Leitthema Nervenarzt 2015 · 86:692–700 DOI 10.1007/s00115-014-4226-0 Online publiziert: 30. Mai 2015 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

W. Wick1 · P. Hau2 1 Abteilung Neuroonkologie, Neurologische Klinik und Nationales Zentrum

für Tumorerkrankungen, Universitätsklinikum Heidelberg 2 Wilhelm Sander-Therapieeinheit NeuroOnkologie und Klinik und

Poliklinik für Neurologie, Universitätsklinikum Regensburg

Personalisierte Gliomtherapie Maligne Gliome sind genetisch heterogen [15]. Diese genetische Heterogenität ist molekular fassbar und korreliert mit einer unterschiedlichen Prognose [16]. Analysen auf verschiedenen molekularen Ebenen führen zu einer zunehmenden Untergruppierung früher einheitlicher Diagnosen wie des Glioblastoms [9] und zu Vorhersagen möglicher Ansatzpunkte für Therapiestrategien. Studien mit molekularen Ansatzpunkten sind jedoch, oft aufgrund zu geringer Vorkenntnisse zu den Zielmolekülen oder eines unzureichenden Studiendesigns, bisher gescheitert. Im Gegensatz zu anderen soliden Tumoren ist die Entwicklung personalisierter oder Präzisionstherapien bei diesen Tumoren also noch nicht weit fortgeschritten. In jüngster Zeit nimmt die Entwicklung hin zu einer zunehmend personalisierten Therapie, die sich im besten Fall auf in Studien gut abgesicherte Marker zur Risikostratifizierung, Auswahl geeigneter Therapieverfahren und Evaluation von Therapieansprechen stützen kann, jedoch zunehmend an Fahrt auf. Bereits seit einiger Zeit werden auf Basis abgeschlossener klinischer Studien zumindest in zwei Situationen, nämlich bei älteren Patienten mit Glioblastomen [14, 23, 24] und bei Patienten mit 1p/19q kodeletierten (1p/19q codel) anaplastischen Gliomen [3, 20, 21], genetische Marker zur Therapiesteuerung (personalisierte oder Präzionstherapie) eingesetzt. Weiterhin zeichnet sich eine Therapiestratifizierung auch bei Patienten mit niedrig malignen (WHO-Grad II) Glio-

692 | 

Der Nervenarzt 6 · 2015

men ab, wobei zudem der Unterschied zwischen den verschiedenen Gradierungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Auflösung begriffen ist und zunehmend biologisch basierte Klassifizierungen, bei denen der Grad eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint, diskutiert werden [26, 27]. Andererseits werden in zunehmendem Maße molekulare Zielstrukturen definiert, die therapeutisch direkt adressierbar sind. Erste bildgebende Biomarker erlauben eine frühzeitige Therapieevaluation und lassen auf Strategien zur frühzeitigen Umstellung nicht wirksamer Therapien hoffen. Allerdings sind viele der in präklinischen Studien, nicht kontrollierten klinischen Studien oder retrospektiven Analysen evaluierten Verfahren bisher nicht endgültig in der klinischen Praxis angekommen. Der vorliegende Artikel versucht, die aktuelle Entwicklung kritisch zu werten und vielversprechende Strategien hin zu einer personalisierten Therapie zu skizzieren.

Biomarker sind in der Krebstherapie angekommen Bei der Besprechung therapiestratifizierender Biomarker muss unterschieden werden zwischen: F molekularen Markern, die die Prognose voraussagen und meist klassische Therapien steuern können, ohne selbst Ziel dieser Therapien zu sein, und F Markern, die den Einsatz von Therapien wie z. B. „small molecule inhibitors“ oder Antikörpern steuern sollen und häufig selbst Ziel der Therapie sind.

F Außerdem können Biomarker, meist als Serum- oder bildgebende Marker, Therapieansprechen frühzeitig evaluieren. Das klassische Beispiel für einen Marker, der genetische Klassifizierung und zugleich eine molekulare Therapie erlaubt, ist die Translokation bcl/abl (Philadelphia-Chromosom) bei der chronischmyeloischen Leukämie, die durch konstitutionelle Aktivität einer Proteinkinase zu ungehemmter Zellteilung führt. Imatinib (Glivec®) ist der entsprechende „small molecule inhibitor“, der durch Anlagerung am aktiven Zentrum der Kinase zu einem Proliferationsstopp mit hoher Kurationsrate führt [5]. Weitere Biomarker sind in der Steuerung molekularer Therapien beim nicht kleinzelligen Bronchialkarzinom (EGFR, c-kit), beim Melanom (BRAF) und beim Mammakarzinom (HER2-neu) etabliert. Weiterhin werden molekulare Therapien gegen gut abgesicherte Zielstrukturen ohne vorherige Biomarkerbestimmung therapeutisch erfolgreich eingesetzt (Antikörper gegen PDL-1 und CTLA-4 beim malignen Melanom), obschon bisher bei letzteren der Wert der Expression des Zielmoleküls nicht vollständig klar ist. Bei malignen Gliomen sind bisher Erkenntnisse zu molekularen therapiestratifizierenden Biomarkern (Methylierung des MGMT-Promoters, 1p/19q codel) bei einigen Gliomsubgruppen (ältere Patienten mit Glioblastom, Patienten mit vor allem oligodendroglialen Tumoren) auch gemäß der Leitlinie in die klinische Praxis umgesetzt. Molekulare Therapien gegen

