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Penetrierende Verletzungen der Kopf-Hals-Region – Eine Potentiell Lebensbedrohliche Situation Penetrating Injuries of the Head and Neck Region – A Potentially Life Threatening Situation

Institute

Schlüsselwörter ▶ penetrierende ● Halsverletzung ▶ penetrierende ● Kopfverletzung ▶ posttraumatische Blutung ● ▶ zervikale Gefäßverletzung ● ▶ Notfallmanagement ● Key words ▶ penetrating injuries of head ● and neck ▶ posttraumatic bleeding ● ▶ vascular lesion ● ▶ emergency management ● ▶ impalement injuries ●

J. Greve1, P. J. Schuler1, M. Mandapathil2, N. Dominas3, J. Veit1, M. Bas4, G. Lehnerdt3, T. K. Hoffmann1 1

Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Universitätsklinikum Ulm, Ulm Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Universitätsklinikum Giessen und Marburg, Standort Marburg, Marburg 3 Hals-, Nasen-, Ohrenklinik, Universitätsklinik Essen, Essen 4 Hals-Nasen-Ohren-Klinik und Poliklinik, Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München, München 2

Zusammenfassung



Hintergrund: Schnitt-, Stich- und Schussverletzungen der Kopf-Hals-Region stellen aufgrund der hohen Gefahr von vaskulären Läsionen ein potentiell lebensbedrohliches Krankheitsbild dar. Ein konsequentes, standardisiertes Notfallmanagement, in der Regel assoziiert mit einer operativen Exploration, ist Grundlage der effektiven Rettungskette. Methoden und Patienten: 11 Fälle selbst- oder fremdverschuldeter penetrierender Verletzungen der Kopf-Hals-Region werden hinsichtlich Alter, Geschlecht, Verletzungshergang, Art der Verletzung, beteiligter Strukturen, diagnostischen und operativen Vorgehens sowie Outcome beschrieben und der aktuellen Literatur und Leitlinien gegenübergestellt.

Einleitung

▼ eingereicht 13. Juni 2013 akzeptiert 07. Mai 2014 Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1376974 Online-Publikation: 30.6.2014 Laryngo-Rhino-Otol 2014; 93: 671–676 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 0935-8943 Korrespondenzadresse Dr. Jens Greve Klinik für Hals-NasenOhrenheilkunde Universitätsklinikum Ulm Frauensteige 12 89075 Ulm [email protected]

Penetrierende Weichteilverletzungen kommen vornehmlich durch Stich-, Schnitt- und Schussverletzungen zustande [1, 2]. In Ländern mit liberaleren Waffengesetzen und einer höheren Kriminalitätsrate sowie in Gebieten kriegerischer Auseinandersetzungen stehen Schussverletzungen an erster Stelle [1, 3, 4]. Ansonsten überwiegen Stichwunden aus gewalttätigen Übergriffen – andere Ursachen wie Verkehrsunfälle spielen eine nur untergeordnete Rolle [5–7]. Penetrierende Verletzungen in der Kopf-Hals-Region stellen häufig eine potentiell lebensbedrohliche Situation dar, weil die Dichte lebenswichtiger Strukturen, insbesondere stark perfundierter Blutleiter, sehr hoch ist [8, 9]. Vaskuläre Schäden sind entsprechend maßgeblich für den tödlichen Ausgang dieser Verletzungsmuster verantwortlich [10]. Solche Notfälle werden in der Regel bereits vor der Aufnahme in die Klinik erstversorgt. Da eine

Ergebnisse: Bei 10 von 11 Patienten wurde, im Rahmen eines interdisziplinären Schockraummanagements, nach einer klinischen Untersuchung eine CT-Angiografie durchgeführt. Bei 9 dieser Patienten wurde daraufhin eine chirurgische Exploration und Wundversorgung vorgenommen. In je 2 Fällen waren die Arteria carotis communis, die Arteria carotis externa sowie große venöse Blutgefäße des Halses verletzt. Keiner der Patienten verstarb oder litt unter bleibenden Schäden. Schlussfolgerung: Eine rasche, systematische und fächerübergreifende Versorgung in speziellen Trauma-Zentren hat einen wesentlichen Anteil daran dass Patienten mit penetrierenden Verletzungen im Kopf-Hals-Bereich seltener an ihren schwerwiegenden Verletzungen oder deren Folgen versterben.

