitens zeige ich auf der Basis eines kursorischen Durchgangs durch die Geschichte der Psychiatrie, wie die Psychiatrie zur Lösung dieses Dilemmas beitragen kann. Und drittens ziehe ich aus dem so gewonnenen Menschenwürdeverständnis Konsequenzen für die psychiatrische Ethik.1

Das philosophische Problem mit der Menschenwürde !

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1370002 Psychiat Prax 2014; 41, Supplement 1: S19–S25 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 1611-8332 Korrespondenzadresse Prof. Dr. Ralf Stoecker Professur für Praktische Philosophie, Universität Bielefeld Universitätsstraße 25 33615 Bielefeld [email protected]

Aus philosophischer Sicht ist die Menschenwürde ein faszinierendes Thema. Einerseits scheint sie das Fundament unseres normativen Selbstverständnisses zu bilden. So heißt es in Art. 1 GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Ähnliche Formulierungen finden sich an prominenter Stelle auch in der UN Charta von 1945,

1

det. Zweitens zeigt er auf der Basis eines kursorischen Durchgangs durch die Geschichte der Psychiatrie, wie die Psychiatrie zur Lösung dieses Dilemmas beitragen kann. Und drittens zieht er aus dem so gewonnenen Menschenwürdeverständnis Konsequenzen für die psychiatrische Ethik.

der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948), in den UN-Menschenrechtspakten (1966), im Vertrag von Lissabon (2009) und in vielen anderen modernen Verfassungen und Deklarationen. Es ist also anscheinend unsere Menschenwürde, die uns auf besondere Weise vor staatlicher und zwischenmenschlicher Willkür schützt. Andererseits stammen all diese Dokumente aus den letzten 60 Jahren, aus der Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und heute. Vor 1945 taucht die Menschenwürde hingegen in rechtlichen Kontexten kaum auf und spielt auch in der philosophischen Ethik keine herausragende Rolle. Auf den ersten Blick könnte es fast so scheinen, als wäre die menschliche Würde in der dramatischen Umbruchsituation nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Nichts in die vordersten Ränge der rechtlichen Grundsatzerklärungen gelangt. Genau genommen stimmt das natürlich nicht ganz, es gab philosophische, religiöse und auch sozialpolitische Traditionen, an die man anknüpfen konnte (vgl. [4]). Dennoch stellte die Einführung der Menschenwürde in diese zentrale rechtliche Position für die Rechtswissenschaft wie für die Philosophie eine Herausforderung dar. In der Rechtswissenschaft lag die Schwierigkeit offensichtlich darin, überhaupt erst eine Interpretation für den Begriff zu entwickeln. Die herrschende Lehre folgte allerdings schnell dem Staatsrechtler Günter Dürig, der die sogenannte „Objektformel“ entwickelt hatte, die in Anlehnung an Kant das Gebot, die Würde des Menschen

Zum Thema dieses Artikels vgl. auch [1 – 3].

Stoecker R. Philosophie der Menschenwürde … Psychiat Prax 2014; 41, Supplement 1: S19–S25

Heruntergeladen von: NYU. Urheberrechtlich geschützt.

Philosophy of Human Dignity and the Ethics of Psychiatry

S20

Originalarbeit

2

Zur Geschichte der juristischen Interpretation von Art. 1 GG vgl. [5].

eigenständiges Gewicht in der Ethik zu geben, in ein auswegloses Dilemma zu führen.

Das Dilemma zwischen Mitgift- und LeistungsKonzeptionen der Menschenwürde !

Dieses Dilemma lässt sich gut im Rückgriff auf 2 prominente alternative Menschenwürde-Konzeptionen illustrieren. Die erste Alternative habe ich schon kurz genannt: Man kann den Begriff religiös verstehen. So schreibt beispielsweise der katholische Philosoph Robert Spaemann: „Der Begriff ‚Würde‘ meint etwas Sakrales: Er ist ein im Grunde religiös-metaphysischer“ [7]. Nach christlicher Überzeugung ergibt sich die Würde des Menschen aus der Gottesebenbildlichkeit und Gottesgeschöpflichkeit des Menschen. Da alle Menschen diese Eigenschaften haben, ist die Menschenwürde angeboren, egalitär und unverlierbar. Entsprechend werden derartige Menschenwürdeverständnisse häufig als Mitgift-Konzeptionen bezeichnet. Mitgift-Konzeptionen haben den Vorteil, gut erklären zu können, warum die Menschenwürde üblicherweise als etwas angesehen wird, das allen und wirklich allen Menschen Zeit ihres Lebens zukommt. Diese Konzeptionen haben allerdings auch die schon erwähnte Eigenheit, dass sie sich außerhalb religiöser Glaubenssysteme schlecht rechtfertigen lassen. Spaemann macht das in dem gerade zitierten Text ganz deutlich: „Es ist ein auch heute noch nicht ganz ausgestorbener Irrtum, man könne die religiöse Betrachtung der Wirklichkeit fallen lassen, ohne dass einem etliches andere mit abhanden kommt, auf das man weniger leicht verzichten möchte“ (ebenda). Aus Sicht einer säkularen Ethik ist es aber nicht ausreichend, sich einfach auf die dogmatische Behauptung zu beschränken, es gäbe nun einmal eine solche allen Menschen gemeinsame, unverlierbare Menschenwürde. Um zu wissen, ob, wann und auf welche Weise man die Menschenwürde achten muss, braucht man deutlich mehr, als einem die Mitgift-Konzeptionen bieten können. Das spricht für die prominente Alternative, die menschliche Würde auf den Besitz bestimmter, ausgezeichneter Fähigkeiten der Menschen zurückzuführen. Auch diese Ansicht hat eine lange geistesgeschichtliche Tradition, die bis auf Ciceros Schrift Über die Pflichten zurückreicht, in der der römische Autor neben die verschiedenen kontingenten sozialen Würden jedes einzelnen Menschen eine allen Menschen gemeinsame Würde stellt, die dem Menschen kraft seiner Vernunft zukommt ([8], I.XXX ff.). Auch Immanuel Kant, der berühmteste Theoretiker der Menschenwürde, führt die Würde auf eine entsprechende Fähigkeit des Menschen zurück, die Autonomie, verstanden als Fähigkeit, vernünftig zu handeln: „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen […] Natur“ ([9] (AA IV 436). Angesichts der großen Bedeutung, die die Fähigkeit zu denken und zu handeln für unser Leben hat, ist es unmittelbar plausibel, daraus eine besondere Würde des Menschen herzuleiten. Vorschläge, die Menschenwürde auf diese Fähigkeiten zurückzuführen, werden üblicherweise als Leistungs-Konzeptionen bezeichnet. Leistungs-Konzeptionen haben, wie gesagt, den Vorteil, eine plausible Rechtfertigung für den hohen Stellenwert der Menschenwürde anzubieten. Zugleich haben sie aber auch eine fatale Schwäche: Sie schränken den Kreis der Würdenträger so ein, dass eine Vielzahl von Menschen nicht mehr darunter fallen. Sehr junge, psychisch schwer kranke, geistig stark behinderte sowie bewusstlose Menschen haben die entsprechende Fähigkeit nicht, sie können die erforderliche Leistung nicht erbringen, sind nicht