Zusammenfassung · Summary definierte Zielstrukturen und die Entwicklung von Biomarkern zum Therapieansprechen befinden sich noch in der klinischen Entwicklung. Zahlreiche Studien gegen molekulare Zielstrukturen sind, teils aufgrund unzureichenden Studiendesigns, teils aufgrund eines noch nicht vollständigen Verständnisses der zugrunde liegenden pathophysiologischen Mechanismen, in der Vergangenheit gescheitert. Diese Misserfolge haben zwischenzeitlich zu einer hoffentlich besseren Implementierung molekularer Erkenntnisse in personalisierte Therapieansätze geführt. Aktuelle Programme wie SPECTAbrain der EORTC, in welchem eine molekulare Charakterisierung von Hirntumorproben mit dem Ziel der Etablierung von Studien für molekulare Subgruppen geplant ist, inkorporieren diese molekulare Informationen und lassen daher für die betroffenen Patienten relevante Erkenntnisse erwarten.

Neue Klassifizierungskriterien verbessern die Einteilung von Gliomen In letzter Zeit ist klar geworden, dass eine Klassifizierung der Gliome nur auf Basis histologischer und immunhistochemischer Kriterien nicht ausreichend ist. Beispiele hierfür sind der wohl deutlich geringere als bisher vermutete Wert der Gradierung der Gliome im Vergleich zu einer biologisch basierten Einteilung [26, 27], die Verbesserung der diagnostischen Korrektheit bei der Differenzialdiagnose aller Hirntumoren durch den Einsatz epigenetischer Klassifikatoren und die prinzipiell therapeutische Relevanz der 1p/19q codel oder der Methylierung des MGMT-Promotors [21]. Zudem sollen auch wichtige prognostische oder entitätendefinierende molekulare Parameter wie z. B. ATRX [28] oder hTERT [13] intergiert werden. Die neue WHO-Klassifikation wird daher sehr wahrscheinlich abgesicherte molekular basierte Kriterien stärker integrieren und vermutlich mehrere Stufen an diagnostischer Sicherheit formulieren, die Diagnosen auch unter den Bedingungen nicht vorhandener molekularer Ergebnisse – dann aber mit deutlich geringerer Diagnosesicherheit – erlauben. Auf Basis dieser Klassifikation sollte dann

694 | 

Der Nervenarzt 6 · 2015

Nervenarzt 2015 · 86:692–700  DOI 10.1007/s00115-014-4226-0 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 W. Wick · P. Hau

Personalisierte Gliomtherapie Zusammenfassung Aktuell bei Patienten mit Gliomen eingesetzte Therapien beginnen molekulare Faktoren einzubeziehen, sind aber weiterhin wenig individualisiert. Übernommen in die klinische Anwendung und Leitlinien sind bisher in erster Linie genetische und molekulare Marker zur Diagnose bzw. Klassifikation der Gliome und genetische Marker zur Prognoseabschätzung. Die Methylierung des Promoters der O6-Methyl-Guanin-Methyl-Transferase(MGMT) und die Kodeletion von 1p und 19q (1p/19q codel) wurden als Merkmale zur Therapiestratifizierung, d. h. als prädiktive Faktoren, weiterentwickelt und molekulare Marker wie die trunkierte, aber autoaktive Form des Epidermal-growth-factor-Rezeptors (EGFRvIII) und die R132H-Mutation der Isozitratdehydrogenase-1 (IDH-1) in bereits laufenden immuntherapeutischen Studien zur Entwicklung zielgerichteter Therapien eingesetzt. Die Integration funktioneller bildgebender Verfahren in das Therapiemonitoring sowie die Ent-

wicklung standardisierter Bewertungskriterien verbessern zunehmend die Möglichkeiten, bildgebende Biomarker zur Therapiesteuerung einzusetzen. Auswirkungen dieser Entwicklungen sind bereits jetzt in einer spürbar besseren Prognosestratifizierung von Patienten mit Gliomen sowie – bei erhaltener Lebensqualität – in deutlichen Gewinnen an Überlebenszeit in einigen Gliomsubgruppen zu spüren. Bei einer ähnlich dynamischen Weiterentwicklung ist in Kürze eine allgemein akzeptierte deutlich differenziertere Klassifikation der Gliome anhand molekularer Kriterien zu erwarten, die eine rationale personalisierte Therapiesteuerung mit früher Evaluation des Ansprechens deutlich vereinfachen wird. Schlüsselwörter Glioblastom · Anaplastisches Gliom ·   Präzisionsonkologie · Therapiestratifizierung · Biomarker

