Prävention & Versorgungsforschung | Review article

Menschen mit geistigen und mehrfachen Behinderungen als vulnerable Bevölkerungsgruppe in gesundheitlicher Versorgung People with intellectual and multiple disabilities as a vulnerable population group in health care Autoren

M. Hasseler1

Institut

1 Fakultät Gesundheitswesen, Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften, Campus Wolfsburg

Prävention

Einführung ▼

Prävention & Versorgungsforschung | Review article

Schlüsselwörter geistige Behinderungen mehrfache Behinderungen Gesundheitsversorgung vulnerable Bevölkerungsgruppe Gesundheitsförderung Prävention

q q q q q q

Keywords intellectual disabilities multiple disabilities health care vunerable population group health promotion disease prevention

q q q q q q

eingereicht 02.06.2014 akzeptiert 05.06.2014 Bibliografie DOI 10.1055/s-0034-1387334 Dtsch Med Wochenschr 0 2014; 1390 : 2030–2034 · © Georg 0 Thieme Verlag KG · Stuttgart · New York · ISSN 0012-04721439-4 13 Korrespondenz Prof. Dr. Martina Hasseler Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften, Fakultät Gesundheitswesen, Campus Wolfsburg Rothenfelder Str. 10 38440 Wolfsburg Tel. 05361/8922 23250 Fax 05361/8922 23251 eMail [email protected]

Die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit geistigen und mehrfachen Behinderungen gerät zunehmend in das Blickfeld. Dies ist vor allem auf die erhöhte Lebenserwartung zurückzuführen. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Menschen mit Behinderungen gleicht sich in den letzten Jahrzehnten der Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung an. Dieses liegt u. a. in der sogenannten Schließung der „Generationenlücke“ begründet, die sich aufgrund der Ermordung geistig behinderter Menschen in der Diktatur des Nationalsozialismus entwickelt hatte [11]. Des Weiteren ist die Zahl schwerbehinderter Menschen in den letzten Jahren in Deutschland gestiegen. In den Jahren 1997 bis 2007 ist ein Anstieg von 4,5 % zu verzeichnen [29, 30]. Laut Daten des Statistischen Bundesamtes sind etwa 6,9 Mio. Menschen in Deutschland als Schwerbehinderte mit einem Ausweis anerkannt. Davon sind etwa 83,3 % durch Krankheiten und 2,2 % durch Berufskrankheit oder Unfall verursacht. Schätzungsweise 4,4 % der Behinderungen sind seit der Geburt vorhanden. Der größte Anteil mit 64,3 % fällt auf die körperlichen Schwerbehinderungen. Geistige und körperliche Behinderungen nehmen einen Anteil von 9,9 % ein. Die höchste Behindertenquote wird für die über 80-Jährigen mit 34 % angegeben [29, 30]. Diese demografische Entwicklung der Menschen mit Behinderungen ist europaweit festzustellen. In Nordeuropa hat sich die Zahl der Menschen mit Down-Syndrom in den letzten 40 Jahren verdoppelt [27]. Die Lebenserwartung von Menschen mit einer geistigen Behinderung ist von 18,5 Jahren in den 1930er Jahren auf 66 Jahre Mitte der 1990er Jahre gestiegen [27]. Weltweit wird die Prävalenzrate von Menschen, die mit Behinderungen leben, von der WHO [37] auf etwa 15,6 % bis 19,4 % der Menschen über 15 Jahre kalkuliert. Von diesen haben etwa 2,2 % bis

3,8 % signifikante Probleme im Funktionsstatus bzw. sind als schwerbehindert einzustufen. Da die einzelnen Länder mit unterschiedlichen Instrumenten messen und auch unterschiedliche Definitionen von Behinderung zugrunde legen, ist dem WHO Disability Report [37] zufolge die Datenlage nicht robust. Diese Erkenntnis ist auch für Deutschland zu konstatieren. Bislang liegen keine keine Daten über die Gesundheitssituation und -versorgung von Menschen mit Behinderungen vor [10]. Erkenntnissen internationaler Studien zufolge sind Menschen mit Behinderung in gesundheitlicher Hinsicht unterversorgt. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist durch zahlreiche Barrieren erschwert. Menschen mit Behinderungen haben oft nicht erfüllten Gesundheits- und Rehabilitationsbedarf und leiden vermehrt an vermeidbaren sekundären Erkrankungen [13, 37]. Eine höhere Komplexität in der Gesundheitssituation ergibt sich häufig durch eine Kombination von geistigen und körperlichen sowie psychischen Beeinträchtigungen. Menschen mit Behinderungen schätzen ihren eigenen Gesundheitszustand als schlecht oder sehr schlecht ein. Gleichwohl sind eine gute Gesundheit sowie eine Verhinderung von sekundären Erkrankungen für Menschen mit Behinderungen für eine hohe Lebensqualität und eine umfassende Teilnahme an sozialen Rollen im gesellschaftlichen Leben von hoher Bedeutung [13].

