Nr. 50, 10. Dezember 1976, 101. Jg.

Sterzel, Gutjahr: Periphere Neuropathie bei chronischer Niereninsuffizienz

1845

Ob e rsich ten

Die periphere Neuropathie bei chronischer

R. B. Sterzel und L. Gutjahr

Niereninsuffizienz

Department Innere Medizin, Abteilung Nephrologie (Leiter: Prof. Dr. J. Brod), und Abteilung Klinische Neurophysiologie und Experimentelle Neurologie (Leiter: Prof. Dr. H. Kiinkel) der Medizinischen Hochschule Hannover

Diagnostik und Therapie

Die urämische Neuropathie ist eine der zahlreichen sekundären Organschädigungen bei chronischer Niereninsuffizienz. Es handelt sich um die klinischen und funktionellen Folgen von vorwiegend demyelinisierenden Läsionen sensibler und motorischer peripherer Nerven. Obwohl es Hinweise dafür gibt, daß die urämische Neuropathie toxisch bedingt ist, sind die Einzelheiten ihrer Pathogenese bisher noch nicht geklärt. Die Neuropathie wird von akuten unspezifischen Faktoren, wie Diätfehlern, Blutverlust oder Störung des Wasser- und Elektrolythaushaltes, in weit geringerem Maße beeinflußt als andere Merkmale der Urämie, zum Beispiel Gastroenteritis, Anämie und Bewußtseinsstörungen. Bei Ausschluß einer gleichzeitigen Nervenschädigung durch Diabetes mellitus oder durch Einnahme von neurotoxischen Medikamenten kann die urämische Neuropathie deshalb als eine vergleichsweise spezifische Läsion der urämischen Intoxikation gelten. Bei Erfassung und Beurteilung von Funktionsstörungen peripherer Nerven ist von Vorteil, daß sie nicht nur qualitativen klinischen, sondern auch quantitativen neurographischen Untersuchungen zugänglich sind. Unter den letzteren ist insbesondere die Bestimmung der Nervenleitungsgeschwindigkeit von großer praktischer Be-

deutung. Angesichts dieser Eigenschaften der peripheren Nervenläsionen von chronisch-urämischen Patienten ergibt sich die Frage, ob die Beschreibung von klinischen und funktionellen Parametern der urämischen Neuropathie eine Beurteilung des Ausmaßes, des natürlichen Verlaufes und der therapeutischen Beeinflußbarkeit der chronischen urämischen Intoxikation erlaubt.

Klinische Aspekte Nachdem die klinischen Zeichen der urämischen Neuropathie von Schreiner und Maher (44') sowie von Heg-

strom und Mitarbeitern (21) bei der Beschreibung von Dialyse-Patienten erwähnt worden waren, folgten zahlreiche Berichte anderer Autoren über die Schädigung des peripheren Nervensystems bei chronischer Niereninsuffizienz (1, 10, 16, 27, 30, 40, 48, 54). Insbesondere beschrieben die Arbeitsgruppen von Funck-Brentano (16), Tyler (54, 55) und von Scribner und Tenckhoff (5, 22, 23, 45, 48, 49, 50) die verschiedenen klinischen und elektrophysiologischen Merkmale der urämischen Neuropathie. Von Bedeutung war die Beobachtung, daß sich bei urämischen Patienten auch bei Fehlen von Symptomen oder von klinischem Nachweis einer Neuropathie - nicht selten funktionelle, subklinische Nervenschädigungen mit Hilfe von neurographischen Methoden feststellen ließen (22, 40, 48). Hierbei wurde vornehmlich die Leitungsgeschwindigkeit von sensiblen und motorischen Nerven als empfindlicher Funktionsparameter bestimmt, aber auch andere meßbare Werte wie die des Vibrationsempfindens oder der Erregbarkeit von peripheren Nerven wurden erfaßt (11, 32, 35, 38). Bei der Vielfalt der ermittelten Parameter und wegen des Fehlens einer Standardisierung von klinischen Symptomen ist es nicht verwunderlich, daß die Angaben über die Häufigkeit einer urämischen Neuropathie stark variieren: Sie liegt zwischen 13 und 86% der Fälle (10,11, 13, 16, 27, 30, 41, 43, 48, 51). Diese großen Unterschiede kommen teilweise dadurch zustande, daß der Begriff der Urämie von den einzelnen Arbeitsgruppen bezüglich Grad und Dauer der Niereninsuffizienz nicht einheitlich verwandt wurde. Auch ist bei Häufigkeitsangaben die Möglichkeit einer Selektion der untersuchten Patienten nach Geschlecht, Alter, anderer Ursachen einer peripheren Nervenschädigung und schließlich der Behandlungsart der Urämie zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang sei schon kurz auf den Einfluß des Lebensalters auf die Normalwerte der neurophysiologischen Parameter