Personalized therapy for gliomas Summary Current therapies for patients with malignant gliomas are starting to integrate molecular factors and age. Nonetheless, these therapies are still not sufficiently individualized. Some positive examples of transfer from basic science to clinical application are currently integrated into the standard treatment and guidelines. These are mainly genetic and other molecular factors that improve diagnosis and classification of gliomas and markers supporting prognostication. Examples for predictive biomarkers are methylation of the O-6-methylguanine-DNA methyltransferase (MGMT) promoter and the codeletion of chromosome arms 1p and 19q (1p/19q codel). The autoactive, truncated form of epidermal growth factor receptor (EGFRvIII) and the R132H mutation of isocitrate dehydrogenase 1 (IDH-1) are used as targets in currently running immunotherapeutic, targeted trials.

die Therapiestratifizierung von Patienten, zumindest wenn sie auf genetischen Markern basiert, deutlich einfacher werden (. Abb. 1).

Integration of functional imaging parameters into the monitoring and development of uniform assessment criteria improve the ability to evaluate therapy response and implement imaging biomarkers to guide therapies. As a result of the current efforts there are better classified prognostic groups and improved survival times with maintained functional and quality of life parameters in some glioma subgroups. Given the current dynamics, an improved, better differentiated classification of brain tumors including molecular parameters as well as more rational precise guiding of therapies with early, uniform response assessment is expected in the near future. Keywords Glioblastoma · Anaplastic glioma · Precision oncology · Stratification · Biomarker

Molekulare Plattformen verbessern die Klassifizierung von Tumoren Bisher werden genetische Marker meist mit Einzelanalysen bestimmt, die in aller Regel wenig standardisiert, teuer und nicht breit verfügbar sind. Beispielsweise

Postoperative Gliome IDH-1/2 / G-CIMP Nicht mutiert / CIMP neg

Mutiert / CIMP pos. MAPK alt. WHO Grad I

WHO Grad II/III/(IV) ATRX mut.

EGFRAmp., CDKN2A Del., Chrom. 7 Gewinn, Chrom. 10 Verlust

WHO Grad II/III

WHO Grad IV

TERT mut. ≤ 65/70 J.

1p/19q intakt

1p/19q Ko-del

TMZ

RT/PCV

RT

TMZ/RT TMZ

PCV

TMZ oder PCV

RT bei Progression

ist die Bestimmung der 1p/19q codel keinesfalls trivial: D Es ist prognostisch relevant, ob

ein kompletter oder partieller 1p-Verlust vorliegt. Partielle distale 1p-Deletionen finden sich bevorzugt in astrozytären Tumoren und gehen mit einer schlechteren Prognose einher [11]. Auch bei der Analyse der Methylierung des MGMT-Promoters ergeben sich durchaus Probleme: In einem Ringversuch der Deutschen Gesellschaft für Neuropathologie zur Bestimmung der MGMT-Methylierung zeigte sich bei gutem Standard dennoch Verbesserungspotenzial (unpublizierte Ergebnisse). Dies ist einerseits durch die unterschiedlichen Techniken (methylierungsspezifische „polymerase chain reaction“ [PCR], qPCR, nestedPCR, Sequenzierung, Pyrosequenzierung), andererseits durch die Existenz mehrerer Methylierungsstellen auf dem Promotor von MGMT bedingt, die bei PCR-basierten Methoden Primerabhängig unterschiedliche Ergebnisse liefern können. Zudem ist die Interpretation der Ergebnisse nicht vereinheitlicht: So spielt beispielsweise bei der quantitativen Analyse der MGMT-Methylierung der innerhalb des jeweiligen Labors defi-

MGMT -

MGMT +

RT

TMZ

> 65 / 70 J. MGMT -

MGMT+

RT

TMZ

TMZ/RT TMZ

TMZ/RT TMZ

nierte Cut-off-Wert für Methylierung eine Rolle [24, 25]. Analysen auf Array-Ebene, die eine gleichzeitige Evaluation zahlreicher Parameter auf genomischer, genetischer oder epigenetischer Ebene erlauben, wurden bisher hauptsächlich für grundlagenwissenschaftliche Studien eingesetzt und sind in aller Regel teuer. Kürzlich wurde aus Heidelberg ein 450K-EpigenetikArray-Datensatz vorgestellt [27], der genomweite genetische und epigenetische (Methylierung) Veränderungen in einem Versuchsansatz untersuchen kann, was die gleichzeitige Erfassung zahlreicher prognoserelevanter und prädiktiver Marker mit mäßigem Aufwand und zu einem überschaubaren Preis ermöglicht. Die breite Implementierung dieser Technologie wird momentan durch die Beschaffung der Hardware in einer definierten Anzahl von Zentren und durch die Zurverfügungstellung einer Internetplattform zur Fernanalyse und zum Abgleich der lokal gewonnenen Daten mit einem Referenzdatensatz aus vielen tausend Proben am DKFZ in Heidelberg gewährleistet.