frühe Diagnose und ein schnelles interdisziplinäres Management hier ganz entscheidend für das Outcome sind, wurden feste Algorithmen in unfallchirurgische Leitlinien aufgenommen. Das ABC- oder auch das erweiterte ABCDE-Schema haben sich international durchgesetzt. Gemäß der Polytrauma-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) soll beim Vorliegen einer penetrierenden Verletzung der HalsRegion das Schockraumteam aktiviert werden. Spezialisten der entsprechenden Fachdisziplinen – also z. B. ein HNO-Arzt oder ein Thoraxchirurg – sollten innerhalb von 20 min verfügbar sein [11]. Aufgrund der anatomischen Komplexität der Region und der großen Heterogenität der Verletzungsmuster konnte bislang noch kein allgemeiner Behandlungsplan aufgestellt werden. Algorithmen zur Diagnostik gibt es dagegen, wenn auch hier im Detail noch kein abschließender Konsens besteht. Einigkeit herrscht darin, Patienten mit Zeichen schwerwiegender Atemwegs- oder Gefäßverletzungen umgehend

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Autoren

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Material und Methoden



Die Akten der Patienten, die im Zeitraum von August 2009 bis August 2012 in unserer Klinik mit einer schwerwiegenderen Schnitt-, Stich- oder Schussverletzung im Kopf-Hals-Bereich behandelt wurden, wurden hinsichtlich der Ursache der Verletzung, dem Verletzungsmuster, dem diagnostischen und therapeutischen Vorgehen sowie dem Outcome retrospektiv ausgewertet.

b

Abb. 1 a Pfählungsverletzung durch einen Ast mit Eintritt des Astes oberhalb des linken medialen Augenwinkels. CT-morphologisch (sagittale Schichtung) Verlauf des Wundkanals (Pfeil) innerhalb der Orbita lokalisiert b, durch den Nasopharynx c, bis unmittelbar prävertebral vor dem Atlasbogen d.

d

b

c

Abb. 2 a Schussverletzung mit einer Eintrittspforte rechts zervikal-nuchal unter dem Mastoid. b CT-morphologisch (axiale Schichtung) Lufteinschlüsse rechts zervikal sowie im Spatium prävertebrale, mehrfach frakturierter vierter Halswirbelkörper, Projektil dorsal der Gefäß-Nerven-Scheide links auf Höhe des Os hyoideum. c chirurgische Exploration, Sicherung der Halsgefäße und Bergung des Projektils.

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chirurgisch zu behandeln. Unterschiedliche Vorgehensweisen werden für stabile Patienten beschrieben: Wann sollen Wunden chirurgisch exploriert werden, wann ist welche weiterführende Diagnostik nötig und wann reicht es, den Patienten nach der Erstversorgung stationär zu beobachten? In der vorliegenden Arbeit werden 11 Patienten mit unterschiedlichen penetrierenden Verletzungsmustern im Bereich der Kopf- und Hals-Region vorgestellt. Das diagnostische und therapeutische Vorgehen in diesen Fällen wird vor dem Hintergrund vergleichbarer publizierter Arbeiten und aktueller Leitlinien diskutiert.

Ergebnisse



Patientenpopulation Insgesamt 11 Patienten – 2 weibliche und 9 männliche – wurden im oben genannten Zeitraum in unserer Klinik mit einer schwerwiegenden Schnitt-, Stich- oder Schussverletzung im Kopf-HalsBereich behandelt. Das Durchschnittsalter der Patienten lag bei 41 Jahren. Der jüngste Patient war 18, der älteste 66 Jahre alt.