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Dtsch. med. Wschr. 101 (1976), 1845-1852 © Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Sterzel,

Gutihr: Periphere Neuropathie bei chronischer Nierentnsuífizienz

hingewiesen und auch auf die Bedeutung von Einsatzbeginn und Qualität einer Dialysebehandlung für die Entwicklung von Nervenschädigungen. Die klinische Erfassung des peripheren neurologischen Befundes ist durch das Fehlen eines einheitlichen und vollständigen Funktionsindexes erschwert. So gehen die intra- und interindividuellen Unterschiede bei der Befunderhebung in die Beurteilung des Patienten ein. Clemens (8) beschrieb einen Index zur Bestimmung des Schweregrades von Läsionen peripherer Nerven, der sich jedoch nur zur Quantifizierung motorischer Ausfälle eignet. Sensible Störungen können ohne apparative Hilfsmittel nur qualitativ beschrieben werden. Versuche, die Dauer des Vibrationsempfindens mit einer Stimmgabel zu ermitteln, hatten auch bei erfahrenen Beobachtern bei Aufsetzen der Stimmgabel an der stets gleichen Stelle eine Fehlerquote von 50-100 % (18, 53). Quantitative Messungen durch geeignete Geräte, beispielsweise einen Vibrationsempfindungsmesser, verringern die Fehlerbreite erheblich, trotzdem sind Geräte zur Erfassung der sensiblen Qualitäten bisher in klinischen Bereichen noch nicht in großem Maße angewandt worden (35, 38). Die Beeinflussung der mit solchen Verfahren ermittelten Normwerte durch andere Faktoren zeigt sich unter anderem auch daran, daß die Schwellen für das Vibrationsempfinden mit dem Alter exponentiell zunehmen (46) und daß sie an unterschiedlichen Körperteilen uni den Faktor 40 voneinander abweichen können (19). Das Fehlen von Normbereichen, so auch für das erst kürzlich von Dyck und Mitarbeitern (14) entwickelte Gerät zur quantitativen Erfassung der Oberflächensensibilität, dürfte der Hauptgrund für die weiterhin bevorzugte Verwendung der klinischen Kategorien bei der Beschreibung der peripheren neurologischen Befunde sein. In Tabelle 1 ist ein von uns verwandtes Schema zur klinischen Erhebung der peripheren neurologischen Befunde bei urämischen Patienten wiedergegeben, in dem die subjektiven Symptome und die objektivierbaren Zeichen unterschieden werden. Wir berücksichtigen darin unter anderem tJberlegungen von Clemens (Bewertung des Kraftgrades) und von Patzold (Erfassung sensibler Qualitäten) (8, 39). Reihenfolge und Geschwindigkeit des Auftretens der verschiedenen Symptome und Zeichen der urämischen Nervenschädigung variieren von Patient zu Patient. Nicht selten klagen die Kranken zunächst über Mißempfindungen in den Füßen und Unterschenkeln. Treten diese vornehmlich abends oder nachts und zumeist in den Waden auf und werden sie durch Bewegung erleichtert, spricht man von dem Symptom der »restless legs« (7). Obgleich nicht mit starkem Schmerz verbunden, stört es den Patienten erheblich und raubt ihm oft den Schlaf. Schmerzhafte, kurzfristige Krämpfe, ebenfalls häufig in den Waden, und ein brennendes Gefühl in den Fußsohlen (isburning feet«) sind bei manchen Patienten erste Zeichen einer Neuropathie. Später entwickeln sich die Zeichen einer fortgeschrittenen Nervenschädigung, wie Verlust des Empfindens für Berührung, Vibration und Positionsveränderung oder auch motorische Schwächen und Lähmungen. Typisch ist der Beginn der klinischen