TMZ/RT TMZ

Abb. 1 9 Stratifizierte Therapie bei Patienten mit Gliomen. Amp Amplifikation, CDKN2A „cyclin-dependent kinase inhibitor 2A“, Del Deletion, EGFR „epidermal growth factor receptor“, GCIMP „glioma CpG island methylator phenotype“, ko-del kodeletiert, MAPK „mitogen-activated protein kinase“, MGMT O6Methylguanin-DNA-Methyltransferase, mut mutiert, PCV Procarbazin/Lomustin/ Vincristin, RT Radiotherapie, TMZ Temozolomid

IDH-1 für personalisierte Therapie in der Neuroonkologie Die R132H-Mutation der IDH-1 IDH-1R132H kommt vor allem bei niedriggradigen und anaplastischen Gliomen sowie sekundären Glioblastomen vor. Es führt zur Ausbildung des Onkometaboliten 2-Hydroxyglutarat aus dem Krebszyklus, dessen Vorhandensein vermutlich zu der prognostisch günstigen Hypermethylierung des gesamten Genoms führt. Mutationen von IDH-1 zeigen prinzipiell eine bessere Prognose an [6]. IDH-1 ist immunhistochemisch darstellbar und erleichtert den Nachweis der Gliomgrenzen im Gewebeschnitt, kann aus Operationsmaterial durch Sequenzierung bestimmt werden und ermöglicht bei histologisch unsicherem Befund beim Nachweis der Mutation eine sichere Gliomdiagnose, ist bildgebend [4] und im Serum als Biomarker nachweisbar und gewinnt zunehmend Gewicht auch als zur Therapiestratifizierung führender Biomarker. Basierend auf diesen präklinischen Arbeiten wurde eine Peptidvakzine etabliert [17], die in der Lage ist, mutationsspezifische CD4-positive T-Zellen zu induzieren und das Wachstum syngener IDHR132H-mutierter Gliome im TierDer Nervenarzt 6 · 2015 

| 695

Leitthema modell zu reduzieren. Aus dieser in Nature 2004 publizierten Arbeit wurde innerhalb kürzester Zeit das Konzept für eine im Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK) ausgerollte First-in-man-Phase-I-Studie „Targeting IDH1R132H in WHO Grade III and IV IDH1R132H mutated Gliomas by a Peptide Vaccine“ initiiert. Diese Studie wird im DKTK und in der Neuroonkologischen Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Krebsgesellschaft (NOA) als NOA16-Studie durchgeführt und besteht aus drei Kohorten, die 8 Impfungen über einen Zeitraum von 24 Wochen erhalten. Patienten mit neu diagnostizierten, IDHmutierten Tumoren der WHO-Grade III und IV in Verbindung mit der Erstlinientherapie sind zum Einschluss in diese Studie prinzipiell geeignet (weitere Details im Artikel von Platten und Herrlinger in diesem Heft).

Molekulare Marker steuern den Einsatz zielgerichteter Therapien In letzter Zeit wurden Ergebnisse publiziert, die eine stratifizierte Therapie zumindest bei zwei Subgruppen von Gliompatienten erlauben. Diese beiden etablierten prädiktiven, also therapiesteuernden Biomarker mit praktischem Wert sind 1p/19q codel und die Hypermethylierung des MGMT-Promotors. Diese Marker werden in aktuellen Therapieleitlinien auch empfohlen (National Comprehensive Cancer Network, http://www.nccn.org, und Deutsche Gesellschaft für Neurologie, http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/030-099.html).

»

Tumorpatienten mit 1p/19q codel haben eine bessere Prognose Patienten mit Tumoren mit 1p/19q codel haben eine bessere Prognose und erleben eine Verdopplung der Überlebenszeit bei Kombinationsbehandlung aus Strahlentherapie und Chemotherapie mit Procarbazin, Lomustin und Vincristin im Vergleich zur alleinigen Strahlentherapie (Studien: European Organization for Research and Treatment of Cancer [EORTC] 26951 und Radio Thera-

696 | 

Der Nervenarzt 6 · 2015

py Oncology Group [RTOG] 94-02 [3, 20]). Die Stratifizierung von Patienten abhängig vom 1p/19q-Status wird trotzdem nicht an allen Zentren umgesetzt. Die kombinierte Therapie führt nämlich auch bei einigen Patienten ohne 1p/19q codel zu einer deutlich besseren Prognose. In Anbetracht der teils schlechten Prognose von Patienten mit anaplastischen Gliomen und ungünstigem molekularem Status [7] ist es daher durchaus plausibel, ohne Evaluation von 1p/19q codel kombiniert zu behandeln. Idealerweise werden diese Patienten jedoch in die Therapieoptimierungsstudie CATNON der EORTC (EORTC 26053/22054) eingeschlossen, in welcher der Stellenwert der kombinierten Radiochemotherapie mit und ohne Erhaltungstherapie gegenüber einer alleinigen Radiotherapie bzw. einer Radiotherapie gefolgt von einer Erhaltungstherapie mit Temozolomid untersucht wird (http:// www.eortc.be). Für Grad-II-Gliome sind zwar sehr wahrscheinlich die gleichen molekularen Parameter relevant, diesbezügliche Daten fehlen jedoch bisher. Interessant ist, dass auch für Grad-II-Gliome eine kombinierte Radiochemotherapie besser ist als eine alleinige Radiotherapie [2] und dass eine alleinige Temozolomidbehandlung einer alleinigen Radiotherapie nicht überlegen ist [1]. Die Hypermethylierung des Promotors des DNA-Reparaturproteins MGMT führt zu einer verminderten Expression von MGMT und einer reduzierten Aktivität der O6-Methylguanin-DNA-Methyltransferase. Dies ist aktuell bei Patienten unter 65 Jahren zur Therapiesteuerung außerhalb von Studien nicht relevant, da die Langzeitauswertung der EORTC 22982/26981 NCIC CE.3-Studie (in der nur Patienten unter 65 Jahren behandelt wurden [8, 18]) eine verbesserte Wirkung der Radiochemotherapie gegenüber der Strahlentherapie alleine auch bei Patienten mit nicht methyliertem MGMT-Promotor zeigte und vor allem weil Alternativen fehlen, weshalb in dieser Gruppe alle Patienten kombiniert behandelt werden. Für Patienten über 65 Jahre wiesen die Studienergebnisse von NOA-08 (anaplastisches Gliom und Glioblastom; [23]) und Nordic (Glioblastom, Patientenalter 60 Jahre und älter; [14, 23]) jedoch den