Stoecker R. Philosophie der Menschenwürde … Psychiat Prax 2014; 41, Supplement 1: S19–S25

Heruntergeladen von: NYU. Urheberrechtlich geschützt.

zu achten, als Verbot der Objektivierung des Menschen interpretierte.2 Die Philosophie hat hingegen kein Grundgesetz, das es zu interpretieren gilt. Insofern konnte sie die Provokation, die darin lag, dass nach mehr als 2000 Jahren der philosophischen Beschäftigung mit den normativen Grundlagen menschlichen Handelns und ihrer möglichen Basis in der menschlichen Natur Mitte des 20. Jahrhunderts 65 Parlamentarier an denkbar prominenter Stelle eine einfache Antwort verkündeten, zunächst weitgehend ignorieren. Wie brisant die Menschenwürde für die Philosophie ist, zeigte sich deshalb erst viel später, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, als sich in den Debatten in der Angewandten Ethik moralphilosophische und juristische Argumentationen zunehmend verschränkten. Besonders deutlich wurde dies in der Diskussion der moralischen Zulässigkeit von Präimplantationsdiagnostik und Stammzellforschung, die aus Sicht der Gegner dieser Technologien die Menschenwürde junger Embryonen bedrohten. Plötzlich sah sich die Moralphilosophie mit der Frage konfrontiert, was das denn ist, die Menschenwürde, und woran ihr Besitz gekoppelt ist. Die ersten Reaktionen vieler Moralphilosophinnen und -philosophen fielen allerdings skeptisch aus. Der verfassungsrechtlichen Prominenz zum Trotz wurde der Begriff der Menschenwürde häufig als wenig hilfreich erachtet, um die anstehenden ethischen Probleme zu lösen. Für diese philosophische Zurückhaltung gibt es auch eine Reihe von guten Gründen. Erstens hätte es durchaus auch geschehen können, dass der Ausdruck „Würde“ damals nicht in den genannten Dokumenten aufgetaucht wäre. Es gab verbreitete Zweifel an seiner Verwendung, beispielsweise bei der Formulierung von Art. 1 GG (vgl. [6]). Außerdem sind auch noch nach 1945 Deklarationen und Verfassungen entstanden, in denen die menschliche Würde nicht erwähnt wird, etwa die Europäische Menschenrechtskonvention oder die Verfassung Frankreichs. Zweitens kann man sich fragen, ob mit der Einführung der Menschenwürde in die juristischen Grundlagentexte tatsächlich etwas Neues in diese Texte gelangt ist, was ja zur Konsequenz hätte, dass eine zuvor bestehende Lücke geschlossen wurde. Verfassungen, die schon zuvor bestanden und auch nach 1945 die Menschenwürde nicht aufgenommen haben, müssten demnach als unvollständig erachtet werden, was beispielsweise mit Blick auf die Konstitutionen der USA, Großbritanniens, Kanadas alles andere als selbstverständlich ist. Drittens wird nicht selten der Verdacht geäußert, dass der Begriff der Menschenwürde religiös motiviert und deshalb in einer säkularen Ethik fehl am Platze sei. Viertens ist uns die Rede von „Würde“ heute deutlich weniger geläufig als noch Mitte des 20. Jahrhunderts. Das Wort scheint rettungslos veraltet und damit als zentrales Konzept der Ethik wenig geeignet zu sein. Fünftens ist aber auch dort, wo noch von „Würde“ die Rede ist, häufig Skepsis geboten. Die Behauptung, ein bestimmtes Verhalten oder bestimmte Umstände verletzten die Würde von Betroffenen, wird nicht selten als Totschlagargument verwendet, um eine (für sich gesehen vielleicht schwach begründete) moralische Überzeugung unangreifbar zu machen. Sechstens schließlich – und das ist philosophisch gesehen der wichtigste Grund, dem Menschenwürdebegriff skeptisch gegenüberzustehen – scheinen alle Versuche, diesem Begriff ein