Ursachen und Muster der Verletzungen Bei 8 Patienten handelte es sich um eine Stich-, Schnitt- oder Pfählungsverletzung entweder mit einem Messer (n = 5), einer ▶ Abb. 1) oder einem EssRasierklinge (n = 1), einem Ast (n = 1) (● stäbchen (n = 1) und bei 3 Patienten um eine Schussverletzung ▶ Abb. 2). (● Bei 6 Fällen entstand die Verletzung durch Fremdverschulden, in 4 Fällen aus suizidaler Intention und in einem Fall im Rahmen ▶ Tab. 1). eines Unfalls (● Die Verletzungsmuster waren durchwegs komplex und betrafen vor allem vaskuläre, neuronale und knöcherne Strukturen. Aber auch interventionsbedürftige schwerwiegende Schäden an Muskeln, dem Hypopharynx oder der Schilddrüse lagen vor ▶ Tab. 2). (● Frakturen traten vor allem bei den Schussverletzungen auf, während größere Blutungen bei allen Verletzungstypen zu versorgen waren.

Diagnostisches und therapeutisches Vorgehen Am Anfang der Therapie stand bei allen Patienten die Sicherung der Atemwege. Wenn dies nicht schon präklinisch erfolgt war, Tab. 1 Typen und Ursachen der Verletzungen. Art der Verletzung

Anzahl

Ursache (Anzahl)

Schussverletzung

3

Messerstich Schnittverletzung Pfählungsverletzung

3 3 2

Autoaggression (1) Fremdaggression (2) Autoaggression (3) Autoaggression (3) Unfall (1) Fremdaggression (1)

geschah dies unmittelbar nach Eintreffen des Patienten in die Klinik. Alle Patienten wurden im Rahmen eines interdisziplinären Schockraummanagements behandelt. Bei keinem der Patienten musste eine chirurgische Sicherung der Atemwege vorgenommen werden. Ein Patient hatte nach einem Messerangriff eine Stichwunde an der linken Halsseite. Aufgrund der massiv blutenden Wunde wurde er umgehend und ohne vorherige Durchführung einer CT notfallmäßig operiert. Bei fast allen anderen Patienten wurde als weiterführende Diagnostik eine CT-Angiografie vorgenommen, um die vaskuläre Verletzungsausdehnung zu bestimmen. In 2 Fällen konnte mithilfe der CT-Angiografie präoperativ eine Verletzung der A. carotis communis identifiziert werden. Lediglich bei einem Patient mit einer transoralen Schussverletzung wurde keine Angiografie durchgeführt. CT-morphologisch lag das Projektil knapp vor der Halswirbelsäule und hatte offensichtlich keine wichtigen Gefäßstrukturen verletzt. 10 der 11 Patienten mussten operativ versorgt werden. In nur einem Fall war die stationäre Überwachung alleine ausreichend. Bei diesem Patienten lag die etwa 1 cm große Stichwunde rechts zervikal am Vorderrand des M. sternocleidomastoideus. Der nicht blutende Stichkanal ließ sich bis zu einer Tiefe von 3 cm sondieren und durch die CT-Angiografie bis unmittelbar ventral der V. jugularis interna darstellen. Da es keinen Anhalt für eine Gefäßverletzung gab, wurde die Wunde mehrschichtig verschlossen und auf eine weitere chirurgische Exploration verzichtet. Die anderen 10 Patienten wurden ihren komplexen Verletzungsmustern entsprechend individuell operiert. Das Spektrum reichte von der einfachen Gefäßunterbindung über Muskelnähte und Nervenanastomosen bis hin zur komplexen Osteosynthese ▶ Tab. 2). (●

Outcome Bei 9 der 11 Patienten konnte die vollständige Wiederherstellung erzielt werden. Bei einem Patienten verblieb eine Hypoglossus-Parese. Der linksseitige N. hypoglossus war bei einem Suizidversuch durchtrennt worden und von uns reanastomosiert worden. Die trotzdem persistierende Lähmung verursachte

Tab. 2 Verletzte Strukturen, Verletzungstyp und die erfolgte Therapie. Verletzte Struktur Gefäße Carotis communis Vena jugularis interna Vena jugularis externa prävertebraler Venenplexus andere Gefäße Nerven Nervus hypoglossus knöcherne Strukuren Jochbogen Kieferhöhlenvorderwand Orbitaboden Halswirbel weitere Strukturen Schilddrüse M. sternocleidomastoideus Sinus piriformis