Barrieren im Zugang gesundheitlicher Versorgung ▼ Die Barrieren in der Gesundheitsversorgung für Menschen mit Behinderungen sind vielfältig. Sie erhalten bspw. seltener und unregelmäßig Vorsorgeuntersuchungen wie Brustkrebsscreening,

Heruntergeladen von: Boston University. Urheberrechtlich geschützt.

2030

Prävention & Versorgungsforschung | Review article

Eine Studie in den USA zeigte, dass von den befragten Menschen mit körperlichen Behinderungen etwa 22 % Schwierigkeiten hatten, Arztpraxen aufzusuchen [19]. Als Begründung wurde angegeben, dass die physische Umgebung nicht behindertengerecht war. Schätzungsweise 13 % fühlten sich wegen ihrer Behinderung unfair behandelt und Frauen mit Behinderungen und Brustkrebs Grad I–IIIA hatten eine geringere Chance, eine Strahlentherapie nach einer chirurgischen Intervention zu bekommen (74,8 % der Frauen mit Behinderungen im Vergleich zu 81,9 % der weiblichen Gesamtbevölkerung). Dieselbe Studie offenbart, dass auch präventive Maßnahmen bei Menschen mit Behinderungen in einem geringeren Ausmaße durchgeführt werden: nur 45,3 % der Frauen mit Mobilitätseinschränkungen erhielten innerhalb von 2 Jahren eine Mammographie im Vergleich zu 63,5 % der Frauen ohne Mobilitätsprobleme [19]. Des Weiteren werden Defizite in der Krebsvorsorge identifiziert. Es ist weder bekannt, welchen Informationsbedarf Menschen mit Behinderungen zum Thema Krebs und Früherkennung haben, noch gibt es angemessene Informationsmaterialien für diese Zielgruppe, um ihnen eine informierte Entscheidung über die Maßnahmen und Interventionen zu ermöglichen. Ferner behindert bereits die Gestaltung der Gesundheitsversorgungseinrichtungen, dass Menschen mit Behinderungen diese aufsuchen können [15]. Dazu zählen bspw. Treppen, Eingänge, Transportmöglichkeiten, Zugang zu persönlichen Assistenten o. ä. Andere Autoren identifizieren auf Seiten der Betroffenen als weitere mögliche Gründe für Barrieren im Gesundheitssystem Mobilitätsprobleme, sensorische Einschränkungen, Verhaltensauffälligkeiten u.w.m. [2, 20]. Weiterhin bestehen Kommunikationsproblemen [1]. Gesundheitsprofessionen haben vielfach ein geringes Wissen über Behinderungen. Es fehlen Kenntnisse und Qualifikationen, wie sie mit dieser Zielgruppe und den unterschiedlichen Behinderungen umgehen bzw. mit ihnen angemessen kommunizieren sollen [13]. Vor diesem Hintergrund ist es häufig schwierig, die angemessenen und erforderlichen Untersuchungen durchzuführen [1].

Weniger diagnostische sowie therapeutische Maßnahmen und Interventionen sowie angemessene Versorgung ▼ Ein auffälliger Befund der Literaturlage ist, dass Menschen mit Behinderung und Diabetes mellitus weniger Vorsorge- und/oder Screeninguntersuchungen erhalten [5]. Dazu gehören bspw. das Krebs-Screening, Stuhluntersuchung (Occult-Bluttest), die Prostatavorsorge und andere mehr [23]. Menschen mit Behinderungen erhalten nicht selten eine unangemessene pflegerische Versorgung, wie bspw. zu wenig zu essen oder zu trinken [2]. Des Weiteren werden häufig wichtige Hilfestellungen nicht geleistet, wie bspw. aus dem Bett auszusteigen oder duschen zu können oder die Medikamente einzunehmen. Insgesamt werden die Bedarfe und Bedürfnisse oft nicht angemessen eingeschätzt. Die diagnostischen Untersuchungen für Menschen mit Behinderungen scheinen nicht ausreichend und umfassend zu sein, um gesundheitliche Bedarfe zu erkennen [24]. Auch wenn der entsprechende Bedarf entdeckt wird, mündet dies nicht im-

mer in adäquaten Behandlungen (z. B. restorative oder präventive Zahnbehandlung bei nicht gutem Zahnstatus oder Mundgesundheit) [24].

kurzgefasst Menschen mit Behinderungen erleben zahlreiche Barrieren in der gesundheitlichen Versorgung, wie Erschwernisse im Zugang der Einrichtungen und Praxen, nicht angemessene Qualifikationen oder Kompetenzen. Die gesundheitlichen Bedarfe werden nicht umfassend erkannt, da relevante diagnostische Untersuchungen unzureichend durchgeführt werden.