vernünftig, können nicht autonom handeln. Also können sie der Leistungs-Konzeption zufolge auch keine Menschenwürde haben. Damit wird aber aus einem Begriff, der, wie sich gleich noch zeigen wird, besonders wichtig für den richtigen Umgang mit den schwachen und verletzlichen Mitgliedern der Gesellschaft ist, eine Auszeichnung für die Starken und Leistungsfähigen. Und das ist zumindest mit der universellen Menschenwürde, von der in den Rechtsdokumenten, etwa dem Grundgesetz, die Rede ist, nicht vereinbar. Aus ethischer Sicht führt der Menschenwürde-Begriff also in ein Dilemma. Versucht man, die Menschenwürde auf etwas Besonderes, Herausragendes zurückzuführen, das die Menschen vor dem Rest der Welt auszeichnet, dann läuft man Gefahr, einen Teil der Menschheit ebenfalls aus der Menschenwürde auszugrenzen. Akzeptiert man stattdessen den universellen Charakter der Menschenwürde, dann findet sich nichts, worauf sich diese Auszeichnung gründen ließe. Angesichts dieses Dilemmas und der anderen erwähnten Gründe, dem Menschenwürde-Begriff gegenüber skeptisch zu sein, ist es kein Wunder, wenn beispielsweise die amerikanische Bioethikerin Ruth Macklin schreibt: “appeals to dignity are either vague restatements of other, more precise, notions or mere slogans that add nothing to an understanding of the topic” [10]. Ein eigenständiges, attraktives Menschenwürdeverständnis scheint aus dieser Perspektive jedenfalls ausgeschlossen zu sein. Doch der Schein trügt. Ein erster Schritt zur Überwindung des Dilemmas besteht darin, sich vor Augen zu führen, dass der Rückgriff auf die menschliche Würde keineswegs nur in Verfassungen und Grundsatzerklärungen vorkommt, sondern auch eine wesentliche Rolle in alltäglichen moralischen Bewertungen spielt. Kindesmissbrauch, Vernachlässigung im Altersheim, Schikanen für Asylbewerber, Zwangsprostitution, Ausbeutung in der Textilindustrie, in diesen und vielen weiteren Zusammenhängen ist es uns sehr vertraut, von der Menschenwürde zu reden. Um das Dilemma der beiden unzureichenden Menschenwürde-Konzeptionen zu überwinden, ist es deshalb empfehlenswert, sich zunächst darauf zu besinnen, in welchen Bereichen der Rekurs auf die Menschenwürde für sinnvoll erachtet wird, um auf dieser Basis zu versuchen, induktiv ein philosophisch angemessenes Begriffsverständnis zu entwickeln.3 Dabei kann man ein Ergebnis dieser induktiven Vorgehensweise schon vorwegnehmen. Wie die genannten Beispiele zeigen, liegt der Wert der Rede über die Menschenwürde für uns primär darin, ihre Verletzung zu bemängeln. Wir formulieren mit dem Menschenwürdebegriff eine besondere Form der Missbilligung dessen, wie Menschen behandelt werden. Die Würde des Menschen interessiert uns also viel weniger als „eine Art zu leben“, wie es Peter Bieri im Titel seines gerade erschienenen Buches ausdrückt [11], denn als eine Art, nicht misshandelt zu werden. Um aber zu verstehen, um welche Formen der Misshandlung es geht, muss man die induktive Strategie ernst nehmen und sich die verschiedenen Bereiche anschauen, in denen von Menschenwürdeverletzungen die Rede ist.

Menschenwürde in der Geschichte der Psychiatrie !

An dieser Stelle kommt nun die Psychiatrie ins Spiel, denn Betrachtungen der Menschenwürde haben in der Geschichte der Psychiatrie eine lange Tradition, weshalb sie sich besonders gut 3

Vgl. dazu auch [2].

für die induktive Reflektion des Menschenwürdebegriffs eignet. Während andere medizinische Disziplinen ihr Entstehen gewöhnlich wissenschaftlichen Entdeckungen oder Erfindungen verdanken, wie zum Beispiel die Intensivmedizin der Erfindung der künstlichen Beatmung, hatte schon der Gründungsakt – oder vielleicht sollte man besser sagen: der Gründungsmythos [12] – der modernen Psychiatrie einen ethischen Hintergrund. Es war die sogenannte „Befreiung der Irren von ihren Ketten“ am 11.11.1793, also in den Tagen der Französischen Revolution, durch den französische Arzt und Leiter des Pariser Spitals Bicêtre, Phillipe Pinel. Anstatt die Bewohner des Spitals einzusperren und anzuketten, betrachteten Pinel und seine Kollegen sie als Kranke, denen man mit Wohlwollen und Zuwendung begegnen und die man womöglich heilen sollte. Pinel, so wird es immer wieder beschrieben, hat den psychisch Kranken ihre Menschenwürde wiedergegeben. Der Blick in die Geschichte der Psychiatrie offenbart allerdings noch weitere Elemente dessen, was wir mit der Würde des Menschen verbinden.4 Zum Unglück für die psychiatrischen Patienten erwies sich der moralische Aufschwung durch Pinel und seine Kollegen als nicht sehr robust und dauerhaft. Nach einer Phase, in der sich viele Psychiater (die Bezeichnung war eben erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts geprägt worden) darum mühten, die Lage der Patienten mit Wohlwollen und Zuwendung zu verbessern und sie womöglich zu heilen, verschlechterte sich die Situation in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zusehends: therapeutische Erfolge blieben aus, die Belegung der psychiatrischen Krankenhäuser wuchs immer weiter an und in der Medizin entstanden neue Ideen, von Erblichkeit, Degeneration und sozialer Eugenik, die dann in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts den Boden für eines der Jahrhundertverbrechen der Nazizeit bereiteten, die Ermordung von mehr als 100 000 Bewohnern von psychiatrischen Kliniken, Heil- und Pflegeanstalten in den sogenannten Euthanasie-Aktionen. Wenn Pinel den psychiatrischen Patienten ihre Menschenwürde gegeben hat, so ist sie ihnen spätestens in der Zeit zwischen 1933 und 1945 auf unvorstellbare Weise wieder geraubt worden. Nicht wenige der Gräuel, die nach 1945 dazu geführt haben, an die Würde des Menschen zu appellieren, ereigneten sich in der Psychiatrie. Allerdings führte der politische Neuanfang wie auch in anderen Bereichen Nachkriegsdeutschlands zunächst keineswegs zu einer schlagartigen Veränderung des Umgangs mit psychisch kranken Menschen. Sie wurden zwar nicht mehr ermordet, aber sie hungerten noch lange und wurden auch sonst unter primitiven Bedingungen verwahrt, untergebracht in riesigen Anstalten, bewacht von knappem und schlecht ausgebildetem Personal. Und auch in vielen anderen Ländern, die im 18. und frühen 19. Jahrhundert aufgebrochen waren, die Situation der psychisch Kranken zu verbessern, sah die Lage bis in die 1950er-Jahre nicht besser aus. Erst nach und nach, zuerst in England, dann in den USA, Frankreich, Italien und schließlich auch in Deutschland, wurden die Missstände in den psychiatrischen Kliniken erkannt, öffentlich gemacht, und es wurde zunehmend auf drastische Änderungen gedrängt, bis hin zur Forderung nach der Entlassung aller Patienten und der Schließung der Krankenhäuser. Und auch hier war in den Begründungen immer wieder die Rede von der Menschenwürde, so zum Beispiel im Abschlussbericht einer 1971 vom Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission über die Lage der Psychiatrie in Deutschland, wo auf die „elenden und men-