Diagnose

Therapie

Verletzungs-Typ

Gefäßnaht Gefäßnaht Unterbindung Elektrokoagulation Unterbindung

Schnitt (n = 1), Stich (n = 1) Stich (n = 1) Schnitt (n = 1) Stich (n = 1) Schnitt (n = 2), Schuss (n = 1),

Anastomose

Schnitt (n = 1) Schuss (n = 1) Schuss (n = 1) Schuss (n = 1), Pfählung (n = 1)

instabile Mehrfachfraktur des WK und der Processus transversi (n = 1)

Plattenosteosynthese Plattenosteosynthese Plattenosteosynthese (1); Reposition mittels Ballon-Katheter Spondylektomie + Beckenkamminterponat + ventrale Stabilisierung

diffuse Blutung (n = 1) Durchtrennung (n = 2) durchgreifende Schnittverletzung (n = 1)

Elektrokoagulation Muskelnaht Hypopharynxnaht

Pfählung (n = 1) Schnitt (n = 2) Schnitt (n = 1)

dislozierte Fraktur (n = 1) Zertrümmerung (n = 1) Zertrümmerung (n = 1)/Fraktur (n = 1)

Schuss (n = 1)

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Tab. 3 Wichtige Strukturen der Zonen I–III nach Roon und Christensen. System

Struktur

Zone I

Zone II

Zone III

Gefäße

Carotis communis Carotis interna/externa Arteria vertebralis Arteria subclavia Gefäße des oberen Mediastinums Jugularvene Apex pulmonis Trachea Rückenmark Nervus vagus Hirnnerven Nervus laryngeus recurrens

ja nein ja ja ja

ja nein ja nein nein

nein ja ja nein nein

nein ja ja ja nein nein nein

ja nein ja ja ja nein ja

ja nein nein ja nein ja nein

Diskussion



Stich-, Schnitt- und Schussverletzungen der Kopf-Hals-Region stellen eine potentiell lebensbedrohliche Situation dar, da das Risiko einer Verletzung der in diesem Bereich auf engstem Raum verlaufenden lebenswichtigen Strukturen, sehr hoch ist [8, 9]. Die Gefäßverletzung stellt dabei die häufigste Komplikationswie auch Todesursache dar [12]. Die Verletzungsmuster sind bei diesen Traumata insgesamt sehr komplex – dies spiegelt sich auch in unserem Kollektiv wieder. Daher ist es entsprechend schwierig, allgemeine Behandlungskonzepte zu entwickeln. Weit verbreitet ist eine Unterteilung in 3 anatomische Regionen, wie sie zuerst Roon und Christensen vorgeschlagen haben [1]: Zone I: zwischen Schlüsselbein und Ringknorpel Zone II: zwischen Ringknorpel und Kieferwinkel Zone III: oberhalb des Kieferwinkels bis zur Schädelbasis. Diese Einteilung findet sich in aktuellen Behandlungsleitlinien wieder [11, 13] und bildet dort eine der Grundlagen für die Entscheidung zum diagnostischen und therapeutischen Vorgehen. In der Literatur dient sie regelhaft auch zur Darstellung von Häufigkeiten und Schweregraden der penetrierenden Halsverletzungen [14, 15]. Allerdings ist diese Unterteilung in Zonen nicht unproblematisch. Es gibt subjektive Einschätzungen, die es schlichtweg nicht praktikabel finden, die ohnehin sehr begrenzte Region „Hals“ noch einmal in 3 Bereiche aufzugliedern, insbesondere vor dem Hintergrund, dass viele der vitalen Strukturen sich über mehre▶ Tab. 3). Es gibt weitere Gründe, sich von re Zonen erstrecken (● diesem starren Schema etwas zu lösen: Zum einen lassen sich innere Verletzungen nicht zuverlässig anhand des Orts der Wundöffnung vorhersagen. Zum anderen erstrecken sich die Verletzungen häufig über 2 benachbarte Zonen und lassen sich nicht eindeutig zuordnen. Das zeichnet sich auch in unserer Patienten-Population ab: Bei 2 der 11 Patienten reichten die Verletzungen über 2 Zonen ▶ Tab. 4). (● Entsprechend findet sich an unserem Zentrum die strenge Einteilung nach Zonen nicht im klinischen Standard-Algorithmus ▶ Abb. 3). (● In der S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie wird die Duplexsonografie oder Angiografie vor allem in Zone I und III empfohlen. In Zone II wird zusätzlich zur chirurgischen Exploration geraten. Die Diskussion, ob und wann eine chirurgische Exploration in Zone II erforderlich ist, gibt es schon lange. Hier ist die Dichte an wichtigen Strukturen besonders hoch und komplexe multiple Verletzungen sind häufig. Die Mortalität kann hier bis zu 50 % betragen [16] und verzögerte Komplikationen wie Pseudoaneurysmen oder arteriovenöse Fisteln können die Langzeitergebnisse beeinflussen [17]. Während es bei Patienten mit klaren Symptomen eines Notfalls den Konsens zur Operationsindikation gibt, wird das Vorgehen in Fällen ohne signifikante Symptome immer noch kontrovers diskutiert. Insgesamt hat sich das Management dieser Patienten von der obli-