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Ausfälle in den distalen Nervenabschnitten, also in Zehen, Füßen und Unterschenkeln, und erst später und damit viel seltener an den Nerven der oberen Extremitäten oder an Hirnnerven. Bei Patienten, bei denen keine Dialyse oder Transplantation vorgenommen wird, schreiten diese Schäden zumeist langsam über Wochen und Monate fort. Vereinzelt kann es auch zu einer raschen, therapieresistenten Progredienz der Läsion kommen (11, 24, 48, 51, 55), doch haben wir dies bisher bei unseren Patienten nur in einem Fall beobachtet. Bei den von uns in den Jahren 1972 bis 1974 untersuchten 78 chronisch-urämischen Patienten fanden wir bei 13 klinische Hinweise auf eine periphere Nervenschädigung unterschiedlichen Ausmaßes. Wie andere Arbeitsgruppen haben wir keinen klinischen oder neurographischen Anhalt für eine urämische Neuropathie bei Patienten mit einer glomerulären Filtrationsrate von mehr als 8 ml/mm festgestellt (11, 24, 34). Auch zeigten sich die Zeichen der Neuropathie meist erst nach langfristigem Bestehen des urämischen Zustandes, während sie bei Kranken mit akutem Nierenversagen und Urämie fehlen (24, 47). Auf die Abhängigkeit der Nervenläsionen von Grad und Dauer der urämischen Intoxikation haben auch andere Autoren hingewiesen (23, 24, 25, 43, 49, 51).

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Neurographische Untersuchungen Wie für die klinischen Kriterien einer urämischen Neuropathie variieren die Angaben verschiedener Autoren auch über die Häufigkeit pathologischer Befunde bei neurographischen Untersuchungen von Urämikern (9, 12, 22, 23, 41, 47, 51, 55). Diese Unterschiede beruhen offensichtlich ebenfalls zum Teil auf unterschiedlichen Auswahlkriterien bezüglich der untersuchten Patientengruppen. Andererseits fällt auf, daß von den Autoren oft keine ausreichend gesicherten Normwerte für die Leitungsgeschwindigkeiten der untersuchten Nerven angegeben wurden (12, 27, 51). Somit ist denkbar, daß die von den einzelnen Arbeitsgruppen berücksichtigten Normgrenzen in sehr unterschiedlicher Weise festgelegt wurden. Auf die erhebliche Beeinflussung der Nervenleitungsgeschwindigkeiten durch Alter, Körpergröße, Temperatur und Tageszeit haben Lang und Björqvist (28), Wagman und Lesse (56) und Gutjahr (20) hingewiesen. Zum anderen fanden sich bei wiederholten täglichen Messungen am gleichen Patienten erhebliche intraindividuelle Schwankungen der Meßwerte, die bei urämischen Patienten besonders ausgeprägt waren (26). Diese Befunde deuten auf die Schwierigkeit der einwandfreien Erkennung einer neurographisch erfaßbaren Nervenschädigung hin. Bei 110 Normalpersonen und bei 78 Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz (Kreatinin-Clearance

[Peripheral neuropathy in chronic kidney failure. Diagnosis and therapy].

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