4

Zur Geschichte der Psychiatrie vgl. [13, 14].

Stoecker R. Philosophie der Menschenwürde … Psychiat Prax 2014; 41, Supplement 1: S19–S25

S21

Heruntergeladen von: NYU. Urheberrechtlich geschützt.

Originalarbeit

Originalarbeit

schenunwürdigen Lebensbedingungen“ in fast allen psychiatrischen Krankenhäusern hingewiesen wird [15]. Nicht zuletzt durch die Enquete-Kommission hat sich die Situation psychiatrischer Patienten in den letzten 30 Jahren allerdings auch drastisch verändert. Bevor ich aber auf die Rolle der Menschenwürde in der modernen Psychiatrie eingehe, möchte ich den Durchgang durch die Geschichte nutzen, um im Sinne der induktiven Strategie die verschiedenen Elemente des Menschenwürdeverständnisses herauszuarbeiten.

Konsequenzen für das Menschenwürdeverständnis !

Eine erste Antwort findet sich schon in dem Gründungsmythos der „Befreiung der Irren von ihren Ketten“: Pinel hat den Patienten ihre Würde wiedergegeben, weil er sie von der völligen Ohnmacht erlöst hat, in der sie bis dahin gelebt hatten. Ohnmächtig zu sein ist ein zentrales Element von Würdelosigkeit. Der israelische Philosoph Avishai Margalit, der mit seinem Buch Politik der Würde den wichtigsten Beitrag zur Menschenwürde-Diskussion der letzten Jahre geleistet hat, schreibt: „Ein wesentlicher Bestandteil der Demütigung ist, dass der Täter seinem Opfer das Gefühl totalen Ausgeliefertseins vermittelt“ [16]. Freiheit, könnte man im Umkehrschluss formulieren, ist ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Würde. Offenkundig waren auch die historisch späteren Verletzungen der Menschenwürde in der Psychiatrie mit Freiheitseinschränkungen verbunden, aber das, was an ihnen auszusetzen ist, ist nicht allein die Ohnmacht, in die die Patienten gezwungen wurden. In den Zeiten des Nationalsozialismus lag es in der vollständigen Bedeutungslosigkeit der Opfer. Schon 1920 hatten der Psychiater Alfred Hoche und der Jurist Karl Binding, beide renommierte Universitätsprofessoren, ein Buch mit dem Titel Die Freigabe lebensunwerten Lebens veröffentlicht, in dem sie die psychisch kranken und behinderten Menschen unter anderem als „leere Menschenhülsen“ und „Ballastexistenzen“ bezeichneten [17]. Sie waren nichts wert, nur eine Last. Dieses Verdikt völliger Bedeutungslosigkeit hatte für viele Patienten zur Folge, dass sie ermordet wurden. Als völlig bedeutungslos zu gelten verletzt aber nicht nur dann die Menschenwürde, wenn es das Leben bedroht. Peter Schaber hat in seinen neueren Arbeiten zur Menschenwürde erläutert, wie entwürdigend es grundsätzlich ist, nicht zu zählen, sozusagen Luft für die Entscheidung des anderen zu sein, allenfalls ein Hindernis oder eine Last [18]. Und Margalit hat diese Arten der Entwürdigung mit dem historischen Beispiel illustriert, dass es in vielen Adelsgesellschaften üblich war, Dienstboten so vollständig zu übersehen, dass sich die Herrschaften in deren Gegenwart keinerlei Beschränkungen auferlegten. Ob ein Diener oder eine Magd anwesend war, zählte einfach nicht. Diese Form der „Menschenblindheit“, wie Margalit sie nennt, ist offenkundig ebenfalls extrem entwürdigend. Das ist ein weiterer Gesichtspunkt dessen, was wir mit Würde verbinden: als Subjekt und nicht bloß als Objekt wahrgenommen zu werden. Das Instrumentalisierungsverbot aus der schon erwähnten Objektformel zur juristischen Interpretation von Art. 1 GG findet hier ihre Bestätigung. Es ist in der Literatur wiederholt darauf hingewiesen worden, dass es keineswegs immer verwerflich ist, sich andere Menschen zunutze zu machen, im Gegenteil, das gehört zu unserem alltäglichen Zusammenleben. Verwerflich ist es aber, sich jemanden so zunutze zu machen, dass dieser aufhört, für uns ein menschliches Gegenüber zu sein. (Er wäre dann in