Atemwege Nerven

Tab. 4 Zonen der Verletzungen in unserer Patientenpopulation. Betroffene Zone

Anzahl Patienten

I–II II II–III III

1 6 1 3

gaten Exploration zu einem eher selektiven Ansatz entwickelt [18]. Da die Exploration an sich der sicherste Weg ist, um keine schwerwiegenden Verletzungen zu übersehen, wird sie von manchen Autoren nach wie vor befürwortet. Allerdings führt sie insgesamt zu einer Vielzahl an nicht-therapeutischen Eingriffen [19, 20]. Diese sind mit verbleibenden Risiken und erheblichen Kosten für das Gesundheitssystem verbunden [21]. Eine Reihe von veröffentlichten Fallserien und eine einzelne randomisierte Studie haben gezeigt, dass die selektiven und obligaten Ansätze gleichwertige diagnostische Ergebnisse liefern [5, 22–25]. Eine US-amerikanische Behandlungsleitlinie empfiehlt daher ganz klar die selektive Exploration [13]. Nach unserer Erfahrung ist eine chirurgische Diagnostik dann in Erwägung zu ziehen, wenn die Verletzungsbahn tiefer geht als 3 cm und sich anderweitig – z. B. CT-morphologisch – nicht hinreichend darstellen lässt. Eine weitere Variante unseres Algorithmus gegenüber den Empfehlungen der DGU-Leitlinie besteht in der Nutzung der CTAngiografie anstelle der Angiografie oder Dopplersonografie. Damit entspricht unser Vorgehen auch hier den US-amerikanischen Behandlungsempfehlungen. Die Autorengruppe stellt dar, dass eine CT-Angiografie die klassische Angiografie in der Regel ersetzen kann. Gegebenenfalls kann dieser Leitlinie zufolge auch eine CT-Bildgebung alleine genügen, um schwerwiegende Gefäßverletzungen auszuschließen. Möglich ist das gemäß der Autoren in solchen Fällen, wo deutlich zu erkennen ist, dass die Bahn des penetrierenden Objektes entfernt von vitalen Strukturen verläuft. Dieses selektive Vorgehen unter Verwendung der CT-Angiografie anstelle der klassischen Angiografie – dem derzeitigen „Goldstandard“ – wird auch von einem aktuellen evidenzbasiertem Review befürwortet [26]. Die englische Arbeitsgruppe fasst die Abgrenzung der Verfahren folgendermaßen zusammen: Es ist bei der CT-Angiografie sehr viel einfacher, die Ergebnisse standardisiert und unabhängig vom Untersucher zu interpretieren als das bei der Dopplersonografie der Fall ist. Die konventionelle Angiografie als rein diagnostisches Verfahren birgt ein höheres Komplikationsrisiko als die Bildgebung – das kann im schlimmsten Fall ein Schlaganfall sein. Zudem ist sie nicht an jedem Ort

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jedoch keine langfristigen höhergradigen Schluck- oder Artikulationsbeschwerden. Eine weitere Patientin litt nach Spondylodese bei einer instabilen Halswirbelfraktur unter einer mittelgradigen Parese des rechten Arms, die aber nach 3 Monaten vollständig ausheilte.