Höhere Adipositasprävalenz ▼ Die Literaturlage weist daraufhin, dass Menschen mit geistigen Behinderung und/oder mit Down-Syndrom häufiger unter Übergewicht im Vergleich zur Gesamtbevölkerung leiden [1, 9, 18, 25]. Bei Menschen mit geistigen Behinderungen wird eine 59 % höhere Adidpositasrate angeben. Die Gründe dafür sind vielfältig und liegen u. a. in genetischen sowie Umweltfaktoren. Zu den genetischen Faktoren gehören Syndrome wie das Prader-Willi, Bardet-Biedl, Chone, Carpenter, Borejeson, DownSyndrom und weibliches Geschlecht. Aber auch Umweltfaktoren wie mangelnde Bewegung, Wohnen im familiären Umfeld, Ernährungsgewohnheiten, Medikamente (wie bspw. psychotrope Medikationen, einige Antidepressiva, Antipsychotika, Antiepilektika), soziale Faktoren, Alter (Übergewicht und Adipositas tritt eher in jüngeren Jahren auf), Level der geistigen Behinderungen (bei Menschen mit leichter oder moderater geistiger Behinderung ist Prävalenz Übergewicht/Adipositas geringer), sind als verantwortliche Determinanten für die höhere Adipositasprävalenz zu nennen [21]. Möglicherweise hängen die höheren Adipositas- und Übergewichtsraten von geistig behinderten Menschen mit der eher sehr ungünstigen Ernährung und dem schlechten Grad an Bewegungsaktivitäten zusammen [17]. Diese Auflistung zeigt, dass nicht nur behinderungsbedingte Faktoren das Risiko für Übergewicht/Adipositas erhöhen, sondern auch andere Faktoren wie sozioökonomischer Status, Lebensstil, Bewegung u. ä. Insbesondere das Ausmaß an Bewegung und Aktivitäten scheint bei behinderten Menschen im Vergleich zur Gesamtpopulation sehr viel niedriger zu sein. Des Weiteren wird angenommen, dass die Tendenz zu Übergewicht neben Bewegungsmangel mit unterschiedlichen Faktoren zusammenhängt wie psychotrope Medikationen, geringes Bewusstsein über ungünstige Lebensstile und erschwerter Zugang zu Gesundheitsförderungsprogrammen.

Höhere Morbiditätsraten ▼ Personen mit Down-Syndrom haben ein höheres Risiko für HerzKreislauf-Probleme, Hypothyreose und weiteren organischen Erkrankungen [1]. Des Weiteren werden in der Literatur höhere Asthma- sowie Aspirationspneumonieprävalenzen, erhöhte Raten an Munderkrankungen, gastrischer Reflux, Gastrointestinalerkrankungen, Epilepsie, Sehschwächen, Hörschwächen und schlechter Mundgesundheit sowie höhere Depressionsraten, höhere Raten an nicht diagnostizierten oder schlecht behandelten physischen Erkrankungen aufgeführt [20, 21].

Dtsch Med Wochenschr 2014; 139: 2030–2034 · M. Hasseler, Menschen mit geistigen …

Heruntergeladen von: Boston University. Urheberrechtlich geschützt.

Mammographien, regelmäßige Gesundheits-Check-ups und Gesundheitsversorgung durch Allgemeinmediziner [13].