der Formulierung Kants „ein bloßes Mittel“ und „nicht auch ein Zweck“.) Macht über sich selbst zu haben und in den Augen der anderen zu zählen reicht für die Würde eines Menschen allerdings immer noch nicht aus. Darauf hat in den 1950er- und 1960er-Jahren im Kontext der Psychiatrie der amerikanische Soziologe Erving Goffman aufmerksam gemacht. Goffman, der eine Zeit lang in einem großen amerikanischen psychiatrischen Krankenhaus geforscht hat, beschreibt diese Krankenhäuser in seinem Buch Asyle als „totale Institutionen“, vergleichbar Gefängnissen oder Klöstern. Kennzeichnend für totale Institutionen sei es aber, dass jeder, der in eine solche Institution eintritt, „eine Reihe von Erniedrigungen, Degradierungen, Demütigungen und Entwürdigungen seines Ich“ durchläuft [19]. Der Neuling muss sein Habe abgeben, seine zivile Kleidung gegen eine Uniform eintauschen, er muss sich einer strikten Anstaltsordnung unterwerfen sowie der damit verknüpften Hierarchie von Aufsichtspersonen und Wärtern und verliert vor allen Dingen die Sicherheit der vertrauten, bürgerlichen Höflichkeits- und Umgangsformen. Kurz, der Patient erleidet seinen „bürgerlichen Tod“ (ebenda 26). Worauf Goffman aufmerksam macht ist, wie stark die Würde eines Menschen an das geknüpft ist, was man manchmal seine kontingente, soziale Würde nennt, die daran geknüpft ist, dass er in einem sozialen Umfeld lebt, in dem er eine individuelle Identität hat, die er bewahren und weiterentwickeln kann. Goffman hat aber auch noch ein anderes ethisches Problem für psychisch kranke Menschen angesprochen, das eng mit der Entwürdigung in den totalen Institutionen zusammenhängt und bis heute virulent ist: die Gefahr der Stigmatisierung [20]. Stigmata sind Attribute eines Menschen, die geeignet sind, diesen gegenüber anderen Menschen zu diskreditieren. Es sind Anzeichen, an die eine bestimmte negative Erwartung gegenüber der stigmatisierten Person geknüpft ist, auch wenn diese sie nicht verdient. Sie haben zur Folge, dass die betroffene Person besonders große Mühe hat, eine für sie lebenswerte, individuelle Identität aufzubauen. Typische Beispiele sind körperliche Gebrechen, die sichtbare Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, sexuelle Vorlieben, aber auch manche Krankheiten, insbesondere psychische Krankheiten. Wie beispielsweise der Tod des Fußballtorwarts Robert Enke vor ein paar Jahren gezeigt hat, müssen Menschen mit psychischen Krankheiten heute immer noch befürchten, abgestempelt und aussortiert zu werden, wenn ihre Krankheit an die Öffentlichkeit dringt. Das Stigma wird so zur „zweiten Krankheit“ neben der eigentlichen Krankheit. Der historische Überblick hat eine Reihe von Umständen aufgedeckt, die den Vorwurf der Menschenwürdeverletzung begründen können: massive Freiheitseinschränkungen, die Aberkennung von Bedeutung (im Extrem bis hin zur Vernichtung), Beleidigung, Erniedrigungen und Stigmatisierungen. Der induktiven Strategie folgend stellt sich nun die Frage, auf welche gemeinsame Konzeption der Menschenwürde diese Ergebnisse hindeuten. Was man relativ schnell feststellen kann ist, dass die beiden schon genannten Konzeptionen, die Mitgift-Konzeption und die Leistungs-Konzeption, diesen Ergebnissen nur begrenzt Rechnung tragen können. Aus Sicht der Mitgift-Konzeption kann man zwar erklären, warum es eine Missachtung der Menschenwürde ist, wenn man als bedeutungslos behandelt wird – schließlich ist man als bedeutend auf die Welt gekommen –, aber es bleibt völlig offen, weshalb Freiheitsberaubung würdeverletzend ist. Umgekehrt kann die Leistungs-Konzeption, die die Würde aus der Handlungsfähigkeit ableitet, gut erklären, warum Einschränkungen der Freiheit die Würde verletzen, haben

Stoecker R. Philosophie der Menschenwürde … Psychiat Prax 2014; 41, Supplement 1: S19–S25

Heruntergeladen von: NYU. Urheberrechtlich geschützt.

S22

Originalarbeit

auch zugleich Würdenträger sind, ist jeder Akt der Entwürdigung oder Erniedrigung moralisch fragwürdig. Wir brauchen deshalb erstens gute Gründe, die individuelle Würde eines anderen Menschen nicht zu respektieren. Prima facie dürfen wir einander nicht entwürdigen. Weil wir alle Würdenträger sind, gibt es außerdem zweitens prinzipielle Grenzen legitimer Entwürdigung. Einen Menschen so zu behandeln, dass ihm kein Raum mehr für eine individuelle Darstellungsleistung bleibt, läuft darauf hinaus, ihn aus der Menschengemeinschaft auszuschließen. Eine solche Behandlung kann man als Menschenwürdeverletzung in einem engeren, empathischen Sinn bezeichnen. Sie ist immer verboten. Drittens schließlich, reicht es nicht aus, die Würde der anderen Menschen nicht zu beeinträchtigen. Aus dem Wert, den unsere Würde für unser sozial konstituiertes Menschsein hat, folgt, dass wir unter bestimmten Umständen auch aktiv etwas dafür tun müssen, dass ein Mensch seine Würde bewahrt. Gerade in der angewandten Ethik finden sich viele derartige Situationen, gegenüber Kleinkindern, gegenüber alten Menschen und nicht zuletzt gegenüber psychisch Kranken. Im letzten Teil meines Beitrags möchte ich skizzieren, welche Konsequenzen dieses Menschenwürdeverständnis für die psychiatrische Ethik hat.

Konsequenzen für Klinik und Praxis !