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Abb. 3 Algorithmus an unserem Zentrum zur Behandlung von Patienten mit penetrierenden Verletzungen im Kopf-Hals-Bereich. Präklinik: ABC-Schema

Patient stabil ohne Zeichen von bedeutenden Atemwegs- oder vaskulären Verletzungen

Patient instabil und Stridor, Atemnot, bedeutendes subkutanes Emphysem, Luftaustritt aus Wunde, massive Blutung, refraktärer Schock, Schlaganfall, sich rasch ausbreitendes Hämatom

gründliche Anamnese und fokussierte Untersuchung

Blutstillung, wenn möglich; Sicherung der Atemwege und Vorbereitungzur Not-OP

Verdacht auf Gefäßverletzung

Verdacht auf pharyngoösophagale Verletzung

kein Verdacht auf signifikante innere Verletzungen

CT-Angiographie/Angiographie

KontrastmittelSchluck/Ösophagoskopie, Tracheoskopie

nach entsprechender Säuberung primärer Wundverschluss der verletzten Strukturen, stationäre Aufnahme zur Beobachtung für mindestens 24h

falls positiv: chirurgische Exploration+Therapie. Ansonsten nach entsprechender Säuberung primärer Wundverschluss der verletzten Strukturen, ≥24 h weitere Beobachtung

falls positiv: konservative (Antibiose + Magensonde) oder chirugische Therapie. Ansonsten nach entsprechender Säuberung primärer Wundverschluss der verletzten Strukturen, ≥24h weitere Beobachtung

und zu jeder Zeit einfach verfügbar. Diese Nachteile der klassischen Angiografie werden nur in Fällen aufgewogen, wo sie in der gleichen Sitzung auch eine therapeutische Rolle spielt. Heutzutage scheint das Vorgehen strikt nach Lokalisation der Verletzungen nach den Zonen nach Roon und Christiansen und die obligate Exploration überholt und es ist eher ein individuell angepasstes Vorgehen wie z. B. nach dem von Múnera et al. vorgeschlagenen Algorithmus indiziert [18]. Hiernach werden hämodynamisch instabile Patienten und solche mit schwerwiegenden Symptomen, wie einem deutlich zunehmenden Hämatom, einer pulsierenden Blutung, einer Verschlechterung des

neurologischen Status oder einem Austritt von Luftblasen aus der Wunde, direkt chirurgisch exploriert oder interventionellangiografisch versorgt. Bei den anderen Patienten wird das Vorgehen weiter selektioniert. Liegt die Verletzung offensichtlich oberflächlich, wird nach unauffälliger Sondierung der Verletzung abgewartet und der Patient überwacht. Bei tiefergehenden Verletzungen wird die Durchführung einer CT-Angiografie empfohlen. Zeigt diese eine Gefäßverletzung oder den Verdacht auf eine Verletzung des Aerodigestiv-Traktes, so sollte ebenfalls eine umgehende chirurgische Wundexploration vorgenommen werden. Im Falle des Verdachts auf eine Verletzung der Atem- und

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Schockraum: ABCDE-Schema: Erfassen und erste Stabilisierung

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Abstract

Penetrating Injuries of the Head and Neck Region – A Potentially Life Threatening Situation



Background: Cuts, stabs and gunshot wounds in the head and neck region are potentially life-threatening because of the high risk of vascular lesions. A consistent emergency management is usually based on an operative exploration of the wound with effective reconstruction of viable structures. Patients and Methods: Various penetrating injuries of the head and neck region are described in 11 cases with respect of age, gender, course of events of injury, type of injury, involved structures, diagnostic and operative procedures and outcome and compared with current literature and guidelines. Results: In 10 of 11 patients, in the context of an interdisciplinary emergency room management, CT angiography was performed following clinical examination. A surgical exploration and wound treatment was performed in 9 of these patients. The common carotid artery, the external carotid artery and large venous blood vessels of the neck were injured in 2 cases respectively. None of the patients deceased or suffered permanent damage. Conclusion: The outcome of deep head and neck lesions with relevant vascular trauma is determined by a rapid and interdisciplinary approach. A rapid, systematic and interdisciplinary approach in specialized trauma centers has a significant role in ensuring that patients with penetrating wounds in the head and neck region rarely die due to their serious injury or their consequences.