2031

Prävention & Versorgungsforschung | Review article

Menschen mit geistigen Behinderungen scheinen der Datenlage zufolge häufiger unter nicht-entdecken Seh- und Hörstörungen sowie Mundgesundheitsproblemen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung zu leiden [24]. Des Weiteren werden psychische Probleme, Epilepsien, sensorische und physische Behinderung, orale Gesundheitsprobleme, Herzerkrankungen und Krebs genannt. Für die Gruppe ältere Menschen mit geistiger Behinderung werden häufiger Hör- und Sehprobleme, vermehrte Mobilitätsprobleme, Herzprobleme, Diabetes, Frakturen und Osteoporose festgestellt [14]. In einer umfangreichen Studie aus den Niederlanden wird belegt, dass die Prävalenz von Bluthochdruck, Diabetes, Hypercholesterinämie und metabolisches Syndrom bei älteren Menschen mit geistigen Behinderungen hoch ist und signifikante Probleme darstellen [9]. Als problematisch ist der Befund zu betrachten, dass in der Untersuchungsgruppe zuvor die individuellen Risikofaktoren für Herzkreislaufkrankheiten zu 40–50 % sowie für das metabolische Syndrom zu 95 % nicht diagnostiziert wurden. Diabetes wurde bei 45 % der Untersuchten in dieser Studie neu entdeckt. Die Autoren konstatieren: “First of all, detection of cardiovascular risk factors is currently insufficient. The high amount of missed diagnoses shows that people with ID are not able to address their symptoms (in case of diabetes) or worries adequately.” [9] Der Anteil von sekundären Erkrankungen wie z. B. hoher Blutdruck, hohe Cholesterinwerte, Diabetes Mellitus, Depression, Fatigue, Leber- und Gallenprobleme, geringes Selbstbewusstsein u. ä. ist bei Heranwachsenden mit Autismus und Down-Syndrom höher als eine Vergleichsgruppe Heranwachsender mit geistiger Behinderung, die nicht übergewichtig ist [30]. In einem Literaturreview werden folgende Gründe und Risikofaktoren für eine erhöhte Morbidität von Menschen mit Behinderungen angegeben: niedriger IQ, in reduzierte motorische Fähigkeiten, Unfähigkeit, sich selbst zu ernähren, reduzierte kommunikative Kompetenzen und Selbsthilfefähigkeiten [32].

kurzgefasst Behinderungsbedingte und sozioökonomische Faktoren erhöhen das Risiko für Adipositas und höheren Morbiditätsraten.

Altern und Alterungsprozesse ▼ Das Risiko, an altersbedingten psychischen und körperlichen Beeinträchtigungen zu leiden, ist Experten zufolge bei älteren behinderten Menschen höher, auch wenn grundsätzlich die Alterungsprozesse bei Menschen mit Behinderungen wie in der Gesamtbevölkerung verlaufen [12, 16]. Gleichwohl ist zu beachten, dass sich die Altersstruktur bei Menschen mit Behinderungen differenzierter entwickelt. Sie sind in einem höheren Maße von genetisch-organologischen Ursachen, von der Art der Behinderung sowie der Entwicklung anregender Umwelten und vom Kompetenzerwerb und -erhalt behinderter Menschen abhängig [26]. So gibt die Datenlage Hinweise darauf, dass die Lebenserwartung von Menschen mit Behinderung umso geringer ist, je schwerer die geistige Behinderung ausgeprägt ist. Menschen mit einem Down-Syndrom haben demgemäß eine kürzere Lebenserwartung als Menschen mit anderen geistigen Behinderungen. Darüber hinaus treten demenzielle Erkrankungen bei Menschen mit einem Down-Syndrom zu einem früheren Zeitpunkt im Vergleich zur Gesamtbevölkerung auf. Sie können ich bereits in der Altersgruppe der 40- bis 50-Jährigen zeigen [12].

Bei Menschen mit geistiger Behinderung besteht ab dem 50. Lebensjahr ein deutlicher Anstieg in der Krankheitsanfälligkeit [28]. Sie weisen im höheren Alter bis zu 2,5-mal mehr gesundheitliche Probleme auf als andere Bürger [16]. Diese Erkrankungen fokussieren sich vor allem auf chronische Erkrankungen im Bereich aller Organsysteme. Dabei bestimmt das Ausmaß der Schädigungen, die ursächlich verantwortlich für die Behinderung sind, den Verlauf und die Entwicklung von Alterungsprozessen. Besondere Risiken werden bei körperlich behinderten Menschen in degenerativen Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates mit einer daraus resultierenden erhöhten Anfälligkeit für Hilfebedürftigkeit gesehen. Bei älteren geistig behinderten Menschen kommen zu den körperlichen Veränderungen und Erkrankungen noch Veränderungen im kognitiven Bereich hinzu, die zu Verlust von Kompensationsstrategien und Kommunikationsfähigkeiten führen können. Des Weiteren zeigen sich Anhaltspunkte in der Literatur, dass Alter und Schwere der Behinderung korrelieren. Das heißt, je schwerer eine Behinderung, desto früher treten Alterserscheinungen auf. Im Alter werden vor diesem Hintergrund auch pflegerische und medizinische Leistungen wie Arztbesuche häufiger in Anspruch genommen [33, 36].