Ein zentrales Element der Menschenwürde liegt, wie gesagt, in der Freiheit des Menschen, entsprechend bedrohlich für die Menschenwürde sind Freiheitseinschränkungen. So ist es kein Wunder, dass die Menschenwürde häufig im Kontext von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie thematisiert wird.5 Solche Maßnahmen können in der Regel zwei Zwecken dienen, entweder der therapeutischen Behandlung der betroffenen Patienten oder der Gefahrenabwehr für die Patienten selbst wie auch für Dritte. Wenn Zwangsmaßnahmen therapeutischen Zwecken dienen, stellen sie nicht nur eine potenzielle Bedrohung für die Patientenwürde dar, sondern stehen auch im Widerspruch zum Grundsatz der Patientenautonomie, der in den letzten Jahrzehnten das traditionelle, paternalistische Verständnis der Arzt-Patienten-Beziehung abgelöst hat (wobei offen bleiben kann, ob sich dieser Grundsatz wiederum aus der Menschenwürde herleiten ließe). Inwiefern Zwangsbehandlungen trotzdem gerechtfertigt sein können, hängt davon ab, wie stark sie in die individuelle Würde der Patienten eingreifen und was alternativ auf dem Spiel steht. Das ist natürlich stark kontextabhängig, für die Praxis lassen sich aber drei Leitideen formulieren. Erstens ist es für den Respekt vor der Menschenwürde wichtig, den Menschen als Ganzes, als zeitlich ausgedehnte Persönlichkeit, in den Blick zu nehmen und nicht nur als Betroffenen in einer bestimmten Situation. Für die Beurteilung von Zwangsbehandlungen bedeutet dies, dass sie auch davon abhängen, wie sie in den gesamten Behandlungskontext eingebettet sind, insbesondere ob es Versuche gegeben hat, durch prophylaktische Abmachungen (Behandlungsvereinbarungen) und durch entsprechende Nachbesprechungen den Zwang so in die Identität der Patienten zu integrieren, dass diese möglichst wenig beschädigt wird. Ein temporärer Zwang bildet einen deutlich geringeren Kontrollverlust, wenn er vorgesehen und vorgeplant ist, denn dann ist die temporäre Ohnmacht Teil einer zeitübergreifenden Selbstbestimmung.

5

Vgl. zum Folgenden auch [22 – 25].

Stoecker R. Philosophie der Menschenwürde … Psychiat Prax 2014; 41, Supplement 1: S19–S25

Heruntergeladen von: NYU. Urheberrechtlich geschützt.

dafür aber keine Erklärung für das Würdeverletzende geringschätziger Behandlung. Und aus beiden Perspektiven bleibt unverständlich, was Beleidigungen und Erniedrigungen, kurz: Verletzungen der sozialen Würde, mit der Menschenwürde zu tun haben. Der Hinweis auf die soziale Würde bietet nach meiner Überzeugung allerdings auch den Schlüssel zur Überwindung des Dilemmas. Allen aufgeführten Menschenwürdeverletzungen ist es gemeinsam, dass sie Angriffe auf die soziale Identität der betroffenen Patienten darstellen. Eine philosophisch attraktive Rekonstruktion unseres Begriffs der Menschenwürde sollte die Menschenwürde weder als transzendente Mitgift verstehen noch als Prämie für unsere Leistungsfähigkeit. Das Gebot, die Würde des Menschen zu achten, sollte vielmehr als Reaktion auf die soziale Zugehörigkeit des Menschen zu einer Gesellschaft verstanden werden. Auf diese Weise hat der Soziologe Niklas Luhmann in seiner soziologischen Herleitung der Grundrechtsartikel des Grundgesetzes die Menschenwürde erläutert. Luhmann schreibt: „Würde ist die gelungene Selbstdarstellung einer Person […] Gerade wegen ihrer Exponiertheit ist sie eine der wichtigsten Schutzgegenstände unserer Verfassung. Dass sie zahlreiche Sicherungen benötigt, in gewissem Umfange mit rationalen Mitteln geschaffen und erhalten werden kann, und dass sie sogar von manchen kulturellen Requisiten, z. B. von Kleidung, abhängt, sollte Anlass sein, nicht geringer, sondern höher von ihr zu denken. Denn Selbstdarstellung ist jener Vorgang, der den Menschen in Kommunikation mit anderen zur Person werden lässt und ihn damit in seiner Menschlichkeit konstituiert.“ [21] Die moderne Gesellschaft hat Luhmann zufolge neben die traditionellen sozialen Rollen und die entsprechenden Würden eine weitere Rolle gestellt, die Rolle als individuelle Persönlichkeit. Wie jede andere Rolle/Würde ist auch die der individuellen Persönlichkeit mit bestimmten Verpflichtungen der Rolleninhaber wie auch der mit ihnen interagierenden Menschen verbunden. Nur wenn diese Verpflichtungen im Großen und Ganzen eingehalten werden, gelingt die Rollendarstellung dieser individuellen Person. Erniedrigende, beleidigende, demütigende, entwürdigende Behandlungen, wozu eben gerade auch die Beschränkung der Freiheit und die völlige Geringschätzung und Entwertung gehören, gefährden diese Darstellung. Wendet man diese soziologische Analyse moralphilosophisch, dann entsteht das Bild der Menschenwürde als Anspruch darauf, in der Konstitution und Aufrechterhaltung der eigenen Identität nicht behindert, insbesondere nicht erniedrigt und gedemütigt zu werden, sondern stattdessen unter Umständen sogar darin unterstützt zu werden. Jemanden verächtlich zu machen ist prima facie moralisch falsch, jemandem zu helfen, das Gesicht zu wahren, richtig. Das Gebot, die Würde eines Menschen zu achten, basiert also auf der Voraussetzung, dass Menschen soziale Wesen sind, was impliziert, dass sie eine Identität haben, mit der bestimmte Rollenerwartungen verknüpft sind, sowohl an den Würdenträger selbst wie auch an andere ihm gegenüber. Die Gestaltung dieser Identität ist der Gegenstand der Selbstachtung. Traditionell war die Identität an eine bestimmte vorgegebene soziale Rolle gebunden. Diese vorgegebene Rolle hat sich in der Moderne zunehmend in eine individuelle Identität verwandelt, die der Einzelne zu wahren hat, die aber vor allem von anderen Menschen respektiert werden muss. Das heißt, die Würde des Einzelnen ist zwar antastbar, wir können unser Gesicht verlieren oder an Statur gewinnen, respektiert oder gedemütigt werden. Weil wir aber als soziale Wesen immer