Interessenkonflikt: Kein Interessenkonflikt angegeben. Literatur 1 Roon AJ, Christensen N. Evaluation and treatment of penetrating cervical injuries. J Trauma 1979; 19: 391–397 2 Erhart J, Mousavi M, Vécsei V. Penetrating injuries of the neck, injury pattern and diagnostic algorithm. Chir Z Für Alle Geb Oper Medizen 2000; 71: 1138–1143 3 Reiss M, Reiss G, Pilling E. Gunshot injuries in the head-neck area–basic principles, diagnosis and management. Praxis 1998; 87: 832–838 4 Desjardins G, Varon AJ. Airway management for penetrating neck injuries: the Miami experience. Resuscitation 2001; 48: 71–75 5 Biffl WL, Moore EE, Rehse DH, Offner PJ, Franciose RJ, Burch JM. Selective management of penetrating neck trauma based on cervical level of injury. Am J Surg 1997; 174: 678–682 6 Demetriades D, Charalambides D, Lakhoo M. Physical examination and selective conservative management in patients with penetrating injuries of the neck. Br J Surg 1993; 80: 1534–1536 7 Thoma M, Navsaria PH, Edu S, Nicol AJ. Analysis of 203 patients with penetrating neck injuries. World J Surg 2008; 32: 2716–2723 8 Helm M, Maier H, Stork C, Lampl L, Bernhard M. Special aspects of the emergency medical care of head and neck injuries. HNO 2011; 59: 746–751 9 Maier H, Tisch M, Lorenz KJ, Danz B, Schramm A. Penetrating injuries in the face and neck region. Diagnosis and treatment. HNO 2011; 59: 765–782 10 Demetriades D, Theodorou D, Cornwell E, Berne TV, Asensio J, Belzberg H. Evaluation of penetrating injuries of the neck: prospective study of 223 patients. World J Surg 1997; 21: 41–48 11 DGU. S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung. AWMF 2011; Register–Nr 012/019 12 Bootz F. Immediate management of rupture and soft tissue injuries in the area of the head-neck. HNO 1993; 41: 542–552 13 Tisherman SA, Bokhari F, Collier B, Cumming J, Ebert J, Holevar M. Clinical practice guideline: Penetrating zone II neck trauma: J Trauma Inj Infect Crit Care 2008; 64: 1392–1405 14 Van Waes OJ, Cheriex KCAL, Navsaria PH, van Riet PA, Nicol AJ, Vermeulen J. Management of penetrating neck injuries. Br J Surg 2012; 99 (Suppl 1): 149–154 15 Siau RTK, Moore A, Ahmed T, Lee MSW, Tostevin P. Management of penetrating neck injuries at a London trauma centre. Eur Arch Otorhinolaryngol 2013; 270: 2123–2128 16 Bladergroen M, Brockman R, Luna G, Kohler T, Johansen K. A twelveyear survey of cervicothoracic vascular injuries. Am J Surg 1989; 157: 483–486 17 Amirjamshidi A, Abbassioun K, Rahmat H. Traumatic aneurysms and arteriovenous fistulas of the extracranial vessels in war injuries. Surg Neurol 2000; 53: 136–145 18 Múnera F, Cohn S, Rivas LA. Penetrating injuries of the neck: Use of helical computed tomographic angiography. J Trauma Inj Infect Crit Care 2005; 58: 413–418 19 Apffelstaedt JP, Müller R. Results of mandatory exploration for penetrating neck trauma. World J Surg 1994; 18: 917–919 20 Brennan JA, Meyers AD, Jafek BW. Penetrating neck trauma: a 5-year review of the literature, 1983 to 1988. Am J Otolaryngol 1990; 11: 191–197 21 Merion RM, Harness JK, Ramsburgh SR, Thompson NW. Selective management of penetrating neck trauma. Cost implications. Arch Surg Chic Ill 1960 1981; 116: 691–696 22 Demetriades D, Theodorou D, Cornwell E, Asensio J, Belzberg H, Velmahos G. Transcervical gunshot injuries: mandatory operation is not necessary. J Trauma 1996; 40: 758–760 23 Rao PM, Bhatti MF, Gaudino J, Ivatury RR, Agarwal N, Nallathambi MN. Penetrating injuries of the neck: criteria for exploration. J Trauma 1983; 23: 47–49 24 Luntz M, Nusem S, Kronenberg J. Management of penetrating wounds of the neck. Eur Arch Oto-Rhino-Laryngol Off J Eur Fed Oto-RhinoLaryngol Soc EUFOS Affil Ger Soc Oto-Rhino-Laryngol – Head Neck Surg 1993; 250: 369–374 25 Golueke PJ, Goldstein AS, Sclafani SJ, Mitchell WG, Shaftan GW. Routine versus selective exploration of penetrating neck injuries: a randomized prospective study. J Trauma 1984; 24: 1010–1014 26 Burgess CA, Dale OT, Almeyda R, Corbridge RJ. An evidence based review of the assessment and management of penetrating neck trauma. Clin Otolaryngol 2012; 37: 44–52 27 Veit J, Metternich F. Behandlung traumatischer Trachealverletzungen: Präsentation eines seltenen Falles und Literaturübersicht. LaryngoRhino-Otol 2008; 87: 270–273