Höhere Demenzprävalenzraten ▼ Der Befund höherer Demenzprävalenzraten wird insbesondere bei Menschen mit Down-Syndrom und geistigen Behinderungen erhoben [6, 20, 34]. Im Vergleich zu Menschen ohne geistige Behinderungen ist die Demenzprävalenzrate bei Menschen mit geistigen Behinderungen ab 65 Jahre 4- bzw. bis zu 5-mal so hoch [6, 31]. Die Datenlage weist daraufhin, dass die Prävalenz bei Menschen mit geistiger Behinderung für Demenzerkrankungen in den jüngeren Alterskohorten höher ist [16]. Demnach steigt die Prävalenz ab dem 40. Lebensjahr stark an. Jedoch variieren die Angaben in den Studien. Sie reichen von einer Prävalenzangabe von 22 % der 40- bis 60-Jährigen und 46 % in der Altersgruppe der 50- bis 60-Jährigen [16] bis hin 10 % in der Alterskohorte 40 Jahre und 30 % bei den über 50-Jährigen und bei den über 60-Jährigen 50 % [27]. Es werden Demenzinzidenzspitzen in der Kohorte 70 bis 74 Jahre bei Menschen mit geistigen Behinderungen [31] und im Alter von über 50 Jahren bei Menschen mit Demenzsyndrom angegeben [20]. Als problematisch ist zu beurteilen, dass die Diagnose Demenz bei Menschen mit geistiger Behinderung schwierig zu stellen ist. Es gibt keine speziellen diagnostischen Methoden oder Kriterien, die die durch die geistige Behinderung bestehenden Einschränkungen von den durch die Demenz verursachen Veränderungen differenziert abgrenzt [16].

kurzgefasst Das Risiko, an altersbedingten Beeinträchtigungen zu leiden, ist bei älteren Menschen mit geistigen und mehrfachen Behinderungen höher. Die Altersstruktur entwickelt sich im Vergleich zur Gesamtbevölkerung differenzierter. Die Demenzprävalenz ist bei Menschen mit Down-Syndrom und geistiger Behinderungen in jüngeren Alterskohorten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung höher.

Dtsch Med Wochenschr 2014; 139: 2030–2034 · M. Hasseler, Menschen mit geistigen …

Heruntergeladen von: Boston University. Urheberrechtlich geschützt.

2032

Prävention & Versorgungsforschung | Review article

Analysierte Sterbeurkunden von Menschen mit geistigen Behinderungen zeigen, dass diese 15 Jahre früher sterben als Personen ohne geistige Behinderung [21]. Demnach ist die Mortalitätsrate von Menschen mit geistigen Behinderungen 3-mal höher im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Menschen mit geistiger Behinderung haben ein 58-mal höheres Risiko, im Alter von unter 50 Jahren zu sterben im Vergleich zur Gesamtbevölkerung und es ist 4mal wahrscheinlicher, an einem vermeidbaren Tod vor 50 Jahren zu sterben [5]. Für eine Region in Großbritannien wurde herausgefunden, dass die Mortalität von Menschen mit moderater bis schwerer geistiger Behinderung 3-mal so hoch war im Vergleich zur Mortalitätsrate der Gesamtbevölkerung [35]. Die Mortalität war insbesondere bei jüngeren Erwachsenen und Frauen mit Behinderungen und Menschen mit Down-Syndrom besonders hoch. Die Lebenserwartung von behinderten Menschen ist umso höher, je geringer der Unterstützungsbedarf ist [32]. Es wird vermutet, dass die höheren Mortalitätsraten von Menschen mit geistigen Behinderungen in einem limitierten Zugang zum Gesundheitswesen und ungesunden Lebensweisen wie ungünstige Ernährungsweisen oder Bewegungsmangel liegen [7].

Weniger präventive Maßnahmen ▼ Aus einer Studie zur Teilnahme von Frauen mit geistiger Behinderung an Brustscreening-Untersuchungen ist zu entnehmen, dass nur ein Drittel der Befragten regelmäßig an Vorsorgeuntersuchungen teilnahm und etwa ein ähnlich niedriger Anteil hatte Einladungen für die Vorsorgeuntersuchung erhalten. Dieses Ergebnis ist deswegen problematisch, weil dies eine Risikogruppe für Brustkrebserkrankungen ist, da sie oftmals Nichtgebärende sind und damit ein höhere Risiko für Brustkrebs haben. Des Weiteren seien sie weniger über Selbstuntersuchungen aufgeklärt und entsprechende Aufklärungskampagnen für Vorsorgeuntersuchungen seien für sie häufig weniger gut verständlich [8]. Menschen mit Behinderungen erhalten offensichtlich weniger regelmäßig Gesundheitschecks [22]. Frauen mit physischen Behinderungen bekommen inadäquate präventive Untersuchungen im Bereich von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, obwohl insbesondere präventive Maßnahmen bei Menschen mit Behinderungen von hoher Relevanz sind, um sekundäre Erkrankungen zu verhindern [4]. In einer in den USA durchgeführten Befragung zeigt sich, dass Frauen im Vergleich zu einer Gruppe von nicht physisch behinderten Frauen weniger häufig Screeningmaßnahmen und andere präventive Untersuchungen erhalten. Beispielsweise wurden die Frauen mit Behinderungen weniger häufig gewogen, obwohl Übergewicht ein Risikofaktor für HerzKreislauf-Erkrankungen darstellt und die Prävalenz von Übergewicht bei Menschen mit Behinderungen höher ist. Des Weiteren wurden die befragten Frauen weniger häufig nach der Familiengeschichte oder danach befragt, ob sie rauchen. Auch gaben nur 28 % an, dass bei ihnen ein EKG durchgeführt worden sei. Dieser Befund ist deswegen relevant, weil Herzinfarktsymptome sich bei Frauen oftmals anders darstellen als bei Männern und über ein EKG gut darzustellen ist. Demzufolge unterliegen Frauen mit physischen Behinderungen einem erhöhten Risiko, an nicht erkannten Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu leiden, da sie ganz offensichtlich weniger angemessen und umfassend präventive Maßnahmen erhalten [4].