prädiktiven Wert der MGMT-PromotorMethylierung nach. Bei diesen Studien wurde Strahlentherapie alleine mit Temozolomid alleine verglichen. Es ergab sich dabei ein signifikant besseres Gesamtüberleben für primär chemotherapierte Patienten mit MGMT-methylierten Tumoren, während die Strahlentherapie bei Patienten mit nicht MGMT-methylierten Tumoren überlegen war. Danach sollten ältere Patienten mit methyliertem Promotor chemotherapiert und Patienten mit nicht methyliertem Promotor sowie nicht bestimmbaren Status hypofraktioniert oder nach Standardschema strahlentherapiert werden. Selbstverständlich ist bei biologisch jüngeren Patienten auch eine kombinierte Radiochemotherapie gemäß dem Standard bei jüngeren Patienten oder gemäß dem experimentellen Arm der NCIC CE.6/EORTC 26062-Studie möglich (15×2,67 Gy plus begleitenden und Erhaltungschemotherapie mit Temozolomid). Der MGMT-Status kann aufgrund des Wirkmechanismus alkylierender Chemotherapie auch bei anderen nicht IDHmutierten Gliomen zur Bestimmung des Nutzens einer alkylierenden Therapie herangezogen werden. Außerdem legen aktuell Ergebnisse der DIRECTOR- [22], aber auch der BELOB-Studie [19] nahe, dass der Methylierungsstatus auch bei der Progressionstherapie mit Temozolomid oder CCNU relevant ist.

»

Der Methylierungsstatus des CD95L-Promotors beeinflusst den APG101-Effekt Aufgrund neuer präklinischer Daten [12] wurde der Fokus auf die antiinvasiven Eigenschaften einer Hemmung des CD95/ CD95-Liganden(CD95L)-Systems gelegt. In einer klinischen Studie wurden 91 Patienten mit erster oder zweiter rebestrahlbarer Progression eines Glioblastoms mit dem CD95L-bindenden Fusionsprotein APG101 (wöchentlich 400 mg i.v.) in Kombination mit einer Rebestrahlung (18×2 Gy) oder alleiniger Rebestrahlung behandelt. Die Verträglichkeit der Therapie war sehr gut. Effektivitätsdaten dieser randomisierten, aber nicht formal vergleichenden Studie zeigen einen Nutzen der

Leitthema

Abb. 2 8 Einsatz von MRT und Aminosäure-PET zur prognostischen Abschätzung und Verlaufsbeobachtung bei Patienten mit hoch malignen Gliomen. (Adaptiert nach einer Originalabbildung von M. Hutterer, Regensburg. ADC „apparent ­diffusion coefficient“, ASL Arterial Spin Labeling, Cho Cholin, CSI „chemical shift imaging“, DCE „dynamic contrast enhanced“, DSC „dynamic susceptibility contrast“, FET Fluor-Ethyl-Tyrosin, GPC Glycerophosphocholin, MRS MR-Spektroskopie, MRT Magnetresonanztomographie, NAA Noradrenalin, PCho Phosphocholin, PET Positronenemissionstomographie, rCBV „relative cerebral blood volume“, SWI „susceptibility weighted imaging“

APG101-Behandlung. Interessante Untersuchungen zu einem potenziellen Biomarker für die Therapie legen nahe, dass das Vorhandensein des Signalwegs, gegen den APG101 gerichtet ist, für stärkere Effekte wichtig zu sein scheint. In der Studie wurde gezeigt, dass niedrigere Methylierung im CpG2 im CD95L-Promotor mit einer deutlichen Verbesserung der APG101-Effekte assoziiert sind (Hazard Ratio =0,19; 95%-Konfidenzintervall 0,06–0,58), sodass ein potenzieller Bio-

698 | 

Der Nervenarzt 6 · 2015

marker für die Therapie zur Verfügung stehen könnte [24, 25]. Aktuelle Konzepte in der pädiatrischen Onkologie (INFORM), aber auch bei Erwachsenen (NCT Neuro MASTER Match, N2M2) präsentieren übergeordnete Basketprotokolle, die Patienten mit distinkten molekularen Veränderungen nach aufwendiger molekularer Charakterisierung in einem bereits aktiven Register für Kinder mit rezidivierten Malignomen (INFORM) bzw. in einer in der Vor-

laufphase befindlichen Studie (N2M2) für Patienten mit neu diagnostiziertem Glioblastom mit zielgerichteten Therapien behandeln.