S23

S24

Originalarbeit

6

„Viel öfter als in Zwangsszenen ergeben sich psychiatrische Würdefragen in dem spezifischen Kontakt im normalen Behandlungsalltag zwischen psychisch kranken Menschen und ihren Therapeuten. Die Art, wie mit oder über die anvertrauten Patienten gesprochen wird, kann Würde verletzend sein, ohne dass der Behandler auch nur eine Ahnung von seiner Übergriffigkeit hat.“ [23].

genhöhe begegnen müsse, so wichtig ist es doch, sich im Alltag daran zu erinnern, vor allem dann, wenn sich die beteiligten Personen faktisch in einer ganz unterschiedlichen Lage befinden – schwach vs. stark, krank vs. gesund, existenziell betroffen vs. routiniert bei der Arbeit sind.

Fazit !

Wenn man im Kontext der Psychiatrie das Wort „Menschenwürdeverletzungen“ hört, dann denkt man schnell an Irrenhäuser und Naziverbrechen, also an psychiatrische Verhältnisse aus einer finsteren Vergangenheit.7 Angesichts dessen klingt das Gebot, in der Psychiatrie die Menschenwürde zu achten, ebenso selbstverständlich wie praktisch irrelevant. Niemand erwägt ernsthaft, zu diesen Zuständen zurückzukehren. Doch die Pflicht, die Würde des Menschen zu achten, beschränkt sich nicht auf das Verbot derartiger, paradigmatischer Menschenwürdeverletzungen. Sie bezieht sich auch auf den alltäglichen Umgang mit der individuellen sozialen Würde des Menschen, darauf, die Patienten nicht zu erniedrigen, zu kränken, bloßzustellen, sondern ihnen unter Umständen sogar dabei beizustehen, ihr Gesicht zu wahren, ihre Identität aufrechtzuerhalten und zu entwickeln. Es gibt viele Bereiche, in denen wir derartige Verpflichtungen haben, aber nur wenige, in denen sie so große, existenzielle Bedeutung hat, wie die Psychiatrie.8

Interessenkonflikt !

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Abstract

Philosophy of Human Dignity and the Ethics of Psychiatry !

Current moral philosophy has serious problems with the concept of human dignity. Although it seems to be an almost inevitable ingredient of every day moral judgments, philosophers have difficulties to find an analysis of the concept that could support this central role. One way out of these difficulties consists in a closer look at the various areas where the concept is used so widely and naturally, in the attempt to extract inductively an adequate understanding of human dignity from these contexts. In the article, this strategy is used to glean features of human dignity from the history of psychiatry, condense them into a plausible understanding of human dignity and finally sketch some practical implications for modern psychiatric ethics.

7

In anderen Ländern ist diese Vergangenheit noch Realität, beispielsweise in der Instrumentalisierung der Psychiatrie zur Einschüchterung von Dissidenten in Russland (http://www.amnesty.org/en/news/russia-abhorrentuse-punitive-psychiatry-silence-dissent-2013-10-08, 13.1.14).

8

Der Artikel ist aus einem Vortrag entstanden, den ich auf dem ersten nationalen Kongress „Ethik in der Psychiatrie“ vom 17. – 18.10.2013 in Magdeburg gehalten habe. Den Veranstaltern, Wolfgang Jordan und Friedrich Leidinger, möchte ich herzlich für die Organisation der Veranstaltung und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern für die lebhafte und lehrreiche Diskussion danken.

Stoecker R. Philosophie der Menschenwürde … Psychiat Prax 2014; 41, Supplement 1: S19–S25

Heruntergeladen von: NYU. Urheberrechtlich geschützt.