Aus Sicht befragter Ärzte stellen sich die Probleme in der Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderungen wie folgt dar: Kooperationsprobleme mit behinderten Menschen und vermehrte Krankheitsrisiken (z. B. Aspirationspneumonien oder Folgen von Bewegungsmangel) oder behinderungsbedingte Erkrankungen wie z. B. orthopädische, opthalmologische, otorhinolaryngologische oder zahnmedizinische Problemen, die einer Versorgung bedürfen oder in Spätkomplikationen resultieren. Oft seien die Betroffenen mehrfach behindert, haben häufiger auch neurologische Leiden, im Besonderen auch Epilepsien, und zeigen psychische Störungen, die die Zusammenarbeit manchmal erheblich erschwerten [3].

kurzgefasst Präventive Untersuchungen wie Screeninguntersuchungen o. ä. werden bei Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen weniger häufig durchgeführt. Die Mortalitätsraten bei Menschen mit geistigen Behinderungen sind um ein Vielfaches höher im Vergleich zur Gesamtbevölkerung.

Fazit ▼ Die auf der Grundlage von systematischen Literaturrecherchen und -auswertungen analysierten Bedarfe von Menschen mit geistigen und mehrfachen Behinderungen in gesundheitlicher Versorgung verdeutlichen, dass sie vielfach in gesundheitlicher Hinsicht benachteiligt sind. Sie erhalten insgesamt weniger gesundheitsförderliche und präventive Angebote und haben höhere Bedarfe in physischer und psychischer sowie gesundheitlicher Versorgung. Auf der Grundlage der Erkenntnisse des Forschungsstandes kann für die Zielgruppe Menschen mit Behinderungen eine Vulnerabilität in der gesundheitlichen Versorgung attestiert werden, die dadurch charakterisiert ist, dass spezifische Bedarfe und Bedürfnisse bestehen, die u. a. abhängig ist von Art und Schweregrad der Behinderung, von sekundären Erkrankungen, von Excazerbationen von Erkrankungszuständen, von ungünstigen Umweltbedingen, Barrieren in der Gesundheitsversorgung, limitierten Zugängen zur Gesundheitsversorgung und sozialen Netzwerken. Die Erklärung für diese defizitäre Situation kann möglicherweise mit einer Vermutung der Autoren des WHO Disability Reports [37] begründet werden: „Misconceptions about the health of people with disabilities have led to assumptions that people with disabilities do not require access to health promotion and disease prevention.“ Der skizzierte Forschungsstand verdeutlicht jedoch, dass für die Zielgruppe von hohen präventiven und gesundheitsförderlichen Potenzialen in allen Lebensphasen ausgegangen werden muss, die bislang noch nicht ausreichend erschöpft und entwickelt worden sind. Insbesondere der hohe Anteil von beeinflussenden Faktoren wie Lebensumstände, unterschiedliche Alterungsprozesse abhängig von der Art und vom Grad der Behinderung sowie die Gefahr des Verlustes von Fähigkeiten und Kompetenzen im Altern und zahlreiche nicht erfüllte Gesundheits- und Rehabilitationsbedarfe decken Erfordernisse in Prävention und Gesundheitsförderung von behinderten Menschen in Pflege und Gesundheit auf. Diese Problematik verdeutlicht, dass eine Auseinandersetzung von Gesundheitsprofessionen mit Konzepten von Gesundheitsförderung und Prävention für Menschen mit Behinderungen von hoher Relevanz

Dtsch Med Wochenschr 2014; 139: 2030–2034 · M. Hasseler, Menschen mit geistigen …

Heruntergeladen von: Boston University. Urheberrechtlich geschützt.