Bildgebende Biomarker sagen Therapieansprechen voraus Wie erwähnt kann magnetresonanz(MR)spektroskopisch anhand des (bei vorliegender IDH-Mutation akkumulierenden) Metaboliten 2-Hydroxyglutarat der

IDH-Mutationsstatus indirekt und nicht invasiv beurteilt werden [4]. Daher könnten IDH-basierte Biomarker und Imaging-Marker voraussichtlich in absehbarer Zeit auch therapierelevant werden. Weitere spannende MR-basierte Methoden nutzen Diffusions-/Perfusionsuntersuchungen bzw. suszeptibilitätsgewichtete Aufnahmen zur Differenzialdiagnostik zwischen verschiedenen Hirntumoren und als frühe Parameter zur Bestimmung des Therapieerfolgs, z. B. bei antiangiogenen Therapien [10]. Speziell unter antiangiogener Therapie spielen diese Parameter eine große Rolle, weil klassische Bildgebungskriterien hier oft versagen. Bevacizumab normalisiert Tumorgefäße und schließt die Blut-Hirn-Schranke, sodass bildgebendes Pseudoansprechen dem biologischen Ansprechen oft nicht entspricht. Daher sollten die aktuellen bildgebenden Standardkriterien (RANO) mit modernen funktionellen MRTParametern wie Diffusion, Perfusion und 1H-Spektroskopie sowie, wenn möglich, molekularer Bildgebung wie AminosäurePositronenemissionstomographie(PET) gekoppelt werden (. Abb. 2).

Fazit für die Praxis F Aktuell spielen molekular stratifizierte Therapien und Biomarker zur Verlaufsbeobachtung in der Therapie der Gliome noch eine relativ geringe Rolle. Die Weiterentwicklung verläuft allerdings fulminant. F Höchst relevant ist die Bestimmung der 1p/19q codel und der Methylierung von MGMT bei älteren Patienten mit Glioblastomen zur Therapiesteuerung. Nota bene: Eine Kombinationstherapie mit Strahlenchemotherapie mit Procarbazin/CCNU/Vincristin verdoppelt die Überlebenszeit bei Patienten mit 1p/19q codel; in dieser Situation sollte also nach 1p/19qAnalyse stratifiziert behandelt werden. Vor Auswertung der CATNONStudie alle Patienten mit anaplastischen Gliomen kombiniert zu therapieren, ist sicher nur die zweitbeste Lösung. F Weiterhin sind molekulare Marker – sofern methodisch glaubwürdig – wertvoll zur Abschätzung der

Prognose und manchmal zum Nachweis einer Tumorerkrankung und zur trennschärferen Einteilung der Entitäten und ermöglichen damit auch ohne direkte Therapiekonsequenz eine bessere Steuerung des therapeutischen Gesamtkonzepts. F Die derzeit in der Forschung getätigten Investitionen sollen schließlich zu einer effizienteren Medizin im Sinne der optimalen Allokation begrenzter Ressourcen führen. Das im Rahmen verschiedener (prospektiver) Studien akquirierte Biomaterial wird hoffentlich zukünftig auch bei Gliomen dazu beitragen, weitere relevante Parameter zu identifizieren und therapeutisch zu nutzen. Hierbei sind insbesondere die laufenden Studien bei Patienten mit EGFRvIII und IDH-1mut sowie die Aktivitäten des DKTK und des SPECTAbrain-Programms der EORTC relevant.

Korrespondenzadresse Prof. Dr. W. Wick Abteilung Neuroonkologie,   Neurologische Klinik und Nationales   Zentrum für Tumorerkrankungen,   Universitätsklinikum Heidelberg INF 400, 69120 Heidelberg [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenskonflikt.  W. Wick ist in Advisory Boards und als Referent für Roche tätig. Er ist Inhaber von Patenten zur IDH-Immuntherapie und Immunhistochemie und zur molekularen Diagnostik bei APG101. Er ist außerdem Studienleiter der im Text erwähnten Studien: APG101_CD002, GAPVAC und NOA-8. P. Hau ist als Referent für Roche, Medac und TEVA tätig und erhält Beraterhonorare von Roche, Medac und Novocure. Reisekosten wurden von Roche, Medac, TEVA und Novocure übernommen. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

Literatur   1. Baumert BG, Mason WP, Ryan G et al (2013) Temozolomide chemotherapy versus radiotherapy in molecularly characterized (1p Loss) low-grade glioma: a randomized phase III intergroup study by the EORTC/NCIC-CTG/TROG/MRC-CTU (EORTC 22033–26033). J Clin Oncol 31:suppl;abstr 2007