Auch die zweite Leitidee basiert auf der Feststellung, dass Zwangsmaßnahmen die Würde eines Betroffenen je nach den Umständen unterschiedlich stark bedrohen können. Würdeverletzungen haben, wie schon gesagt, einen großen expressiven Anteil. Es ist erniedrigend, vor anderen Menschen bloßgestellt zu werden, das Gesicht zu verlieren. Grundsätzlich hat jede Zwangsbehandlung solche expressiv entwürdigenden Anteile, diese können aber unterschiedlich stark ausfallen. Deshalb ist es so wichtig, den Grad der Entwürdigung durch die Art und Weise, wie die Zwangsmaßnahme durchgeführt wird, zu minimieren. Dazu gehört beispielsweise, Öffentlichkeit zu vermeiden, damit es zu keiner Bloßstellung vor anderen Patienten oder unbeteiligtem medizinischen Personal kommt, und in der Anrede, im Tonfall, in allen Begleitumständen deutlich zu machen, dass die unvermeidlich übergriffige Maßnahme in ein normales, erwachsenes, respektvolles, zwischenmenschliches Verhältnis eingebettet ist und also gerade nicht Ausdruck einer grundsätzlichen Geringschätzung durch die Behandler ist. So einleuchtend diese Empfehlungen klingen, so sind sie in den häufig hektischen, gewaltsamen Krisensituationen, in denen Zwangsmaßnahmen durchgeführt werden, nicht leicht umzusetzen. Das führt zu der dritten Leitidee, was es bedeutet, in derartigen Situationen das Gebot, die Würde der Patienten zu achten, umzusetzen. Es bedeutet nicht nur eine Verpflichtung für die betreffende, konkrete Behandlungssituation, sondern bringt auch übergreifende, institutionelle Pflichten mit sich: Behandlungen so anzulegen, dass solche Krisensituationen möglichst vermieden werden, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so zu instruieren und zu trainieren, dass sie wissen, wie sie bei aller Hektik und Gewalt die Würde der Patienten bewahren können, und nicht zuletzt, hinreichend viel Personal für Kriseninterventionen bereitzustellen, um einen derartigen respektvollen Einsatz auch faktisch zu ermöglichen. Zwangsbehandlungen spielen, wie gesagt, eine wichtige Rolle, wenn man die Menschenwürde in der psychiatrischen Ethik thematisiert, es gibt daneben in der Psychiatrie aber auch noch weitere Bedrohungen der Patientenwürde. Schon erwähnt wurde die Gefahr der Stigmatisierung. Stigmata bedrohen die Würde der Patienten, weil das Stigma, psychisch krank zu sein, mit den meisten Identitäten nur schwer vereinbar ist. Stigmatisierungstendenzen gehen allerdings heutzutage weniger von der Psychiatrie selbst aus, als vielmehr von dem Umgang mit dem Thema psychischer Krankheit durch die Öffentlichkeit, beispielsweise durch die Medien, durch Arbeitgeber, durch Politiker. Aber auch ganz alltägliche Behandlungssituationen in der Psychiatrie können die Patientenwürde bedrohen.6 Weil die Würde, wie ausgeführt, eng mit der individuellen Identität des Menschen zusammenhängt, sind alle Verhaltensweisen, die einen Menschen nicht in seiner Ganzheit sehen, sondern auf einen „Fall“ reduzieren, tendenziell würdeverletzend. Dasselbe gilt für die vielfältigen Weisen, in denen man im Umgang auf der Station ein hierarchisches Gefälle zwischen Behandlern und Patienten herstellen kann (beispielsweise durch das Tragen von Kitteln, Duzen, Unaufrichtigkeiten, Missachtungen der Privatsphäre). So abgedroschen der Slogan auch sein mag, dass man einander auf Au-

Literatur 1 Stoecker R. Die Pflicht, dem Menschen seine Würde zu erhalten. Z Menschenrechte 2010; 1: 98 – 117 2 Stoecker R. Three Crucial Turns on the Road to an Adequate Understanding of Human Dignity. In: Kaufmann P, Kuch H, Neuhäuser C, Webster E, eds. Violations of Human Dignity. Dordrecht: Springer; 2010: 7 – 19 3 Stoecker R. Menschenwürde und Psychiatrie. In: Joerden JC, Hilgendorf E, Thiele F, Hrsg. Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch. 1. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot; 2013: 571 – 590 4 Stoecker R, Neuhäuser C. Erläuterungen der Menschenwürde aus ihrem Würdecharakter. In: Joerden JC, Hilgendorf E, Thiele F, Hrsg. Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch. 1. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot; 2013: 37 – 72 5 Tiedemann P. Menschenwürde als Rechtsbegriff. Eine philosophische Klärung. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag; 2007 6 Vögele W. Menschenwürde zwischen Recht und Theologie. Gütersloh: Chr. Kaiser; 2000 7 Spaemann R. Über den Begriff der Menschenwürde. Das Natürliche und das Vernünftige. München: Piper; 1987 8 Cicero MT. Von den Pflichten. Frankfurt am Main [u. a.]: Insel-Verlag; 1991 9 Kant I. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 3. Aufl. Hamburg: Meiner; 1965 10 Macklin R. Dignity is a useless concept. BMJ 2003; 327: 1419 – 1420 11 Bieri P. Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde. 1. Aufl. München: Carl Hanser Verlag; 2013 12 Pichot P. Zum „Mythos Pinel“. In: Pöldinger W, Wagner W, Hrsg. Ethik in der Psychiatrie. Berlin, Heidelberg, New York: Springer-Verlag; 1991: 1 – 5

13 Schott H, Tölle R. Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen // Krankheitslehren Irrwege Behandlungsformen. München: Beck; 2006 14 Shorter E. Geschichte der Psychiatrie. Reinbek bei Hamburg: RowohltTaschenbuch-Verlag; 2003 15 Sachverständigenkommission zur Erarbeitung eines Berichts über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland. Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn: 1975 16 Margalit A. Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag; 1999 17 Binding K, Hoche A. Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form. 2. Aufl. Leipzig: Meiner; 1922 18 Schaber P. Menschenwürde. Grundwissen Philosophie. Ditzingen: Reclam, Philipp; 2012 19 Goffman E. Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main: Suhrkamp; 1972 20 Goffman E. Stigma; notes on the management of spoiled identity. Englewood Cliffs, N. J.: Prentice-Hall; 1963 21 Luhmann N. Grundrechte als Institution. Berlin: Duncker & Humblot; 1965 22 Steinert T. Umgang mit Gewalt in der Psychiatrie. 1. Aufl. Bonn: Psychiatrie-Verlag; 2008 23 Koch-Stoecker S. Menschenwürde und Psychiatrie. Annäherung an das Thema aus der psychiatrischen Praxis. In: Joerden JC, Hrsg. Menschenwürde in der Medizin: Quo vadis? 1. Aufl. Baden-Baden: Nomos; 2012: 133 – 146 24 Spengler A, Koller M. Zwingend ohne Zwang. Psychiat Prax 2012; 39: 313 – 315 25 Steinert T, Kallert TW. Medikamentöse Zwangsbehandlung in der Psychiatrie. Psychiat Prax 2006; 33: 160 – 169

Stoecker R. Philosophie der Menschenwürde … Psychiat Prax 2014; 41, Supplement 1: S19–S25

S25

Heruntergeladen von: NYU. Urheberrechtlich geschützt.

Originalarbeit

[Philosophy of human dignity and the ethics of psychiatry].

Current moral philosophy has serious problems with the concept of human dignity. Although it seems to be an almost inevitable ingredient of every day ...
107KB Sizes 4 Downloads 3 Views