Höhere Mortalitätsrate ▼

2033

Prävention & Versorgungsforschung | Review article

ist, um eine qualitativ angemessene und individuenorientierte Gesundheitsversorgung zu gewährleisten. Die zukünftigen Aufgaben liegen darin, systematische und differenzierte Erkenntnisse über die gesundheitliche Lage sowie gesundheitsbezogene Lebensqualität der Bevölkerungsgruppe Menschen mit geistigen und mehrfachen Behinderungen zu gewinnen sowie auf dieser Basis spezifische gesundheitsversorgerische Konzepte und spezialisierte Versorgungsstrukturen zu entwickeln und deren Wirksamkeiten zu untersuchen.

Konsequenz für Klinik und Praxis 3Menschen mit Behinderungen sind in gesundheitlicher Versorgung benachteiligt. 3Es bestehen spezifische Bedarfe und Bedürfnisse, die u. a. abhängig sind von Art und Schweregrad der Behinderung, von sekundären Erkrankungen, von Exazerbationen bei Erkrankungszuständen, von ungünstigen Umweltbedingen, Barrieren in der Gesundheitsversorgung, limitierten Zugängen zur Gesundheitsversorgung und sozialen Netzwerken u.w.m. 3In der gesundheitlichen Versorgung erhalten Menschen mit Behinderungen weniger Zugang zu Gesundheitsförderung und Prävention 3Es gibt hohe präventive Potenziale in allen Lebensphasen, die bislang noch nicht erschöpft und entwickelt worden sind. 3Konzepte von Gesundheitsförderung und Prävention sind für Menschen mit Behinderungen für eine qualitativ angemessene und individuenorientierte Gesundheitsversorgung von großer Bedeutung.

12

13

14 15 16

17 18

19

20

21 22 23

24

25

Autorenerklärung: Die Autoren erklären, dass sie keine finanzielle Verbindung mit einer Firma haben, deren Produkt in diesem Beitrag eine Rolle spielt (oder mit einer Firma, die ein Konkurrenzprodukt vertreibt).

26

27 Literatur 1 Alborz A, Mc Nally R, Glendinng C. Access to healthcare for people with learning disabilities: Mapping the issues and reviewing the evidence. J Health Serv Res Policy 2005; 10: 173–182 2 Bradbury-Jones C, Rattray J, Jones M et al. Promoting the health, safety and welfare of adults with learning disabilities in acute care setting: a structured literature review. Journal of Clinical Nursing 2013; 22: 1497–1509 3 Brem F. Medizinische Behandlung und Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung. Schweiz Ärztez 2007; 88: 29/30 1260–1263 4 Capriotti T. Inadequate Cardiovascular Disease Prevention in Women with Physical Disabilities. Rehabilitation Nursing 2006; 31: 94–101 5 Chauhan U, Kontopantelis E, Campbell S et al. Health checks in primary care for adults with intellectual disabilities: how extensive should they be? J Intellect Disability Res 2010; 54: 479–486 6 Cooper SA, van der Speck R. Epidemiology of mental ill health in adults with intellectual disabilities. Curr Opin Psychiatry 2009; 22: 431–436 7 Cumella S, Martin D. Secondary healthcare and learning disability. J Learning Disabilities 2004; 8: 30–40 8 Davies N, Duff M. Breast cancer screening for older women with intellectual disability living in community group homes. J Intellect Disabil Res 2001; 45: 253–257 9 De Winter CF, Bastiaanse LP, Hilgenkamp TI et al. Overweight and obesity in older people with intellectual disability. Research in Developmental Disabilities 2012; 33: 398–405 10 Deutscher Bundestag. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Detlef Parr, Jörg Rohde, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP. Gesundheitszustand der Menschen mit geistiger Behinderung in der Bundesrepublik Deutschland Drucksache 16/9180. 16. Wahlperiode. 11 Dieckmann F, Giovis C, Schäper S, Schüller S, Greving H. Vorausschätzung der Altersentwicklung von Erwachsenen mit geistiger Behinderung in Westfalen-Lippe. Erster Zwischenbericht zum Forschungsprojekt „Lebensqualität inklusiv(e): Innovative Konzepte unterstützten Wohnens äl-