  2. Buckner JC, Pugh SL, Shaw EG et al (2014) Phase III study of radiation therapy (RT) with or without procarbazine, CCNU, and vincristine (PCV) in lowgrade glioma: RTOG 9802 with Alliance, ECOG, and SWOG. J Clin Oncol 32:5s (suppl; abstr 2000)   3. Cairncross G, Wang M, Shaw E et al (2013) Phase III trial of chemoradiotherapy for anaplastic oligodendroglioma: long-term results of RTOG 9402.   J Clin Oncol 31(3):337–343   4. Choi C, Ganji S, Hulsey K et al (2013) A comparative study of short- and long-TE (1)H MRS at 3 T for in vivo detection of 2-hydroxyglutarate in brain tumors. NMR Biomed 26(10):1242–1250   5. Druker BJ, Sawyers CL, Kantarjian H et al (2001)   Activity of a specific inhibitor of the BCR-ABL tyrosine kinase in the blast crisis of chronic myeloid leukemia and acute lymphoblastic leukemia with the Philadelphia chromosome. New Engl J Med 344(14):1038–1042   6. Ducray F, El Hallani S, Idbaih A (2009) Diagnostic and prognostic markers in gliomas. Curr Opin Oncol 21:537–542   7. Hartmann C, Hentschel B, Wick W et al (2010) Patients with IDH1 wild type anaplastic astrocytomas exhibit worse prognosis than IDH1-mutated glioblastomas, and IDH1 mutation status accounts for the unfavorable prognostic effect of higher age: implications for classification of gliomas. Acta Neuropathol 120(6):707–718   8. Hegi ME et al (2005) MGMT gene silencing and benefit from temozolomide in glioblastoma. N Engl J Med 352(10):997–1003   9. Huse JT et al (2011) High frequency of IDH-1 mutation links glioneuronal tumors with neuropil-like islands to diffuse astrocytomas. Acta Neuropathol 122(3):367–369 10. Hutterer M et al (2014) Current standards and new concepts in MRI and PET response assessment of antiangiogenic therapies in high-grade glioma patients. Neuro Oncol pii: nou322 11. Idbaih A, Marie Y, Pierron G et al (2005) Two types of chromosome 1p losses with opposite significance in gliomas. Ann Neurol 58(3):483–487 12. Kleber S, Sancho-Martinez I, Wiestler B et al (2008) Yes and PI3K bind CD95 to signal invasion of glioblastoma. Cancer Cell 13:235–248 13. Koelsche C, Sahm F, Capper D et al (2013) Distribution of TERT promoter mutations in pediatric and adult tumors of the nervous system. Acta Neuropathol 126(6):907–915 14. Malmstrom A, Gronberg BH, Marosi C et al (2012) Temozolomide versus standard 6-week radiotherapy versus hypofractionated radiotherapy in patients older than 60 years with glioblastoma: the Nordic randomised, phase 3 trial. Lancet Oncol 13(9):916–926 15. Patel AP, Tirosh I, Trombetta JJ et al (2014) Single-cell RNA-seq highlights intratumoral heterogeneity in primary glioblastoma. Science 344(6190):1396–1401 16. Riemenschneider MJ, Louis DN, Weller M, Hau P (2013) Refined brain tumor diagnostics and stratified therapies: the requirement for a multidisciplinary approach. Acta Neuropathol 126(1):21–37 17. Schumacher T, Bunse L, Pusch S et al (2014) A vaccine targeting mutant IDH1 induces antitumour immunity. Nature 512(7514):324–327 18. Stupp R, Mason WP, Bent MJ van den et al (2005) Radiotherapy plus concomitant and adjuvant   temozolomide for glioblastoma. N Engl J Med 352(10):987–996

Der Nervenarzt 6 · 2015 

| 699

Buchbesprechungen 19. Taal W, Oosterkamp HM, Walenkamp AM et al (2014) Single-agent bevacizumab or lomustine versus a combination of bevacizumab plus lomustine in patients with recurrent glioblastoma (BELOB trial): a randomised controlled phase 2 trial. Lancet Oncol 15:943–953 20. Bent MJ van den, Brandes AA, Taphoorn MJ et al (2013) Adjuvant procarbazine, lomustine, and vincristine chemotherapy in newly diagnosed anaplastic oligodendroglioma: long-term follow-up of EORTC brain tumor group study 26951. J Clin Oncol 31(3):344–350 21. Weller M, Bent M van den, Hopkins K et al (2014) EANO guideline for the diagnosis and treatment of anaplastic gliomas and glioblastoma. Lancet Oncol 15(9):e395–e403 22. Weller M, Tabatabai G, Kästner B et al (2015) MGMT promoter methylation is a strong prognostic biomarker for benefit from dose-intensified temozolomide rechallenge in progressive glioblastoma: the DIRECTOR trial. Clin Cancer Res (Epub ahead of print) 23. Wick W, Platten M, Meisner C et al (2012) Temozolomide chemotherapy alone versus radiotherapy alone for malignant astrocytoma in the elderly: the NOA-08 randomised, phase 3 trial. Lancet Oncol 13(7):707–715 24. Wick W, Weller M, Bent M van den et al (2014) MGMT testing in neurooncology – a paradigm for prospects and challenges of biomarker-based treatment decisions. Nat Rev Neurol 10:372–385 25. Wick W, Fricke H, Junge K et al (2014) A phase II, randomized, study of weekly APG101+ reirradiation versus reirradiation in progressive glioblastoma. Clin Cancer Res 20(24):6304–6313 26. Wiestler B et al (2014) Integrated DNA methylation and copy-number profiling identify three clinically and biologically relevant groups of anaplastic glioma. Acta Neuropathol 128(4):561–571 27. Wiestler B, Capper D, Hovestadt V et al (2014) Assessing CpG island methylator phenotype, 1p/ 19q codeletion, and MGMT promoter methylation from epigenome-wide data in the biomarker cohort of the NOA-04 trial. Neuro Oncol 16(12):1630– 1638 28. Wiestler B, Capper D, Holland-Letz T et al (2013) ATRX loss refines the classification of anaplastic gliomas and identifies a subgroup of IDH mutant astrocytic tumors with better prognosis. Acta Neuropathol 126:443–445