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Schluckwege sollte das im Zusammenhang mit einer RöntgenBreischluck- oder einer endoskopischen Diagnostik erfolgen. Bei auch nur geringem Verdacht auf eine Ösophagus- oder Trachealverletzung ist eine Ösophagoskopie bzw. Tracheoskopie aufgrund des Risikos der Mediastinitis indiziert [27]. Bei ergebnisloser CT-Angiografie empfehlen Múnera et al. die Durchführung einer Angiografie mit nachfolgender Intervention oder chirurgischer Versorgung, falls eine Gefäßverletzung vorliegt. In den hier aufgeführten Fällen wurde ähnlich dem von Múnera et al. vorgeschlagenem Algorithmus vorgegangen. Bei hämodynamisch stabilen Patienten ohne Anzeichen für eine massive Blutung wurde vor einer chirurgischen Intervention eine CT-Angiografie durchgeführt. 2-mal konnte so präoperativ eine Verletzung der A. carotis communis anhand dieser Bildgebung identifiziert werden und die Intervention dann unmittelbar diesem Befund entsprechend durchgeführt werden. Neben der primären Wundversorgung erfolgte in den anderen Fällen eine individuell angepasste konservative und/oder chirurgische Therapie. Das Spektrum reichte für diese insgesamt schweren Verletzungen von der reinen Schmerzmedikation und Beobachtung über die Unterbindung von Blutgefäßen bis hin zur komplexen, multiplen, interventionellen Versorgung von betroffenen Gefäßen, neuronalen Strukturen und Mehrfachfrakturen. Das frühzeitige interdisziplinäre Management über den Schockraum in Verbindung mit dem dargestellten und an internationale Leitlinien angelehnten Algorithmus führte in unserer Patientenpopulation zu insgesamt sehr guten Ergebnissen. Sie bestätigen, dass eine rasche, systematische und fächerübergreifende Versorgung in speziellen Trauma-Zentren wesentlichen Anteil daran hat, dass Patienten mit penetrierenden Verletzungen im Kopf-HalsBereich seltener an ihren schwerwiegenden Verletzungen oder deren Folgen versterben.

[Penetrating injuries of the head and neck region - a potentially life threatening situation].

Penetrating Injuries of the Head and Neck Region - A Potentially Life Threatening Situation Background: Cuts, stabs and gunshot wounds in the head and...
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