28 29 30 31 32 33

34 35

36

37

ter werdender Menschen mit Behinderung“ (LEQUI) Katholische Hochschule NRW, Abteilung Münster in Kooperation mit der LWL-Behindertenhilfe Westfalen gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2010 Ding-Greiner C, Kruse A Hrsg. Betreuung und Pflege geistig behinderter und chronisch kranker Menschen im Alter. Beiträge aus der Praxis 1.: Aufl. Stuttgart, Kohlhammer 2010 Drum CE. Guidelines and Criteria for the Implementation of CommunityBased Health Promotion Programs for Individuals with Disabilities. Am J Health Promotion 2009; 24: 93–101 Gaskell S, Nightingale S. Supporting people with learning disabilities in acute care. Nursing Standard 2010; 24: 42–48 Hasseler M. Prävention und Gesundheitsförderung in der Pflege – ein konzeptioneller Ansatz. Weinheim und Basel, Juventa Verlag 2011 Havemann M, Stöppler R. Altern mit geistiger Behinderung. Grundlagen und Perspektiven für Begleitung, Bildung und Rehabilitation 2.: überarbeitete u. erweiterte Aufl. Stuttgart, Verlag W. Kohlhammer 2010 Howe P, Hancox L. Fit for life: Promoting healthy lifestyles for adults with learning disabilities. Nursing Times 2010; 106: 14–15 Jinks A, CottRylance R. Obesity interventions for people with a learning disability: an integrative literature review. J Advanced Nursing 2010; 67: 460–471 Kirschner KL, Breslin ML, Lezzoni LI. Structural Impairments That Limit Access To Health Care for Patients with Disabilities. JAMA 2007; 297: 10 1121–1125 Kwok H, Cheung PWH. Co-morbidity of psychiatric disorder and medical illness in people with intellectual disabilities. Curr Opin Psychiatry 2007; 20: 443–449 Mc Carthy J, O’Hara J. Ill-health and intellectual disabilities. Curr Opin Psychiatry 2011; 24: 382–386 McGuire BE, Daly P, Smyth F. Lifestyle and health behaviours of adults with an intellectual disability. J Intellect Disabil Res 2007; 51: 497–510 Osborn DPJ, Horsfall L, Hassiotis A et al. Access to Cancer Screening in People with Learning Disabilities in the UK: Cohort Study in the Health Improvement Network, a Primary Care Research Database. PLOS one 2012; 7: 08 e4381–e43841 Owens PL, Kerker BD, Zigler E et al. Vision and Oral Health Needs of Individuals With Intellectual Disability. Mental Retardation and Developmental Disabilities 2006; 12: 28–40 Rimmer JH, Yamaki K, Lowry BM et al. Obesity and obesity-related secondary conditions in adolescents with intellectual/developmental disabilities. J Intellect Disabil Res 2010; 54: 787–794 . Sächsisches Gesamtkonzept zur Versorgung älterer Menschen mit Behinderung Empfehlung des Landespflegeausschusses Freistaat Sachsen. 2011 Sinai A, Bohnen I, Strydom A. Older adults with intellectual disability. Curr Opin Psychiatry 2012; 25: 359–364 Skiba A. Geistige Behinderung und Alter. Norderstedt, Books on Demand GmbH 2006 Statistisches Bundesamt. Schwerbehinderte Menschen. SozialleistungenFachserie 12. Reihe 5.1. Wiesbaden, 2009; a Statistisches Bundesamt. Statistik der schwerbehinderten Menschen. Qualitätsbericht. Wiesbaden, 2009; b Strydom A, Chan T, King M et al. Incidence of dementia in older adults with intellectual disabilities. Res Dev Disabil 2013; 34: 1881–1885 Sutherland G, Couch MA, Iacono T. Health issues for adults with developmental disability. Res Dev Disabil 2002; 23: 422–445 Tewes HO. Behindertenpolitik für ältere Menschen mit geistiger Behinderung. In: Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hrsg.): Expertisen zum Dritten Altenbericht der Bundesregierung. Versorgung und Förderung älterer Menschen mit geistiger Behinderung. Band 5: Opladen, Leske + Budrich 2001; 11–42 Torr J, Davis R. Ageing and mental health problems in people with intellectual disability. Curr Opin Psychiatry 2008; 20: 467–471 Tyrer F, Smith LK, McGrother CW. Mortality in adults with moderate to profound intellectual disability: a population-based study. J Intellect Disabil Res 2007; 51: 520–527 Wacke E. Wohn-, Förder- und Versorgungskonzepte für ältere Menschen mit geistiger Behinderung – ein kompetenz- und lebensqualitätsorientierter Ansatz. In: Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hrsg.): Expertisen zum Dritten Altenbericht der Bundesregierung. Versorgung und Förderung älterer Menschen mit geistiger Behinderung. Band 5: Opladen, Leske + Budrich 2001; 43–121 WHO. World Report on Disability. Genf, WHO 2011

Dtsch Med Wochenschr 2014; 139: 2030–2034 · M. Hasseler, Menschen mit geistigen …

Heruntergeladen von: Boston University. Urheberrechtlich geschützt.

2034

[People with intellectual and multiple disabilities as a vulnerable population group in health care].

[People with intellectual and multiple disabilities as a vulnerable population group in health care]. - PDF Download Free
186KB Sizes 0 Downloads 5 Views