700 | 

Der Nervenarzt 6 · 2015

H. Wiedebach

Pathische Urteilskraft Freiburg: Verlag Karl Alber 2014, 272 S.,   (ISBN 978-3-495-48693-1), geb., 25.00 EUR Vor Jahrzehnten fragte G.L. Engel: „Wie lange noch muß sich die Wissenschaft der Medizin auf eine Weltanschauung aus dem 17. Jahrhundert stützen?“ Gemeint war das biomedizinische Modell, welches über Jahrhunderte den wirkmächtigen naturwissenschaftlichmedizinischen Fortschritt ermöglichte. Ein fundierter Anstoß zum Paradigmenwechsel hin zum Menschen in Überwindung allein technischer und naturwissenschaftlicher Ziele und des Leib-Seele-Dualismus war mit dem biopsychosozialen Modell eingeleitet und 2014 mit einem revidierten Gesundheitsbegriff aktualisiert worden (J. Bircher et al). Bis ins TIME-Magazin findet die Harvard Professorin E. Langer öffentliche Aufmerksamkeit: „Let‘s treat mind and body as just words … put them together as one thing.“ Ein Konzept der Humanmedizin ist von dem Ehrenmitglied der Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) Viktor von Weizsäcker seit den 1920er Jahren vorgestellt und versuchsweise anthropologische Medizin genannt worden. Danach geht es um die Einheit von Leib und Seele, die Zusammengehörigkeit von Krankheit und Biographie in ihrer Verflochtenheit in der Gesellschaft, die Kontinuität von Bewusstem und Unbewusstem, schließlich die Partnerschaft zwischen dem Arzt und dem Kranken, kurz gefasst eine allgemeine Medizin, die eben nicht dualistisch denkt, wie es noch in dem Wort Psycho-  Somatik angedeutet wird. Der Philosoph Wiehl nannte es eine der geistvollsten Erfindungen in Weizsäckers Begriffswelt: das pathische Pentagramm, ein Koordinatensystem von lebensbestimmenden Kategorien, in fünf Modalverben zum Ausdruck gebracht. „Als Lebender aber sage ich nicht ‚ich bin‘, sondern: ich möchte, oder ich will, oder ich kann, muß, darf, soll; oder ich will, darf usw. alles dieses nicht.“ Nahezu jedes Verhalten, jede Lebensäußerung, physiologische und psychologische Vorgänge, Fühlen und Denken, bei allem, auch in Gesundheit und Krankheit, treiben die genannten Faktoren ihr Spiel. Die geistesgegenwärtige Anwendung der pathischen Kategorien in der Anamnese ist zu einem diagnostisch und therapeutisch nützlichen Instrument

geworden. Es ist das Verdienst des Autors aus philosophischer Sicht zu begründen, warum die pathische Urteilskraft für unser Wissen um den Menschen konstitutiv ist. „Wie können wir in Denken und Tun sachgemäß urteilen, wenn uns das Leben eher widerfährt, als dass wir darüber verfügen?“ Erstaunliche Zusammenhänge werden vorgestellt und Philosophen von Leibniz bis Heidegger, Sartre und Lévinas befragt und hinsichtlich möglicher Parallelen untersucht. Für uns Ärzte ist zu lernen, dass mit Wiedebachs Beitrag ein Baustein der medizinischen Anthropologie Weizsäckers aktualisiert ausgebreitet wurde, der Bestandteil einer neuen Theorie der Medizin sein wird. Das Buch sei allen empfohlen, denen Hintergründe und Ausblick auf eine Heilkunde ein Anliegen ist, in der der kranke Mensch im Mittelpunkt steht. W. Rimpau (Berlin)

[Personalized therapy for gliomas].

Current therapies for patients with malignant gliomas are starting to integrate molecular factors and age. Nonetheless, these therapies are still not ...
610KB Sizes 0 Downloads 10 Views